23. KAPITEL

Dunkelheit.

Hier wohnte das Sockenmonster.

Und all die anderen Kreaturen, die vielen hundert Wesen, die früher unter dem Bett hervorgekrochen kamen und sich an ihm festkrallten, sich in sein Fleisch gruben und ihn in Stücke rissen.

Das hatte Jacob damals dem ersten Therapeuten erzählt, kurz nachdem seine Mutter gestorben war.

Nein, nicht »gestorben«, hallte die Stimme des Sockenmonsters aus einer versteckten Ecke des Schrankes. Sie wurde getötet.

Die erste Diagnose lautete Identitätsstörung mit begleitendem Verfolgungswahn. Doch dann sprach der Therapeut mit Warren Wells und sie einigten sich auf «Anpassungsstörung«, ein zeitweiliges Versagen des Bewältigungsmechanismus. So hatte Jacob eine Chance auf Genesung und konnte sich weiterhin seinem Ziel widmen, ein echter Wells zu werden.

Zwei Jahre später, an jenem vergessenen Samstag, fand Warren Wells seinen Sohn bewusstlos in der Scheune. Um ihn herum lagen die kopflosen Körper von zwei Dutzend Perlhühnern, neben ihm eine blutige Axt. Der Doktor diagnostizierte eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, doch Warren Wells hatte seine eigene Diagnose: »Das sind nun mal Jungs.«

Das war dann auch schon der letzte Therapeut. Bis Rheinsfeldt kam.

Im Jahr darauf brannten mehrere Wohnwagen im Einwanderercamp ab. Das war jedoch gegen Ende des Winters gewesen, als die meisten Mexikaner an der Küste waren, um bei der Soja-und Baumwollernte zu helfen. Die einzige Familie, die damals im Camp lebte, war die von Carlita, aber sie und Joshua hatten erst vor Kurzem geheiratet und waren nach Tennessee gezogen. Jacob hatte sich in jener Nacht aus dem großen, kalten Haus geschlichen. Er hatte die Nase voll von der gedrückten Stimmung, die sein Vater verbreitete, seit sein »einziger Sohn« eine Nicht-Weiße geheiratet hatte. Jacob verbrachte die Nacht mit einer geklauten Flasche Tequila. Er saß im Schuppen und trank und starrte auf die leeren, schwarzen Fenster des Wohnwagens.

Er konnte nichts für das Feuer. Es war wie eine tiefe innere Wut. Er sah einfach Rot. Etwas in ihm brannte, so heiß, dass es die Dinge um ihn herum entflammte. Wie ein Streichholz, das sich selbst entzündet.

Dann ging er aufs College. Hier brachten ihm seine exzessiven Saufgelage nicht enden wollende Dämmerzustände. Allerdings gab es dafür eine einfache Erklärung – den Alkohol. So weit sich Jacob erinnern konnte, wurde er in diesen Phasen jedoch niemals gewalttätig. Manchmal erwachte er zwar mit blutigem Mund oder fand Glasscherben in seiner Kleidung, doch er wurde nie verhaftet. Dann traf er Renee, und die Wut war weg.

Doch sie kannte Joshua nicht.

Jene Hälfte von ihm, die weder repariert noch ausgelöscht werden konnte.

Wenn es dunkel wurde, war Joshua immer bei ihm. Er flüsterte, spottete, versuchte ihn in Versuchung zu führen.

Den Ärzten hatte Joshua das nie erklären können. Selbst Psychologen wie Rheinsfeldt sonnten sich lieber in ihrem Bücherwissen und wühlten in dicken Wälzern nach lateinischen Begriffen, die seinen Zustand beschreiben konnten. Hätten sie ihm nur ein einziges Mal zugehört, dann hätten sie gemerkt, dass er nicht mit seinen eigenen Worten sprach. Er sagte immer nur, was Joshua auch gesagt hätte.

Carlita war die Einzige, die diesen Teil von ihm verstand. Carlita war ursprünglich, fleischlich, sie hatte ein animalisches Gespür. Sie hatte erkannt, dass Jacob und Joshua eins waren, und sie konnte sie beide lieben. Das hatten nicht einmal ihre Eltern vermocht. Wo jeder andere versucht hatte, die beiden auseinanderzubringen und zu getrennten Wesen zu erziehen, akzeptierte Carlita sie so, wie sie waren.

Sie war die Einzige, der Jacob jemals vertraute. Und die ihn dazu brachte, seine Wachsamkeit aufzugeben.

Doch wie alle Fehler der Liebe hatte auch dieser einen hohen Preis.

Als er jetzt zusammengekauert im Dunkeln saß, inmitten des Staubs und des Schimmels, wurde ihm bewusst, wie töricht es war zu denken, dass er Joshua jemals entkommen könnte. Selbst wenn er seinen Bruder tötete, würde seine Stimme bleiben. Selbst wenn er ihm Millionen von Dollar bezahlte und Joshua weit weg nach Mexiko zog, wäre Jacob nach wie vor untrennbar mit seinem Zwillingsbruder verbunden. Joshua war ein Teil von ihm. Manchmal kam es ihm sogar so vor, als wäre er mehr Joshua als Jacob, denn nur Joshua fürchtete sich vor der Dunkelheit.

Jacob nicht.

Denn Jacob war mutig! Jacob kümmerte sich ums Geschäft. Jacob machte die Drecksarbeit für sie beide.

Hatte er Joshua wirklich geschlagen, bevor die Schranktür zuknallte? Er ließ seine Finger vorsichtig über den Boden gleiten. Sie berührten den schweren Adlerkopf des Gehstocks. Der krumme Schnabel war glitschig und feucht. Er hob den Stock und lächelte.

Du musst keine Angst haben, nur weil es dunkel ist.

Wenn man zu zweit ist, ist man niemals allein.

Nicht wahr, Joshua?

Er hörte Schritte.

Sie kamen die Treppe hoch.

Mutter. Du bist schwer gestürzt. Leg dich hin und ruh dich aus!

Er kicherte in der Dunkelheit, doch die schale Luft im Schrank verschluckte sein Lachen. Wenn man nicht aufpasste, konnte einen die Vorstellungskraft leicht übermannen. Wie hatte Vater immer gesagt? »Träume sind was für Träumer. Alle anderen müssen mit der Wirklichkeit zurechtkommen.«

Die Schritte kamen näher.

Das konnte nur Joshua sein, sein anderes Ich, das außerhalb seines Körpers lebte. Er kam bestimmt, um ihn noch mehr zu quälen. Oder um noch mehr Geld zu verlangen.

Doch diesmal war Jacob vorbereitet.

Er packte den Stock.

Er würde ihn töten und dann das Haus niederbrennen.

Die Schritte kamen noch näher.

Da hörte er ihre Stimme. »Jacob?«

Sein Magen krampfte sich zusammen.

Sie? Was wusste sie?

Er hatte Joshua vor ihr geheim gehalten, weil sie es eh nicht verstanden hätte. Niemand verstand es.

Er hatte alles für sie aufgegeben. Er war zurück nach Kingsboro gekommen, hatte den Wells’schen Besitz übernommen und hatte versucht, sich auf einem harten Markt einen guten Stand aufzubauen. Wiederum konnte sie auch behaupten, dass sie ihm den Erfolg erst ermöglicht hatte. Er hatte ihr Kinder geschenkt, damit sie ihre höchste Erfüllung als Frau finden konnte. Das tiefste Band der Treue, das niemals zerstört werden konnte.

Doch. Selbst dieses Band konnte zerstört werden.

Er liebte sie. Und wenn man jemanden liebte, war man ihm alles schuldig.

Carlita verstand das. Renee würde es nie verstehen.

»Jacob?« Sie war jetzt im Zimmer, wahrscheinlich stand sie am Fenster. Oder am Bett.

Er hockte sich hin. Er hörte das leise Surren der Gardinen, als sie sie aufzog. Ein schmaler Lichtstreif schien durch die Türritze des Schrankes. Wie lange steckte er schon hier drin? Ein paar Tage?

Nein. Dann wäre das Blut schon getrocknet. Ihm war nichts entfallen. Das hier war kein Dämmerzustand.

Er war nur ein bisschen … durcheinander, mehr nicht.

Dieses dumme Joshua-Zeug klang wie die bösen Träume eines verängstigten Kindes. Doch er war ein erwachsener Mann. Er war sein eigener Herr. Leise rief er durch die Tür. »Carlita?«

Der Lichtstreif wurde von ihrem Schatten gebrochen. »Jacob? Steckst du da drin? Ist alles OK?«

»Ja. Joshua hat mich hier drin eingesperrt. Lass mich raus hier, bitte.«

»Hier ist überall Blut.«

Wie oft hatte er Joshua geschlagen? Er wusste es nicht mehr. Offensichtlich jedoch nicht oft genug, denn sonst läge Joshua jetzt auf dem Boden.

Der Türknauf drehte sich. Die Tür klapperte. »Der Schrank ist verschlossen.«

Jacob stellte den Stock in die Ecke. Sie brauchte ihn nicht zu sehen, auch nicht das Blut, das am Adlerkopf des Griffes klebte. Sie würde es ja doch nicht verstehen. Niemand konnte das verstehen.

Er kniete sich hin und suchte nach dem kleinen Schraubhaken, den er als Teenager am Inneren der Schranktür angebracht hatte. So konnte er sich vor seiner Familie verstecken, wenn es in der Scheune zu kalt war. Niemand wäre je darauf gekommen, dass man einen Schrank von innen verschließen konnte. Joshua hatte es jedoch herausgefunden und hatte dann auch von außen einen Riegel angebracht.

»Eine Tür, die nach beiden Seiten öffnet. Wie ein Hintertürchen für uns beide«, hatte Joshua damals gesagt. »Du kannst mich aussperren, aber ich kann dich auch einsperren.«

Jacob machte den Haken auf, er klirrte gegen das Holz. Als die Tür aufsprang und ihn das plötzliche Sonnenlicht blendete, schaute er auf die Frau, die vor ihm stand. Blinzelnd sagte er: »Ich hab’s für dich getan.«

»Was, Jake? Was hast du getan

Auf dem Fußboden war überall Blut, wie die Spuren eines tobenden Tieres. Das Sonnenlicht malte wirre Regenbogendiamanten auf die Fensterscheibe. Der Himmel ist ein Spiegel, der Himmel ist ein Spiegel, der Himmel ist ein Spiegel.

»Ich hab’s für uns getan«, beteuerte er.