8. KAPITEL
Renee schaute sich im Zimmer um und betrachtete die unverständlichen Kunstwerke. Sie blickte überall hin, außer in Jacobs Gesicht. Sie war sich nicht sicher, ob Dr. Rheinsfeldts Geschmack in Bezug auf die Inneneinrichtung individuell oder krankhaft zu nennen war. Die Frau war plump und untersetzt wie eine Kröte, die dunklen Augen drohten mit guten Ratschlägen. Sie erweckte den Eindruck, als ob ihre eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen kurz und dramatisch gewesen waren.
»Wo fangen wir an?«, fragte Rheinsfeldt.
»Eigentlich müssen Sie jetzt fragen: ›Und, was bringt Sie beide heute hierher zu mir?‹«, spottete Jacob. Er stank nach Schnaps und saurer Fäulnis. »Haben Sie Ihnen das in der Psychiaterschule nicht beigebracht?«
»Achten Sie nicht auf ihn«, sagte Renee. Sie konnte es kaum ertragen, ihn anzusehen. Wenn die Polizeiberichte Recht hatten, dann kannte sie diesen Mann nicht, mit dem sie die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
»Sehen Sie«, sagte er.
»Er hat getrunken«, sagte sie zu Rheinsfeldt.
»Haben Sie getrunken, Mr. Wells?«
»Vielleicht.« Er verschränkte seine Arme und lümmelte sich noch tiefer in die Couch.
»Okay. Das hier ist keine Entzugsbehandlung«, sagte Rheinsfeldt. »Das können Sie später machen, wenn sie müssen und wollen. Jetzt wollen wir über die andere Sache reden.«
»Die Sache«, sagte Renee. Wenn man die Tragödie auf ein einzelnes Wort reduzierte, verlor sie ihre Kraft. Sie versuchte, sich beide mit Rheinsfeldts Augen zu betrachten: Eine verzweifelte Frau mit unruhigem Blick und ein betrunkener, unrasierter Mann in dreckigen Klamotten. Renees rechte Hand wanderte zu ihrem Ehering, sie drehte ihn, bis ihr Fingerknöchel rot war.
»Ich habe die Zeitungen gelesen«, sagte Rheinsfeldt. »Jeder kennt die Geschichte von Familie Wells und dem Brand. Ich denke, dort sollten wir anfangen. Dort sitzt der Schmerz. Der Tod eines Kindes – ich mag es mir gar nicht vorstellen.«
»Nein«, sagte Renee. »Der Schmerz begann schon früher.«
»Erzählen Sie’s mir.«
»Wag dir’s nicht«, sagte Jacob.
Renee zwang sich, ihn anzuschauen. Sein Unterkiefer zitterte, seine Wangen waren noch immer rosa, dort, wo sich neue Haut gebildet hatte. Er sah aus wie ein Alien, ein Stuntdouble aus Hollywood mit einem Klumpen Spachtelmasse auf den Schultern, in den man zwei halbe Murmeln als Augen gedrückt hatte. Er strich sich mit dem Handrücken über die Lippen und zuckte nach vorn, als ob er die Pointe eines sinnlosen Witzes aus ihr herausprügeln wollte.
»Sie war schon immer so«, platzte er heraus.
»Immer?«, fragte Rheinsfeldt. »Seit wann genau?«
»Seitdem wir zusammen sind«, antwortete Renee. »Er tat so, als ob er sich öffnen wollte, aber irgendetwas hatte er immer zu verbergen. Erst als wir schon ein halbes Jahr zusammen waren, hat er mir gestanden, dass er aus einer reichen Familie stammt.«
»Sie war schon immer hinter dem Geld her«, sagte Jacob.
»Sehen Sie, was ich meine?«, wandte sich Renee an Rheinsfeldt. »Wie kann er nur über Geld sprechen, wenn unsere Kinder tot sind?«
»Jacob? Das klingt nach einer ziemlich vernichtenden Beobachtung.«
»Ich nehme die Hälfte der Schuld für Christine auf mich.«
»Christine«, sagte Rheinsfeldt. »Das war letztes Jahr?«
Renee holte Taschentücher aus ihrer Handtasche. Die Kleenex-Box am Rand des Couchtischchens ignorierte sie. Der Standort der Box war zu perfekt gewählt, die Berechnung passte nicht zu dem Chaos, das sonst in dem Zimmer herrschte. Sie nahm ihre Brille ab und wischte sich die Augen. »Christine starb an plötzlichem Kindstod.«
»Das tut mir sehr leid. Wie lief Ihre Ehe, bevor das passierte?«
»Es war nicht gerade der Himmel auf Erden, aber wir haben uns Mühe gegeben, wegen den Kindern.«
»Ich sage es nicht gern, aber das ist nicht der einzige Grund, warum eine Ehe funktionieren sollte. Sie sind nicht nur Mutter, Sie sind auch ein Mensch, mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen.«
»Ich bin keine Mutter mehr.« Renee fühlte den altbekannten Druck auf ihrer Brust, schluckte und drückte das feuchte Taschentuch.
»Sie will viel mehr, als sie eigentlich braucht«, sagte Jacob.
»Ich verstehe Ihren Zorn«, sagte Rheinsfeldt. »Sie haben ein Recht darauf, zornig zu sein, nach so einem herben Verlust.«
»Jacob ist in letzter Zeit nicht mehr er selbst«, warf Renee ein. Gleichzeitig hasste sie sich dafür, ihn zu verteidigen. »In der Firma stand er unter gewaltigem Druck. Jacob hat nie viel darüber gesprochen, aber sein Partner hat mir erzählt, dass die Firma von einer Reihe Lieferanten hintergangen wurde und …«
»Du hast überhaupt keine Ahnung vom Bau«, sagte Jacob. »Alles, was dich interessiert, sind ein großes Haus mit den neuesten Geräten und deine ganzen Kataloge.«
»Reden wir noch mal über Christine«, sagte Rheinsfeldt. »Ich weiß, dass Sie nicht gern darüber sprechen, aber …«
»Es war an einem Dienstag«, sagte Renee, und ihre Hände wurden kalt, obwohl der Raum so stickig war wie ein Sarg in der Hölle. Jacob hatte sie nie über Christine sprechen lassen. Zwar hatte Renee mit Kim bestimmt ein Dutzend Mal darüber geweint, aber sie spürte noch immer ein starkes Verlangen, alles noch einmal loszuwerden, als ob der psychische Akt des Ausspeiens das Gift aus ihrem Kreislauf herausspülen würde. »Ich hatte gerade mit meiner Mutter telefoniert. Christine machte ihren Nachmittagsschlaf. Sie war wie ein Uhrwerk, schlief immer pünktlich um zehn und um drei. Ich hatte Suppe auf dem Herd. Ich war damals auf dem Spartrip, dachte, mit zwei Kindern müssen wir irgendwann mal ‘ne Menge fürs College bezahlen. Die Suppe kochte über …«
»An dem Morgen hatte sie mich angerufen und motzte wieder mal rum«, warf Jacob ein. »Sie sagte, sie hat keinen Bock mehr, sich ständig in die Finger zu schneiden, weil sie irgendwelche Gemüsereste verwerten muss, und ob sie nicht einfach die Lebensmittel mit der Kreditkarte bezahlen kann …«
»Lassen Sie sie zu Ende reden, Mr. Wells.«
Renee spürte, wie ein lahmes, dankbares Lächeln über ihr Gesicht huschte. Rheinsfeldt war hart wie eine Gefängniswärterin, und sie schien auf Renees Seite zu stehen. »Ich habe mir die Finger verbrannt«, sagte Renee. »Zumindest sagten das die Ärzte, die dann kamen. Danach kann ich mich nicht mehr an viel erinnern. Ich nahm den Topf vom Herd und wollte nach Christine sehen, denn es war schon fast vier und Mattie musste bald aus der Schule kommen.«
»Und dann hat sie sie gefunden«, sagte Jacob.
»Was haben Sie gesehen?«, fragte Rheinsfeldt Renee.
»Sie müssen es für sich behalten, richtig? Also ärztliche Schweigepflicht und so?«
»Ja. Alles, was Sie in diesem Raum äußern, bleibt in diesem Raum. Außer das, was Sie für sich mitnehmen.«
Renee schaute Jacob an und erwartete, in den Augen dieses Fremden auf Hass zu stoßen. Doch er nickte nur resigniert. Sie würde es also so erzählen, wie er es wollte. Schließlich hatte sie damals vor Gott geschworen, ihn zu ehren und ihm stets zu gehorchen.
»Ich ging ins Zimmer und da stand Mattie über das Kinderbett gebeugt. Ich hatte sie nicht kommen hören, sie muss durch die Glasschiebetür an der Hinterseite des Hauses gekommen und dann die Treppe hoch gegangen sein. Sie war blass, ihre Lippen bewegten sich, doch es kam kein Ton heraus. Auch Christine war ganz still. Haben Sie Kinder? Nein? Dann wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass Babys niemals völlig still sind, egal was ist. Sogar wenn sie schlafen, geben sie kleine Zuckungen und Seufzer von sich, schnuffeln oder strampeln.«
»Christine war viel zu still«, sagte Jacob. »Sie war blau.«
»Es lag an der Decke«, sagte Renee. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, so wie damals, als sie mit den Rettungssanitätern und dann mit den Ärzten und dann mit der Polizei gesprochen hatte. So oft hatte sie die Geschichte erzählt, dass die Worte ganz automatisch aus ihr herausflossen. »Es gibt ja diese neuen Erkenntnisse, dass man Babys nicht auf dem Bauch schlafen lassen soll. Also habe ich ein paar Babydecken ins Bettchen gelegt, damit sie am Rücken besseren Halt hat. Aber irgendwie muss sie sich gedreht haben und ist wohl unter die Decken geraten. Sie …«
»Mattie hat sofort gewusst, dass etwas nicht stimmt«, sagte Jacob. »Mattie war es, die den Krankenwagen gerufen hat, während Renee versucht hat, Christine wiederzubeleben.«
»Wie schrecklich«, sagte Rheinsfeldt, und ihr schrumpeliges Trollgesicht hatte fast einen traurigen Ausdruck. »Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt?«, wandte sie sich an Jacob.
»Auf der Baustelle. Wir haben ein neues Wohngebiet vorbereitet. Wenn das Handy nicht gewesen wäre …«
»Was denn, Mattie hat Sie nicht zuerst angerufen?«
»Ich hab Mattie gesagt, sie soll die 112 wählen«, sagte Renee. »Was soll das eigentlich? Wir hatten genug von diesem Mist von der Polizei. Wir sind die Opfer, verdammt noch mal!«
»Ich versuche es nur zu verstehen«, sagte Rheinsfeldt, und ihre Augen schienen noch einen Tick dunkler und geheimnisvoller zu werden.
»Es hätte sowieso nichts gebracht«, sagte Jacob. »Der Gerichtsmediziner bestimmte den Todeszeitpunkt auf ca. 15.15 Uhr. Christine muss erstickt sein, kurz nachdem Renee sie hingelegt hatte.«
»Wissen Sie, was mich davor bewahrt hat, völlig durchzudrehen?« Renee sah, dass Jacob jetzt aufmerksam zuhörte. Hätte er ihr direkt danach nur so viel Aufmerksamkeit geschenkt, als die Depression auf sie einstürmte wie wenn der liebe Gott eine Zigarette ausdrückt.
»Was?«, fragte Rheinsfeldt. Die Frau machte sich keine Notizen. Vielleicht war sie so von sich überzeugt, dass sie sich auf ihr Gedächtnis verließ, doch Renee wusste, dass Erinnerungen lügen konnten. Die Erinnerung erzählt dir alle Geschichten, die du gern hören willst. Wenn man sich täuschen lassen will, kann man sich wunderbar auf sein Gedächtnis verlassen.
»Es kam mir so vor, als sei es jemand anderem passiert. Ich weiß zwar, dass ich dabei war, ich weiß auch, dass ich dieses Baby hatte, aber sie war so schnell wieder weg, dass ich mir weismachen kann, dass sie nie geboren wurde. Sie brauchen mir jetzt nichts über Verleugnung erzählen oder über die Wichtigkeit, bestimmte Dinge zu akzeptieren. Das ist meine Art zu trauern. Ich habe es einfach nicht passieren lassen. Wenigstens nicht mir.«
Jacob legte den Kopf in seine Hände und sprach zum Fußboden. »Ich habe versucht, ihr keine Schuld zu geben.«
»Wie sind Sie als Paar damit umgegangen?«, fragte die Psychologin. »Haben Sie sich auf Ihren Partner konzentriert? Oder auf Mattie?«
Renee dachte über die verschiedenen Antwortmöglichkeiten nach. Die Wahrheit konnte sie nicht erzählen. »Jacob stürzte sich in die Arbeit. Er zog sich vor mir zurück. Aber wir beide rückten enger mit Mattie zusammen. Ich fuhr mit ihr eine Woche zu meinen Eltern, und dann machten wir eine Kreuzfahrt zu den Cayman-Inseln. Dort ist das Meer so schön blau.«
»Jacob war nicht mit?«
»Nein. Dieser neue Bauabschnitt …«
»Der Makler hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht«, erzählte Jacob. Er klang jetzt nüchtern, so als ob ihn die geschäftlichen Überlegungen wachgerüttelt hatten. »Wir hatten ein paar nette Reihenhäuser, für die Hälfte davon gab es bereits konkrete Käufer. Aber die Maklerfirma meinte, dass wir zu viel dafür verlangen. Sie sagten, wir schneiden uns ins eigene Fleisch, wenn wir für dasselbe Geld in besseren Stadtvierteln wertigere Häuser verkaufen wollen. Und so hat uns der Makler hintergangen und uns einige unserer Käufer abgeluchst, und wir sind mit den Krediten baden gegangen. In dieser Stadt darf man niemals spekulativ bauen, außer wenn einem die Bank gehört.«
»Aber was war mit Mattie?«, fragte Rheinsfeldt dazwischen, verblüfft von Jacobs ausführlicher Abschweifung. »Wie war Ihr Verhältnis zu ihr nach Christines Tod?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jacob. »Ich kam mir so hilflos vor. Mein Alter hätte mir geraten, meine Eier aus dem Sand zu ziehen und es richtig krachen zu lassen. Wenn dich jemand drankriegen will, dann drehst du den Spieß einfach um. Also beschlossen wir – also mein Geschäftspartner und ich –, dass es die richtige Zeit zum Kaufen ist, wenn die Preise schon fielen. Wir schauten uns ein paar Grundstücke in der Stadt an, richtig gute Gewerbestandorte.«
»Er gab mir Geld statt Zuwendung«, sagte Renee.
»Ich dachte, dass ich Mattie am besten trösten kann, wenn ich sie so richtig verwöhne«, sagte Jacob. »Und dazu brauchte ich Geld. Die Kreuzfahrt, Reitunterricht, Disney World, Shoppingtouren …«
Rheinsfeldts Reaktion gefiel Renee nicht. Die Eheberaterin kräuselte die Lippen, als ob es geschmacklos wäre, wenn man Wert auf Geld legt. Sie hatte keine Ahnung, was es hieß, ein Wells zu sein.
»Es ist nicht ungewöhnlich, sich in alltägliche Dinge zu stürzen, wenn man eine emotionale Tragödie durchlebt«, bemerkte Rheinsfeldt. »Aber wie sah es denn in Ihrem Inneren aus?«
»In meinem Inneren?« Jacobs Augenlid zuckte. »Ich habe kein Inneres mehr.«
»Bitte, Jake«, mahnte Renee. »Werd nicht wieder … du weißt schon.«
Er stand auf, lief ein paar Schritte hin und her. Am Fenster blieb er stehen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob er die Geranientöpfe packen und sie gegen die Wand schleudern wollte. Er drehte sich um, seine Fäuste geballt. »Das könnt ihr niemals verstehen, nicht mal in einer Million Jahren, verdammt noch mal!«
Renee war sich nicht sicher, ob er sie oder Rheinsfeldt damit meinte. Seine Augen rotierten wild umher. Doch dann war sie sich ziemlich sicher, dass er sie damit gemeint hatte. Sie hatte diese Worte schon oft gehört.
Rheinsfeldt ließ sich davon nicht beeindrucken und saß mit professioneller Gelassenheit auf ihrem Stuhl. »Wie sah es in Ihrem Inneren aus?«, fragte sie noch einmal.
»Als ob meine Eingeweide in Flammen stehen. Die ganze Zeit. Ich hatte Magenbeschwerden, Durchfall und so schlimme Schmerzen, dass nicht mal die stärksten Schmerzmittel dagegen halfen.«
»Vielleicht Schuldgefühle?« Rheinsfeldt klang jetzt wie der Moderator einer Quizsendung, dessen Kandidat in der letzten Runde plötzlich zu versagen droht.
»Nein. Die Schuld nehme ich voll und ganz auf mich«, sagte Renee. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Verdammt, sie konnte das langsam richtig gut! »Ich habe Christine ins Bett gebracht, ich habe die Decken hingelegt. Ich war es, die sie in diese schreckliche Welt gesetzt hat.«
»Glauben Sie wirklich, dass diese Welt so schrecklich ist? Wenn das so ist, hätten Sie doch gar keine Kinder erst bekommen.«
»Mattie war ein Unfall«, erzählte Renee, und Jacob hörte auf, am Fenster auf und ab zu laufen.
»Ein Unfall?« Rheinsfeldt witterte Blut in den Tiefen der Seele. »Vielleicht war das einer der Gründe, warum Jacob sie immer verwöhnen wollte. Vielleicht hatte er nicht gedacht …«
»Nicht gedacht. Genau das ist es. Wir hatten alles so schön geplant, wir wollten das Geschäft zum Laufen bringen, ein Haus bauen, ein bisschen Geld anhäufen und dann über eine Familie nachdenken.«
»Wie alt waren Sie damals?«
»Zweiundzwanzig«, sagte Jacob.
»Einundzwanzig«, sagte Renee. »Wir wissen genau, in welcher Nacht sie entstanden ist.« Sie schaute Jacob an, und der Schmerz in seinem Gesicht war Millionen wert. »Erzähl’s ihr, Jakie.«
Er drehte sich wieder zum Fenster. Der Himmel war glanzlos und blau, endlos, wie Renees Liebe zu ihm.
»Wir benutzten immer ein Kondom, auch nach unserer Hochzeit«, erzählte sie Rheinsfeldt. Eigentlich aber sprach sie zu Jacob. Die Worte schossen aus ihr heraus und trafen wie Nägel in sein Fleisch. »Von der Pille bekam ich Kopfschmerzen, ein Pessar oder Verhütungsschaum fand ich zu umständlich. Eines Abends im August war Jacob mit ein paar alten Schulfreunden noch was trinken gegangen … Ja, das war so die Zeit, als er wieder angefangen hatte zu trinken. Ich denke ja, das war wegen der Angst vor dem Erfolg, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls, ich weiß nicht mal, was das für Schulfreunde waren, aber es muss eine ziemlich gute Party gewesen sein. Jacob war erst um vier Uhr früh zu Hause. Es war dunkel und ich hab noch halb geschlafen, da kroch er auf mich drauf wie ein Tier. Ich wollte ihn wegstoßen. Ich bin ja nicht prüde, aber ein bisschen Vorspiel ist schon nicht schlecht. Außerdem hatte er kein Kondom drauf. Dann ist er einfach in mich eingedrungen.«
»Jacob?«, unterbracht Rheinsfeldt, als ob sie fürchtete, dass Renee das Zepter in dieser Sitzung übernahm.
»Es hat ihr gefallen«, sagte Jacob zum Fenster gerichtet. »Es war wahrscheinlich die beste Nacht ihres Lebens.«
Renee wand sich in ihrem Stuhl. Jacob war in dieser Nacht so leidenschaftlich gewesen wie nie, als ob er wusste, dass er seinen Samen in sie legt. Als ob er unbedingt ein Baby wollte. Und ein kleiner Teil von ihr fand das auch gut so und hatte ihn noch tiefer in sich hineingezogen.
Ihr Sex war nie wieder so intensiv gewesen, nicht einmal dann, als sie es darauf anlegten, noch ein Kind zu machen – Christine. Nach Whiskey und Schweiß hatte er gestunken, seine Zunge war wie eine Viper beim Angriff, sein Körper eine Waffe. Seine Erregung hatte sie hinweggespült, über die Grenzen des Universums hinaus. Sie hasste es, wenn sie wegen ihm die Kontrolle verlor.
Und genau das hatte er jetzt fast wieder geschafft: Sie dazu zu bringen, die Kontrolle zu verlieren. Sie zwang sich, an Christine zu denken, wie das winzige Wesen ganz blau zwischen den Decken lag. Und an Mattie, verloren in den riesigen Flammen, die die letzte Brücke zu ihrer gemeinsamen glücklichen Vergangenheit auffraßen.
»Drei Mal«, sagte Renee. »Du wolltest wirklich sicher gehen, was, Jake?«
»Du hast dich nicht gewehrt«, sagte er.
»Es steht mir nicht zu, mich zu wehren«, sagte sie. »Du hast mich geheiratet, verstehst du?«
»Jeder macht mal Fehler.«
»Wir haben sie zusammen gemacht.«
»Ein Wells versagt nie.«
Renee schluckte, versuchte die Wut hinunterzuschlucken. Der Zorn saß in ihrer Kehle und machte jeden Atemzug zur Qual. Die plötzliche Stille lag schwer und erdrückend im Raum. Rheinsfeldt stieß flink wie eine Schlange nach vorn.
»Offensichtlich haben sie sich genug geliebt, um das Kind auszutragen«, sagte sie. »Und Jacob ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Es sieht also so aus, als ob sie beide alles bekommen haben, was Sie wollten. Welcher Teil Ihres gemeinsamen Traums hat sich denn nicht erfüllt?«
»Nach diesem Ereignis hat mich Jacob wochenlang nicht mehr angefasst«, sagte Renee. »Als ob ich die Schmutzige gewesen wäre. Vielleicht war ihm seine Leidenschaft auch peinlich. Wenn ich aufwachte, war er schon weg, und er kam erst am späten Nachmittag wieder. Wir haben uns ein paar Mal gestritten, haben Sachen durch die Luft geworfen. Wir sind aber nicht handgreiflich geworden, haben uns meistens nur angeschrien, bis er dann rausgerannt ist.«
Die Psychologin nickte, als ob ein solches Verhalten völlig normal wäre. »Warum haben Sie sich so benommen, Jacob?«
»Ich hatte Angst, dass sie schwanger ist.«
»Warum war diese Vorstellung so schlimm? Wegen der Verantwortung?«
»Nein. Wegen der Gene. Ich hatte Angst, dass ich ein schlechter Vater sein würde, so wie ich es vorgelebt bekommen hatte.«
»Vorgelebt?«
»Von meinem eigenen schlechten Vater.«
»Das klingt nach einer Sache, die wir mal unter vier Augen besprechen müssen. Aber für heute sollten wir versuchen, ob es uns gelingt, dieses eine kleine Puzzleteil zu verstehen.«
»Er wurde wieder normal, als meine Regel ausgeblieben war und wir das Ergebnis des Schwangerschaftstests bekamen«, erzählte Renee. »Er war der perfekte Ehemann, ging tagsüber auf Arbeit, rief mich vor und nach dem Mittagessen an und überschüttete mich mit Aufmerksamkeit, wenn er nach Hause kam. Es war, als wären wir frisch verheiratet.«
»Und wann war es mit den Flitterwochen vorbei?«
»Matties Geburt ging ganz schnell. Sie sah Jacob so ähnlich. Vielleicht nicht vom Gesicht her, denn sie hatte meine Augen, aber die Art, wie sie lächelte. Und wie sie lachte. Wie sie ihre Augenbrauen runzelte, wenn sie Wut hatte.«
»Sie war so hübsch«, sagte Jacob und ging zur Tür. »Viel besser, als wir es verdient hatten. Ich bin fertig hier.«
»Du bist unmöglich«, sagte Renee.
Jacob lief weiter.
»Wir müssen Ihnen eine Hausaufgabe mitgeben«, sagte Rheinsfeldt zu Jacobs Rücken. »Damit wir eine Grundlage für die nächste Sitzung haben.«
Jacob ging um die Ecke und war verschwunden.
»Sehen Sie«, sagte Renee, »es macht keinen Sinn.«
Rheinsfeldt zog ein Taschentuch aus dem Spender auf dem Tisch und hielt es Renee hin. Renee nahm es, aber wischte sich damit nicht die Tränen weg. Sie tupfte damit auch nicht die kleinen Bächlein ab, die ihr aus der Nase liefen. Sie wusste, dass sie schlimm aussah, mit fleckigen Wangen und geschwollenen Augen.
Rheinsfeldt legte ihre Hand vertrauensvoll auf ihr Knie. »Wenn man Jacobs Vergangenheit betrachtet, dann müsste man ihn jetzt wahrscheinlich sofort einweisen lassen.«
»Vergangenheit?«
Rheinsfeldts mitfühlender Gesichtsausdruck wich einer undurchdringlichen Maske. »Wissen Sie das etwa nicht?«