5. KAPITEL

Am 29. Mai wurde Jacob Wells aus dem Krankenhaus entlassen.

Steve Poccora fuhr ihn am Tag seiner Entlassung im Rollstuhl zum Lift. Jacob beharrte darauf, dass es ihm gut geht, doch Poccora erklärte, dass es in diesem Krankenhaus so üblich sei, jeden bis zur Tür wie einen Patienten zu behandeln.

»Danach sind Sie wieder für sich selbst verantwortlich«, sagte Poccora. »Wenn Sie dann stolpern und sich ein Bein brechen, kann es mir egal sein. Aber wir können nicht zulassen, dass Sie uns für was verklagen, was hier drinnen passiert.«

Jacob war sich nicht sicher, ob der Pfleger das ernst meinte. Also blieb er in seinem Rollstuhl sitzen und schaute auf die blinkenden Lichter der Etagenanzeige, während der Lift bis ins Erdgeschoss fuhr. Als der Fahrstuhl anhielt, stieg ein Mann ein, den Jacob von der Handelskammer kannte. Er hielt einen Blumenstrauß mit rosaroten Rosen, Tulpen und Wilder Möhre in der Hand. Jacob konnte sich nicht an den Namen des Mannes erinnern. Er hatte einen strammen Nacken und ein rotes Gesicht mit Hängebacken, wie ein ehemaliger Footballspieler. Wahrscheinlich irgendjemand vom Maurerbedarf.

»Jacob«, sagte der Mann mit dem Lächeln des Geldes. »Wie geht’s? Alles OK?«

»Mir ging’s nie besser.«

Das Lächeln erlosch. »Hören Sie, es tut mir so leid … Sie wissen schon.«

»Reden wir nicht darüber.«

»Ich habe für Sie gebetet.«

»Das sollte helfen. Danke.«

Der Mann zeigte auf den Blumenstrauß. »Für meine Frau. Sie liegt auf der Entbindungsstation. Wir haben gerade unser drittes Kind bekommen.«

Jacob nickte und schaute hinaus in die Krankenhauslobby, deren Industriefliesen wächsern glänzten. An der Patienteninformation saß eine alte Dame mit Zwickerbrille. Poccora rollte ihn aus dem Fahrstuhl, die Türen schlossen sich mit leisem Zischen und nahmen den Duft der Blumen gefangen.

»Dawson«, sagte Jacob.

»Was?«, fragte Poccora.

»Dawson hieß der Typ. Kennen Sie das, dass Sie einen totalen Blackout haben, wenn Sie mit jemandem reden, und dann schießt es Ihnen plötzlich in den Kopf?«

»Nee. Ich glaub, Sie sind zu lange hier drin gewesen.«

Sie waren an der gläsernen Eingangstür angekommen und Poccora hörte auf zu schieben. Jacob saß da und sah sich die Welt da draußen an. Eine veränderte Welt. Eine Welt, in der etwas fehlte.

»Ende der Fahrt«, sagte Poccora.

»Ja«, antwortete Jacob.

»Holt Ihre Frau Sie ab?«

»Ja. Sie steht draußen. Ich hab sie vom Zimmer aus angerufen.«

»Gut. Sie beide schaffen das schon. Passt auf euch auf. Vielleicht kriegen Sie ja noch mal ein Kind.«

Jacob stand auf. Obwohl er in den letzten Tagen immer mal auf dem Flur herumgelaufen war, fühlten sich seine Beine an wie Zuckerwatte. Er winkte Poccora zu und ging durch die Tür. Dabei fragte er sich, wie viel von ihm wohl in diesem Krankenhaus bleiben würde. Die frische Luft fühlte sich gut an nach der schalen, künstlichen Krankenhausluft, doch irgendwie hinterließ sie auf seiner Zunge einen rauchigen Nachgeschmack.

Die Berge strahlten im üppig dichten Grün des späten Frühjahrs. Ein Frühlingsregen hatte den Staub von den Straßen gespült. In Kingsboro gab es nur zwei Taxifirmen. Die Fahrer waren Einzelunternehmer, jeder von ihnen hatte bestimmte Stunden. Jacob hätte Donald anrufen können oder einen seiner wenigen Freunde oder Geschäftspartner, doch ein Spaziergang erschien ihm als lohnenswerte Herausforderung nach den vielen Wochen im Krankenhausbett. Außerdem hätte er bei einer Taxifahrt nur mit den Leuten reden müssen.

Das Gespräch würde mit belanglosen Dingen anfangen, zum Beispiel ob es die Baseballer von den Atlanta Braves in diesem Jahr endlich schaffen würden oder wie der späte Schneefall den Golfplatz im Countryclub beschädigt hatte. Alles außer »der achtzig Tonnen schwere Elefant im Wohnzimmer«, wie Renee es genannt hatte, würde zur Sprache kommen. Jacobs Verlust. Oder besser seine vielen Verluste, je nachdem, wie tief der jeweilige Bekannte bereit war, in seiner Vergangenheit herumzustochern. »Es tut mir so leid« – diese Worte wollte er nie wieder hören.

Die Verbrennungen waren besser verheilt, als er verdient hatte. Seine Haut spannte und glänzte zwar immer noch leicht, aber er hatte keine bleibenden Narben zurückbehalten. Dr. Masutu sagt, er habe Glück gehabt. Wäre das Haus nicht eingestürzt und hätte ihn dabei ausgespuckt, hätte ihm wahrscheinlich das Kohlenmonoxid den Rest gegeben. Der Arzt hatte auch versucht ihn zu überzeugen, dass seine Tochter unter keinen Umständen zu retten gewesen war, egal, was Jacob auch unternommen hätte. Doch er glaubte ihm nicht.

Eigentlich hatte er sich vorgenommen, im Büro vorbeizuschauen, sich an seinen Schreibtisch zu setzen und herauszufinden, ob M&W Ventures noch interessant für ihn war. Aber dort gab es zu viele Erinnerungen, zu viele Fotos. Auch sein Schreibtisch war nur ein Teil seiner zerbrochenen Vergangenheit. So lief er einfach weiter auf dem Fußweg, raus aus der Innenstadt. Er hatte keine Ziele mehr. Vor ihm lag eine lange Reise, die ihn fortführte von den Orten, die er einmal gekannt hatte.

Im Osten der Stadt war Kingsboro eine schizophrene Mischung aus unterschiedlichsten Lebensbereichen. Rund um das Krankenhaus scharten sich Arztpraxen wie Geier ums Aas. In der dahinterliegenden Straße lagen ein paar alte Bauernhäuser, in deren Gärten die ersten grünen Triebe der Mais-und Kartoffelpflanzen sprossen. An der Tankstelle ganz in der Nähe konnte man nicht mal mit Kreditkarte bezahlen, das Grundstück bestand aus schwarzen Betonbrocken, und doch warb ein glänzendes Schild für den englischen Energieriesen, dem die Tankstelle neuerdings gehörte. Gegenüber dem Krankenhaus schlängelte sich eine Reihe verkommener Wohnungen den Hügel hinauf. Einige Fenster wurden nur noch mit Klebeband zusammengehalten. Und hoch über den Dächern dieser Häuser schwebte das strahlende, siebenstöckige Holiday Inn.

Sein Vater hatte das Hotel gebaut. Es war Warren Wells’ letzter Versuch, in den Appalachen einen Turm von Babel zu errichten, bevor er starb. Jacob wandte seinen Blick vom Hotel ab, das mit Abstand das höchste Bauwerk in der Gegend war. Sein Vater hatte überall am Horizont gekratzt, vom Städtischen Kunstzentrum an der Autobahn bis zu den Freizeitanlagen in den Flussauen, die sogar nach ihm benannt waren. Zu viel von dieser Stadt war von Warren Wells gebaut. Sein Geruch hing in Hunderten von Korridoren. Und Jacob hatte der Versuchung nachgegeben, in diese großen Fußstapfen zu treten.

Hier geboren zu sein war eigentlich schon schlimm genug. Als das geboren zu sein, was er war, machte alles noch schlimmer. Doch am allerschlimmsten war, dass er wieder hierher zurückgekehrt war. Es gab eine Zeit, da hatte er gedacht, seine Flucht wäre gelungen. Dann kam Renee mit ihrem Wunsch nach seinem Erfolg. Sie schubste ihn auf das Terrain, in dem die Siege zählten, wo seine Errungenschaften messbar waren. Siege wie aus dem Erdboden gestampft.

Nun war Kingsboro der Ort, in dem sein Vater begraben war.

Nach anderthalb Kilometern war der Fußweg zu Ende. Er lief auf den Grasklumpen weiter, die sich neben der Straße auftürmten. Sein Atem war hart und kalt und sein Herz schlug zu schnell, doch er zwang seine Füße weiterzugehen. Autos brausten an ihm vorbei, Pickups mit Holzbohlen und Abflussrohren, Väter, die ihre Kinder in Geländewagen zum Fußball brachten, kleine alte Damen auf dem Weg zum Friseur, Fernsehtechniker mit ihren langen Kabelwagen. Da schnurrte etwas in Jacobs Jackentasche. Er holte sein Handy heraus und starrte es an wie ein außerirdisches Fundstück. Renee musste die Jacke ins Krankenhaus gebracht haben. Das Handy war wohl ihre eingebaute List, die ihn zu seinem alten Ich zurückführen sollte.

Jacob der Immobilienhai, der Baumagnat, der Hüter des Wells’schen Geschlechts. Jacob der aufrechte Bürger und liebende Ehemann. Jacob, Vater zweier Kinder …

Er drehte sich um und warf das Telefon weg. So weit er konnte. Dabei verdrehte er sich die Schulter. Das kleine, rechteckige Ding wirbelte durch die Luft und verschwand schließlich in einem dichten Gestrüpp aus hohen Sträuchern und Bäumen. Hinter dem ganzen Unkraut lag ein Wohnmobilpark, umzäunt von einer krummen Wand aus Holzlatten. Einem handgeschriebenen Schild auf Englisch und Spanisch entnahm er, dass man die Wohnmobile wochenweise mieten konnte, ausschließlich gegen Barzahlung. Zwischen dem Unkraut stapelten sich zerknautschte Bierdosen und Plastikverpackungen. Dieser Ort brauchte dringend eine gründliche Reinigung, am besten mit dem Bulldozer.

Er lief weiter, der Verkehr wurde dünner, sein Kopf brummte in der Vormittagssonne. Die Zugvögel waren auf ihrem Weg zurück in den Norden. Er sah Vögel vorbeifliegen oder auf den Kiefernästen sitzen, die man sonst nur selten zu Gesicht bekam. Überall erschienen kleine Häuschen, alt, aber gut in Schuss. Sie gehörten Leuten, deren Vorfahren das Land verscherbelt hatten, mit dem Fremde später reich geworden waren. Jacob war müde und seine Beine waren schwach, er war das Laufen nicht mehr gewohnt, doch er ging immer weiter, wie auf einer mitleiderregenden Flucht.

Doch er wusste, dass er keine Chance hatte, sich selbst zu entkommen. Ganz egal, wie schnell oder wie weit er auch lief.

Hinter ihm knatterte ein Auto heran, bremste und fuhr vorbei. Er warf einen Blick auf die verbeulten grünen Kotflügel, und ihm war klar, dass der Fahrer ein armes Schwein sein musste. Es war eine Familienkutsche aus den Siebzigern, ein spritfressender Haufen Chevrolet-Stahl, wie ihn nur ein Amerikaner vom Lande ohne Scham fahren konnte. Weil der Wagen getönte Scheiben hatte, konnte er jedoch kein Gesicht ausmachen, das zu seinen Gedankenspielen passte.

Wieder wurde das Auto langsamer. Fünf Meter vor Jacob fingen die Bremslichter an zu flackern. Der rostige Auspuff gab kratzende Geräusche von sich. Jacob lief weiter. Er ging an dem Wagen vorbei, schaute geradeaus die Straße entlang und fragte sich, wo der ganze Verkehr auf einmal hin war. Selbst in diesem Wohngebiet jenseits der Stadtgrenzen gab es eigentlich zu wenige Straßen, um dem ewigen Autostrom zu entkommen.

Der Chevy gab Stoff, seine Auspuffgase klebten in der feuchten Luft. Direkt neben Jacob wurde der Wagen wieder langsamer. Schweiß perlte unter Jacobs Augen und am Haaransatz. Er warf einen Blick auf das Auto, ohne den Kopf zu bewegen, doch alles, was er sah, war sein eigenes Spiegelbild im getönten Glas des Beifahrerfensters. Der Wagen fuhr nun mit gleichbleibender Geschwindigkeit neben Jacob her, und er widerstand der Versuchung, seinen Schritt zu beschleunigen und zu rennen.

Vielleicht sollte das ja ein Raubüberfall werden. Die Kriminalität war nicht hoch in Kingsboro, doch die Menschen waren überall gleich, und manchmal war eben jemand kurz vor der Verzweiflung. Jacob trug einen maßgeschneiderten Anzug. Er sah nicht aus wie jemand, der für gewöhnlich am Straßenrand entlangläuft. Er war hier nicht in seinem Element, er gehörte nicht hierher. Er war blass und schwach nach seinem langen Krankenhausaufenthalt. Raubtiere aller Art hatten ein feines Gespür für die Schwachen. So fanden sie immer die passenden Opfer.

Er lief schneller. Seine Augen wanderten zu dem Chevy, dessen Motorgeräusch das Einzige war, was man in dem engen Tal hörte. Selbst die Vögel waren auf einmal verschwunden. Die Straße wand sich in beiden Richtungen aus dem Sichtfeld und verlor sich zwischen den Hügeln, die im Frühlingserwachen grünten. Hinter der Kurve dümpelte der Wohnwagenpark im eigenen Müll vor sich hin. Am Waldrand stand ein einsames Farmhaus, doch es schien nicht bewohnt zu sein. Die Fensterläden waren geschlossen und es stand kein Auto davor, die Scheunentore waren verriegelt. Im runtergewirtschafteten Hof stand ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Zu verkaufen«.

Das Auto fuhr wieder ein Stück voraus, dann hielt es an und wartete, bis er aufgeholt hatte.

Wenn er nur das Handy noch hätte! Doch selbst wenn er jemanden zu Hilfe holen würde, was sollte er der Polizei erzählen? Dass er von einem Auto verfolgt wurde? Sie wären sowieso nicht rechtzeitig da, um ihm zu helfen. Er könnte über den Straßengraben springen und zwischen den Bäumen verschwinden. Doch das Auto stellte momentan keine wirkliche Bedrohung dar. Der Fahrer hielt einen klaren Kurs, wich nicht von seiner Linie ab. Das einzig Schlimme war, dass der Wagen so langsam fuhr, auch wenn der Motor hungrig heulte.

Es ist nur ein Überfall. Nichts weiter.

Jacob beschleunigte seinen Schritt, um ein kurzes Stück zu joggen. Doch das Auto blieb an seiner Seite. Er brauchte keine Uhr, um zu wissen, dass ihn der Wagen mindestens schon seit einer halben Minute verfolgte. In der Zwischenzeit müsste doch wirklich mal ein anderes Auto vorbeigekommen sein! Es war, als ob die Straße an beiden Seiten des Tals gesperrt worden war, damit dieses Drama ganz im Privaten ausgefochten werden konnte.

Seine Lungen schmerzten und fühlten sich fürchterlich eng an, seine Beine waren kurz vorm Zusammenbruch. Er war einfach nicht mehr in Form. Selbst wenn er rannte, wäre es für den Fahrer ein Leichtes, ihn einzuholen. Ein Wettrennen kam also nicht in Frage. Wie gewinnt man auch gegen vier Tonnen blinden Stahl?

Du weißt genau, dass er es ist.

Vielleicht versuchte einfach nur jemand, ihm Angst einzujagen. Manche seiner Konkurrenten beschuldigten ihn schmutziger Tricks, zum Beispiel, dass er die Planungsbehörde bei Ausschreibungen großzügig schmierte. Es hatte einige Auseinandersetzungen mit Lieferanten gegeben, und ein paar Mal hatte er die Zahlung verweigert, wenn Arbeiten nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden waren. Er verfügte über Insiderinformationen, welche Häuser aufgrund nicht bezahlter Kreditraten oder Steuerforderungen zwangsvollstreckt werden sollten, und seine Deals hatten nicht nur eine Familie auf die Straße gebracht – auch wenn es die »Opfer« manchmal nicht anders verdient hatten. Was konnte er denn dafür, dass manche Leute ihre Rechnungen nicht pünktlich bezahlten?

Eigentlich genügte es schon, ein Wells zu sein, um zur Zielscheibe zu werden. Das Bergvolk hatte ein gutes Gedächtnis, und Warren Wells hatte mehrere Männer ziemlich schlecht behandelt. Manchmal war er auch brutal mit deren Frauen umgesprungen. Hier war zwar der wirtschaftliche Schaden nicht so hoch, dafür aber der seelische. Und so hatte Jacob neben zahllosen Immobilien auch tonnenweise aufgestaute Wut mit geerbt.

Jeder konnte der Fahrer des grünen Wagens sein. Vielleicht jemand, den er aus der Schule kannte? Oder jemand, der Joshua kannte? Manche Leute verwechselten ihn noch immer mit seinem Bruder, und Joshua hatte sich wirklich viele Feinde gemacht. Doch Joshua war clever genug gewesen, die Stadt zu verlassen und nie mehr zurückzublicken.

Es ist bestimmt nur irgendjemand. Nicht er.

Jacobs Beine verweigerten seinen Befehl, schneller zu laufen. Er konnte kaum noch die Kraft für den nächsten Schritt aufbringen. Also blieb er stehen, beugte sich leicht vornüber, um Luft zu holen und wandte sich der Beifahrertür zu, als wollte er sie öffnen.

Der Chevrolet heulte auf, der Motor trommelte, die Hinterräder gruben sich in den Asphalt. Der Geruch von verbranntem Gummi und Öl stieg in Jacobs Nase. Das Auto schoss mit quietschenden Reifen und schleuderndem Heck nach vorn. Auch die Heckscheibe war getönt, unten links klebte eine kleine Rebellen-Fahne. Ein Bremslicht war kaputt und hing nur noch an den Kabeln über der verbeulten Stoßstange aus Chrom. Der Wagen beschleunigte und bog um die Kurve, noch bevor Jacob das verstaubte Nummernschild entziffern konnte. Orange, weiß, grün. Sah aus wie Tennessee.

Das Auto röhrte den Hang hoch, viel zu schnell für die kurvenreiche Straße, die Kolben winselten vor Wut. Das Geknatter des kaputten Auspuffs hallte von den Bergen zurück und wurde langsam leiser. Der Wagen fuhr weiter ins Gebirge, bis man ihn schließlich gar nicht mehr hörte. In der plötzlichen Ruhe spürte Jacob, wie sein Puls gegen seine Trommelfelle hämmerte. Und dann erfüllten andere Klänge die Stille – die Vögel im Wald, ein kleiner Flieger hoch oben am Himmel, ein Hund, der in weiter Ferne bellend sein Revier verteidigte.

Jacob krümmte sich, fast lahm vor Angst. Er fröstelte. Er zog seine Jacke fester um sich herum und starrte auf die Straße, erst nach vorn, dann nach hinten. Er wusste nicht, wo er war. Wie war er nur hierher gelangt, mitten in die Pampa, irgendwo am Straßenrand?

Nicht schon wieder.

Seit seiner Jugend hatte Jacob keinen seiner Dämmerzustände mehr gehabt. Früher war er manchmal weggelaufen und konnte sich danach an nichts mehr erinnern. Die Mediziner nannten es dissoziative Fugue. Damals hatte Joshua ihm immer grausame Streiche gespielt. Die Dämmerzustände waren ein Schutzmechanismus, hatte ihm ein Psychologe versichert. Nichts Schlimmes, auf jeden Fall nichts, was ihn in die Gummizelle bringen würde. Sie waren nur eine Reaktion auf extremen Stress, nichts weiter. Aber das war lange her, und er hatte auch schon lange keine Blackouts mehr gehabt.

Allerdings … wenn man an bestimmte Phasen seines Lebens keine Erinnerung hat, dann würde man sich auch nicht daran erinnern, oder?

Es hätte alles Mögliche passieren können, und man wüsste es nicht mehr.

Er hörte ein Geräusch hinter dem Berg, flüsternde Reifen auf dem Asphalt.

Jacob dachte, dass der grüne Chevy gleich wieder um die Kurve kreischen würde, die strahlenden Scheinwerfer wie mörderische Augen, die Stoßstange gleißend im Sonnenlicht. Er hatte keine Kraft wegzulaufen. Er würde einfach nur dastehen und zusehen, wie der Kühlergrill immer näher kam und ihn dann mit seinen Chromfängen verschlang.

Er schloss seine Augen und versuchte zu beten. Doch Beten war ein Ritual, eine Kunst, die Übung erforderte, kein Nothammer für Ungläubige. Das Flüstern wurde lauter, doch was fehlte, war das Heulen des überdrehten Motors. Es war nicht der Chevy.

Er blinzelte, als der Pickup vorüberfuhr. Das Fahrzeug bremste und setzte zurück, um schließlich vor ihm stehen zu bleiben. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen, und noch bevor Jacob die zerwuschelte Frisur mit der unverwechselbaren grauen Wollmütze erkannte, sah er das Firmenlogo auf der Tür: Smalley Construction.

Chick Smalley paffte ein zerzaustes Rauchwölkchen in die Luft und sagte: »Mr. Wells, was machen Sie denn hier draußen? Hatten Sie ‘ne Panne oder was?«

Smalley hatte ab und zu für M&W Ventures gearbeitet. Er war Klempner und Elektriker und konnte, wenn er nüchtern war, auch Dachdecker-und Trockenbauarbeiten ausführen. Er verpasste nie einen Termin, aber leider verpasste er auch nie eine Gelegenheit zum Angeln, wenn ihm gerade danach war. Er machte kein Geheimnis um seine Vorlieben. Wenn die Fische gut bissen, dann rief er frühmorgens seinen Auftraggeber an und sagte ihm, dass er heute keinen Bock hat. Nachmittags arbeitete er dann dreimal so viel, um alles wieder rauszuholen. Mit dieser Masche fuhr er immerhin gut genug, um seinen außergewöhnlichen Lebensstil durchzuziehen.

»Hi, Chick«, sagte Jacob. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, damit Smalley nicht sah, wie sie zitterten. »Haben Sie vielleicht so vor ‘ner Minute ein Auto gesehen, einen verbeulten Chevy mit schwarzen Scheiben?«

»Nö«, sagte Smalley und guckte in den Graben, als ob er dort Jacobs geschrottetes Auto sehen könnte. »Sind Sie von der Straße abgekommen? Kaputter Reifen?«

»Ich war nur …« Ja, was machte er eigentlich hier? Von der Begegnung mit dem Chevy konnte er Chick nicht erzählen. Er hatte Angst, dass er wie ein Verrückter klingen würde, wenn er es zu erklären versuchte. Er zweifelte ja selbst schon daran, ob der Vorfall wirklich passiert war. Doch da waren eindeutig die Reifenspuren auf der Straße, wie zwei schwarze Schlangen, die vor ihm wegkrochen.

»Sie sehen ganz schön mitgenommen aus, Mr. Wells. Soll ich Sie mit ihn die Stadt nehmen?«

Ein Auto bog um die Kurve, dahinter kam noch eins. Der Verkehr war wieder ganz normal. Der eigenartige Fluch, der über dem Tal zu hängen schien, war verschwunden. Jacob kam sich blöd vor, wie er so am Straßenrand stand, und er hatte auch keine Lust mehr, ziellos in der Gegend herumzuwandern. Also ging er schnell über die Straße und kletterte auf den Beifahrersitz des Pickups.

Smalley legte den Gang ein. »Legen Sie die Sachen einfach auf den Boden«, sagte er, drückte seine Zigarette aus und gab Gas. Jacob räumte ein paar Lappen, ein Maßband, eine Tube Spachtelmasse, eine Fugenspritze und ein paar zerfledderte Outdoor-Magazine beiseite, um Platz zu schaffen. Dann krallte er sich in einem Anflug von Schwindel am Armaturenbrett fest. Es musste der Zigarettenrauch gewesen sein, der ihn an die Tragödie erinnert hatte. Rauch würde wohl für immer einen stechenden Schmerz in ihm verursachen, und jede Flamme würde ihn an jene Höllennacht erinnern.

»Mensch, Mr. Wells, Sie sehen ja aus wie ein Geist. Soll ich Sie ins Krankenhaus bringen?«

»Nein«, schrie Jacob, lauter als beabsichtigt. »Bringen Sie mich nach Hau …«

Er hatte kein Zuhause mehr. Die Erkenntnis traf ihn wie die Faust Gottes. Er sah aus dem Fenster, die Bäume verschwammen im Vorbeifahren zu einem Teppich aus verschiedensten Grüntönen. Die Pflanzen sammelten Saft für den Sommer. Die Erde war ein feindseliger Planet, fremd und voller Schmerz. Man konnte zwar Teile davon kaufen, Anteile und Rechte erwerben, doch am Ende hatte man nichts als die Erde über sich, den Dreck, der durch den Sarg rieselt und sich in Mund und Lungen festsetzt. Am Ende gehört die Erde nicht dir, sondern du gehörst der Erde, sie saugt dich ein und zermalmt dich und liebkost dich und erdrückt dich mit ihrer Liebe, ihre Würmer küssen dich in den Schlaf, ihr Gewicht ruht schwerer auf dir als die tonnenschwere Last der Angst und Wut, die du in deinem lebenden Fleisch mit dir trugst.

»Wissen Sie, wo Ivy Terrace ist?«, fragte er schließlich.

»Die Eigentumswohnungen, die ihr im Westen der Stadt gebaut habt?« Smalley schielte ihn aus den Augenwinkeln an und schien immer noch zu überlegen, ob er ihn nicht doch lieber ins Krankenhaus bringen sollte.

»Genau. Können Sie mich dorthin bringen?« Er kramte in seiner Hosentasche. »Ich bezahl’ Sie natürlich auch.«

»Nee, nee, lassen Sie mal. Arbeit ist Arbeit und ein Gefallen ist ein Gefallen. Denken Sie einfach daran, wenn jemand anderes mal Hilfe braucht.«

Jacob schaute in den Rückspiegel, und einen Augenblick lang dachte er, dass er den grünen Chevy von hinten heranpreschen sah. Er rieb sich die Augen.

»Ich hab gehört, was passiert ist«, sagte Smalley und blickte dabei auf die Straße. Hier standen wieder mehr Häuser. Jacob hatte keine Ahnung, wie weit er gelaufen war. Die Sonne hatte am Himmel schon wieder langsam ihren Rückzug in Richtung Nachmittag angetreten.

»Manchmal ist es nicht leicht, Gottes Wege zu verstehen«, sagte Smalley. Er griff nach einer fleckigen, ausgefransten Arbeitsjacke, die neben ihm lag und warf sie über den Sitz zu Jacob herüber. »Ich denke mal, Er hat am Kreuz so viel leiden müssen, dass wir nun alle ein bisschen was davon ertragen müssen.«

Jacob sah aus dem Fenster und dachte an Mattie. Er stellte sich vor, wie sie als kleines Mädchen auf seinem Fuß gesessen und er »Hoppe-hoppe-Reiter« mit ihr gespielt hatte. Was wusste Smalley schon über das Leid? Er hatte keine Familie, trug keinerlei Verantwortung. Er hatte eine Angel in seiner Gewehrhalterung stecken und den Hänger voller Holzabfälle und rostigem Werkzeug. Er rauchte und hatte dreckige Fingernägel.

Smalley fummelte in seiner Jacke herum und machte sie auf. Jacob sah die Flasche. Dick und ölig wälzte sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit in ihrem gläsernen Käfig und schwappte beim Fahren hin und her. »Doch Gott gab uns Mittel, unser Leiden zu lindern. Ein echter Segen, wenn Sie mich fragen.«

Jacob sah auf die Flasche mit ihrem glänzenden Messingverschluss und dem braunen Etikett, das einen sorglosen Nachmittag auf der Plantage versprach. Er stellte sich vor, wie er halbbetrunken vor Renees Tür steht, eine gute Ausrede für einen Tobsuchtsanfall.

Nein, nicht halbbetrunken. Seit mehr als zehn Jahren war Jacob nicht mal mehr halbbetrunken gewesen.

»Nein, danke«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Smalley.

»Wie Sie meinen. Sagen Sie mal, haben Sie vielleicht demnächst was zu tun für mich?«

Jacob wollte ihm nicht erzählen, dass M&W Ventures Vergangenheit war. Renee sollte es als Erste erfahren, danach würde er es seinem Geschäftspartner erzählen. Vielleicht würde Donald seine Anteile aufkaufen und die Bulldozer weiter mit Erde füttern, würde weiterhin Ziegel aufeinanderstapeln und Pflastersteine verlegen und Monumente des Fortschritts für sein eigenes Ego bauen. Er könnte die Familientradition fortführen, ohne sich vom Stammbaum stören zu lassen. »Ich war lange nicht da«, wich er aus.

»Klar, verstehe.«

Sie fuhren durch ein heruntergekommenes Stadtviertel, vorbei an grauen Lagerhäusern und mit Brettern verschlagenen Läden entlang der stillgelegten Bahnlinie. Für Jacob war diese Gegend schon immer ein Slum gewesen, hektarweise Land, das dringend mal eine Abrissbirne sehen müsste. Einmal hatte er es als Projekt zur Stadtentwicklung durchgerechnet. Als langfristige Investition könnte es sich tragen. Aus der alten Textilfabrik hätte man ein kleines Einkaufszentrum machen können. Man könnte horrende Mieten für kleine Läden verlangen, in denen Körbe und Quilts verkauft würden, die angeblich in Handarbeit in den Appalachen hergestellt wurden, in Wirklichkeit aber aus ausbeuterischer Massenproduktion in Taiwan stammten. Der Kunde kaufte ja doch nur ein Gefühl. In den Gassen der Bergstädtchen wimmelte es nur so von nostalgischen Angeboten für alle, die sich nach den besseren Zeiten zurücksehnten, welche es in Wirklichkeit niemals gegeben hatte.

Zum ersten Mal bemerkte Jacob die Schönheit der zerbrochenen Scheiben, die in der verblassenden Sonne schimmerten. Das Traubenkraut, das in dichten Büschen entlang der schiefen Kettenabsperrung wuchs, hatte den Beton überdauert. Der stinkende braune Bach, trübe vom Öl, das in ihn eingeleitet wurde, trug die Abfälle des Wachstums davon. Hier und da reckte sich ein Lederhülsenbaum in den Himmel, übersät mit trotzigen Dornen.

Smalley schaltete runter und fuhr eine kleine Anhöhe zu einem Privatweg hinauf. Auf einem Holzschild mit einem Fuß aus Feldsteinen stand »Ivy Terrace« geschrieben. Das Schild zeigte eine Landschaft, umrahmt von Kiefern und Stiefmütterchen. Zwischen den Laubbäumen, die das Anwesen säumten, standen die Häuser, an deren Bau Jacob beteiligt gewesen war. Wieder ein Relikt seines falschen Egos, ein höhnischer Zeuge für die Vergänglichkeit ehrgeiziger Träume.

Hinter einer dieser Türen war Renee. Noch so ein höhnischer Zeuge.

»Stop«, sagte Jacob.

Smalley blickte ihn an und legte den Leerlauf ein. Der Pickup wurde langsamer, Jacob öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Er lehnte sich in den Wagen und nahm die Flasche Schnaps aus ihrem Versteck.

»Ein kleiner Segen«, sagte Jacob.

»Nichts für ungut. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie was für mich zu tun haben.«

»Mach ich, Chick.«

»Ich bete für Sie.«

»Das kann nicht schaden.«

Nichts konnte mehr schaden, nun nicht mehr. Smalley wendete den Pickup und fuhr zurück in die Stadt. Jacob steckte die Flasche in die Innentasche seiner Jacke und ging auf die Sträucher zu, deren Anordnung er im Rahmen der Gartengestaltung geplant hatte. Bisher hatte er nie darüber nachgedacht, was für ein gutes Versteck sie eigentlich bieten. Er fand eine Öffnung in einem der Rhododendren und kroch zwischen die verschlungenen Äste. Hier waren schon andere vor ihm gewesen. Leere Bierflaschen, eine Kondomverpackung, eine schmutzige, zerknüllte Pommestüte und eine ganze Ansammlung von Zigarettenkippen markierten die Stelle als das Revier der Heimatlosen. Hier fühlte sich Jacob gleich zu Hause.

Er drehte den Metallverschluss von der Schnapsflasche und prostete dem fernen Himmel zu, der durch die dichten, glänzenden Blätter kaum zu sehen war. »Auf unser gemeinsames Leid!«

Der erste Schluck war angenehm rau. Der zweite war nur noch angenehm.