28. KAPITEL
Karens Handy befand sich in ihrer Handtasche, zusammen mit der Skimaske und tausend anderen Dingen. Sie hatte keine Chance, es zu finden und leise zu stellen, bevor das Geräusch sie verraten würde. Also handelte sie instinktiv. Gebückt schlich sie aus der Werkstatt und warf ihre Tasche gegen die Seitentür, die zum Hinterhof hin offen stand. Das darauffolgende Klappern verriet ihr, dass alles Mögliche herausgeschleudert wurde, als die Tasche zu Boden fiel, aber sie hatte nicht die Zeit, sich darum zu sorgen, was sie verloren haben könnte. Sie war bereits in die Werkstatt zurückgeeilt und versteckte sich hinter der Tür. Jemand kam in die Garage – sie wusste nicht, ob es John oder Robert war. Ihr Handy klingelte immer noch, obwohl es auf den Betonfußboden geknallt war. Sie hörte es rascheln, als jemand sich seinen Weg durch das Chaos bahnte und das Gerät aufhob.
Karen presste eine Hand an ihre Brust, als könnte sie ihren rasenden Herzschlag dadurch beruhigen, und kniff die Augen zusammen. Bitte glaub, ich habe es fallen lassen, als ich weggelaufen bin! Bitte geh raus, um mir nachzulaufen!
„Habt ihr euch wirklich getrennt?“
Robert hatte diese Frage gestellt. Seine Stimme kam von der Tür, die ins Haus führte, also wusste sie, dass es John war, der ihr Handy schließlich zum Schweigen brachte.
„Ja.“ Karen hörte John herumlaufen und vermutete, dass er zur Seitentür ging, um nach ihr zu suchen. „Verdammt.“
„Was ist los?“
„Sie ist weg.“
„Stimmt es also? Das mit Cain und ihr?“
Johns Stimme wurde scharf und zornig. „Stimmt haargenau! Sie hat mit Cain gevögelt.“
Vor Wut riss Karen die Augen und den Mund gleichzeitig auf. Das war nicht wahr! Sie hatte ihn nicht betrogen!
„Wann?“, fragte Robert.
„Vor zwölf Jahren, als Cain in ihrer Klasse war. Da ging es los.“
Karen wimmerte beinahe. Robert hasste sie. Mehr brauchte es nicht, um ihr Schicksal zu besiegeln. Ihre Zukunft in Whiterock war ruiniert.
„Genau wie Amy vermutet hat“, murmelte Robert.
John fluchte. „Wieso hast du mir nichts davon gesagt?“
„Cain hat es abgestritten.“
„Natürlich leugnet er es! Sie haben beide gelogen. Gott, ich hasse sie! Ich werde sie bis an mein Lebensende hassen!“
Eine Träne rann Karen über die Wange. Erst gestern hatte John sie gebeten, ihn zu heiraten. Wie konnte ein Fehler, ein einziger Fehler vor zwölf Jahren, alles zerstören, was er je für sie empfunden hatte?
„Aber … wenn ihr nicht mehr zusammen seid, warum ist sie dann hergekommen?“, fragte Robert.
„Das wüsste ich auch gerne.“ Jemand, vermutlich John, drückte auf den Offner für das Garagentor, und der Antrieb setzte sich in Bewegung. „Ihr Wagen hat sich nicht von der Stelle gerührt.“
„Vielleicht ist sie zu Fuß abgehauen.“
„Muss wohl so sein.“
„Was ist das denn?“ Robert war in die Garage gekommen.
Instinktiv wusste Karen, was Robert gefunden hatte, und hielt den Atem an. Aber John schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. „Sie wird wiederkommen.“
„Sieh mal hier“, sagte Robert. „Wo kommt denn diese Skimaske her?“
Darauf erfolgte eine Reaktion. Sie hörte weitere Schritte, und als John sprach, klang er, als stünde er direkt an der anderen Seite der Rigipswand. „Wo hast du die her?“
„Sie hing halb aus ihrer Tasche raus.“
Keine Antwort.
„Seltsam, was?“, bohrte Robert nach. „Dass sie mitten im Sommer eine Skimaske mit sich herumträgt.“
„Vielleicht hat sie versucht, sie für Cain loszuwerden.“ Es gab einen Augenblick entsetzten Schweigens, bevor Robert reagierte. „Wow. Meinst du wirklich?“
„Du weißt doch, welche Wirkung er auf Frauen hat“, sagte John. „Sie würden alles für ihn tun.“
Cains Haus war dunkel und verwaist. Die Hunde waren verschwunden, aber sein Truck stand auf der Auffahrt.
Fast eine Stunde lang saß Sheridan auf der vorderen Veranda und überlegte, ob sie in die Stadt fahren sollte oder nicht. Sie beschloss stattdessen, nachzuschauen, ob sie nicht in das Haus gelangen konnte. Sie wusste, dass es ihm nichts ausmachen würde. Er war Hüter dieses Waldes und kümmerte sich um alle, die krank, verletzt oder verängstigt waren.
Sie vermisste ihn und seine Fürsorge.
Sie hängte seine Krawatte, die sie vom Baum bei der Kirche abgenommen hatte, über den Türknauf der Vordertür und ging ums Haus herum. Mehrere Fenster standen offen, um den frischen Wind hereinzulassen. Aber sie wollte bei dem Versuch, durchs Fenster zu klettern, keine Scheiben zerschlagen, und die Hintertür war genauso fest verschlossen wie die vordere. Sie dachte, dass sie vielleicht einen Ersatzschlüssel in der Klinik finden würde, aber die war ebenfalls abgeschlossen. Hier standen nicht einmal die Fenster offen.
Enttäuscht, weil sie ganz umsonst hergekommen war, ging sie zu ihrem Auto zurück. Als sie jedoch die Lichtung verließ, fiel ihr Cains alte Blockhütte ein. Er hatte gesagt, dass er sie gelegentlich benutzte. Vielleicht war er dort. Und selbst wenn nicht, dann war es vielleicht ein guter Zeitpunkt, um den Fundort des Gewehrs einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Nachdem John und Robert gegangen waren, blieb Karen noch mindestens fünfzehn Minuten, wo sie war. Sie hatten das Garagentor wieder geschlossen und das Licht ausgemacht, sodass sie im Dunkeln hockte, keine drei Schritte von der Schaufel entfernt. Inzwischen war Karen überzeugt, dass es die Schaufel war, mit der man Sheridans Grab ausgehoben hatte, und war zu entsetzt, um aus ihrem Versteck herauszukommen. John hatte die Skimaske – er wusste, dass sie sie gefunden hatte. Und Robert glaubte, sie sei ihr aus der Tasche gefallen. Bei all den Vorurteilen und Verdächtigungen, die man Cain entgegenbrachte, und den unzähligen Frauen, die ihn so sehr liebten, würde sie Ned niemals davon überzeugen können, dass sie die Maske in Johns Garage gefunden hatte. John würde behaupten, sie hätte sie für ihren Liebhaber hereingeschmuggelt, so wie er es bereits Robert erklärt hatte, und dass sie ihm eins auswischen wollte, weil er mit ihr Schluss gemacht hatte.
Robert würde ihm Rückendeckung geben. Ohne Zweifel würden sie dasselbe über die Schaufel behaupten. Selbst wenn sie tatsächlich John gehörte, gab es keinen Beweis, dass er der Einzige war, der sie benutzt hatte. Cain hätte sie sich ausgeliehen haben können. Er war in diesem Haus aufgewachsen und hatte immer noch Zugang dazu.
Denk nach! Sie musste einen Plan schmieden, ehe John sich an die Schaufel erinnerte. Ehe er zurückkam, um sich ihrer zu entledigen, und sie unter seiner Werkbank hocken sah.
Aber Karen war zu nervös und verstört, um sich einen großartigen Plan auszudenken. Sie bebte immer noch vor Angst, nachdem sie John letzte Nacht so gewalttätig erlebt hatte. Sie vertraute den Beweisen, aber sie liebte den Mann, für den sie John gehalten hatte, immer noch. In diesem Moment war sie sicher, verrückt zu sein, weil sie ihm solch furchtbare Dinge unterstellte.
Die Zweifel würden sie noch umbringen. Sie musste verschwinden und Cain oder Sheridan erwischen. Jemanden, der ihr Glauben schenken würde.
Sie schnappte sich die Schaufel und schlich vorsichtig weiter. Sie versuchte, keinen Lärm zu machen, als sie sich ihren Weg durch das Durcheinander bahnte. Kurz überlegte sie, ob sie nach ihrem Telefon und ihrem Portemonnaie suchen sollte, aber weil es in der Garage keine Fenster gab, war es viel zu dunkel, um diese kleinen Gegenstände zu erkennen. Für diesen Moment sollte sie die Sachen besser liegen lassen.
Der Hinterhof schien leer zu sein. Sie wartete an der offenen Seitentür und achtete auf Geräusche oder Bewegungen, hörte oder sah jedoch nichts. Sie trat hinaus in die Sonne des Spätnachmittags und wurde nach der Dunkelheit fast geblendet. Im hellen Licht musste sie blinzeln und senkte den Kopf. Zu ihrem Auto konnte sie nicht. Die Schlüssel lagen irgendwo auf dem Fußboden in der Garage, oder John hatte sie genommen. Sie befürchtete Letzteres. Es würde kompliziert werden, aber sie musste irgendwie zu Sheridan ein paar Häuser weiter gelangen, ohne dass John oder Robert sie entdeckten.
Es war nur ein paar Türen weiter. Ich kann es schaffen, sagte sie sich und öffnete das Gartentor. Aber kaum war sie hindurchgegangen, als eine Hand hervorschoss und sie am Ellenbogen packte. Sie kannte diesen Griff so gut, dass sie gar nicht aufzublicken brauchte, um zu wissen, dass es John war.
Die alte Blockhütte war ebenfalls abgeschlossen, aber eines der Fenster war lediglich mit einem Stück Plastik geschützt, das eine zerbrochene Scheibe ersetzte. Ohne Probleme riss Sheridan das Klebeband fort und rollte einen Holzklotz an das Gebäude heran, damit sie hineinklettern konnte, ohne sich zu schneiden. Sie fiel auf den Hintern, war aber ziemlich stolz auf sich, weil sie keine Verletzungen davongetragen hatte.
Sie wischte sich den Schmutz von den Händen, stand auf und sah sich um. Sie war auf dem Holzfußboden im Wohnzimmer gelandet, nicht weit von dem Kanonenofen entfernt. Die Küche befand sich im gleichen Raum. Ein rascher Blick in den hinteren Teil zeigte, dass es zwei Schlafzimmer und ein Badezimmer gab. Beide Schlafzimmer dienten als Stauräume.
Wie erwartet, war die Hütte viel kleiner und einfacher als Cains neues Haus, aber es gab eine Futoncouch, die sich in ein Bett verwandeln ließ. Ein Korb mit Holz stand neben dem Ofen, und auf dem Tresen entdeckte sie ein paar Streichhölzer und einen Wasserkrug. Kein schlechter Platz, um das Lager aufzuschlagen, entschied sie und begann, nach dem Keller zu suchen. Cain hatte ihr erzählt, dass man das Gewehr dort gefunden hatte.
Eine kleine Tür führte vom Küchenbereich in eine Art Schuppen, in dem die Holzvorräte trocken lagerten. Sie steckte den Kopf hinein, kam zu dem Schluss, dass sich in dem Holzstapel vermutlich mehr Spinnen aufhielten, als sie wissen wollte, und wollte gerade wieder den Rückzug antreten, als ihr der Umriss einer schmalen Tür mit einem Riegel auffiel. Sie trat ein paar Holzscheite zur Seite, die vom Stapel heruntergefallen waren, entriegelte die Tür und öffnete sie, bis sie an die Hauswand stieß.
Holzstufen führten hinunter in die Dunkelheit. Kühle feuchte Luft schlug ihr entgegen. Es war eine erfrischende Abwechslung nach dem heißen schwülen Tag, besonders nach der stickigen Enge in der Kirche, und der erdige Geruch war genauso einladend. Nur die Dunkelheit schreckte sie ab. In dieser Blockhütte gab es weder Strom noch fließend Wasser. Sie brauchte eine Taschenlampe.
Sie kehrte in die Küche zurück und durchsuchte die Schränke und Schubladen, bis sie eine gefunden hatte. Der Strahl war schwach, was bedeutete, dass die Batterie fast leer war, aber ein schwacher Strahl war besser als gar keiner. Sie nahm die Lampe mit, als sie zurück in den Schuppen ging und in den nasskalten dunklen Raum unter der Blockhütte hinabstieg.
Karen versuchte, ihren Arm wegzureißen, aber John war zu stark. „Du hältst mich wohl für einen Idioten!“, zischte er.
Wo Robert steckte, wusste sie nicht. Sie konnte ihn nirgends sehen. Sie reagierte automatisch, hob die Schaufel, die sie in der Hand hielt, und schwang sie wie eine Keule.
Das metallene Ende traf Johns Kopf mit einem grauenvollen Geräusch. Offensichtlich hatte sie ihn überrumpelt. Er runzelte die Stirn, verdrehte die Augen und stürzte zu Boden.
Karen hatte keine Ahnung, wie schwer er verletzt war. Aber sie konnte nicht riskieren, dass er wieder aufwachte und sie erneut packte, also wandte sie sich um, um zu fliehen – und rannte genau in Owen hinein, der gerade über den Rasen kam.
„Halt! Was tust du da?“, rief er.
Tränen liefen ihr über die Wangen, ohne dass sie ihnen Beachtung schenkte. Sie wusste, dass sie wie eine Wahnsinnige aussah. Sie hatte die Schaufel losgelassen, nachdem sie John damit geschlagen hatte, und versuchte verzweifelt zu entkommen. „Er … er hat versucht mich umzubringen!“, schrie sie „Und Sheridan Kohl wollte er auch umbringen. Ich … ich habe seine Maske gefunden und die … die Schaufel, und gestern Nacht hat er … hat er mich geschlagen!“
Sie platzte mit allem heraus, aber vielleicht ergab das, was sie sagte, auch gar keinen Sinn. Owen wirkte nicht so entsetzt, wie sie erwartet hätte. Stirnrunzelnd warf er einen Blick auf seinen am Boden liegenden Vater, dann ging er zurück zu seinem Truck.
„Komm!“, sagte er. „Ich bringe dich zur Polizei.“
Handgeschreinerte Regale säumten die Wände im Keller, gefüllt mit Wein, eingelegten Tomaten und Essiggurken. Sheridan war ziemlich sicher, dass Cain die Lebensmittel nicht selbst eingemacht hatte. Vermutlich hatte er alles von Ron Piper gekauft, der eine Farm außerhalb der Stadt besaß. Ron baute mehr Lebensmittel an, als seine Familie essen konnte, also verkauften seine Frau und die Kinder die Produkte den ganzen Sommer über an einem kleinen Stand am Highway. Was sie nicht verkauften, kochten Sandy und die Mädchen ein. Manche ihrer Rezepte waren legendär, sodass sie dazu übergegangen waren, die eingemachten Lebensmittel ebenfalls zu verkaufen.
Sheridan nahm eines der Gläser zur Hand und hielt es vor die Taschenlampe. Es trug tatsächlich das Etikett der Piper-Farm. Cain hatte seine Vorräte schon stark geplündert, besonders viel war nicht mehr übrig. Oder, was noch wahrscheinlicher war, die Jungs, die das Gewehr gefunden hatten, hatten nur so zum Spaß ein paar Gläser kaputt gemacht. Hier unten roch es nach verdorbenen Lebensmitteln.
Sheridan leuchtete mit der Taschenlampe in die Ecke und versuchte herauszufinden, wo das Gewehr gelegen hatte. Vielleicht hatte Owen es einfach nur gegen eines der Regale gelehnt. Aber das ergab keinen Sinn. Hätte er nicht viel eher versucht, es zu verstecken?
Dann entdeckte sie eine Stelle im Schmutz, in der jemand gegraben hatte. War das Gewehr verscharrt gewesen? Angesichts der erst kürzlich aufgewühlten Erde schien das durchaus möglich. Aber warum sollten zwei Teenager anfangen, zufällig im Keller herumzugraben?
Der Fußboden über ihr knackte. Oder hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet? Sheridan hielt den Atem an und lauschte. Nach allem, was geschehen war, war sie ziemlich schreckhaft geworden. Ihr lief ein kalter Schauder über den Rücken. Hatte sie etwa Gesellschaft bekommen?
Nein. Sie hatte nur eine blühende Fantasie.
Aber dann hörte sie ein weiteres Knarren und dann noch eines.
Jemand ging durch die Küche.
Karen hatte keine Ahnung, dass sie in Schwierigkeiten steckte, bis Owen rechts statt links abbog. Er fuhr aus dem Viertel heraus, in dem sein Vater lebte, und lenkte den Wagen auf die Hauptstraße.
„Wo willst du hin?“, fragte sie.
Er verriegelte die Türen. „Wir haben ein Problem.“
Sie wusste, dass sie ein Problem hatten. Sein Vater war ein Mörder. Sie mussten direkt zum Polizeirevier fahren! Stattdessen fuhren sie raus in die Berge. Warum? In dieser Richtung gab es nichts außer Wildnis.
Und dann beschlich sie ein ungutes Gefühl. Owen hatte seinen Vater auf dem Boden liegen lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihm zu helfen. Er hatte nicht mal überprüft, ob John noch atmete! Er hatte sich angehört, was sie zu sagen hatte, ohne es infrage zu stellen, obwohl es sich völlig verrückt angehört haben musste. Stattdessen hatte er seelenruhig die Schaufel aufgehoben und sie auf die Ladefläche des Trucks gelegt.
Karen drehte sich um. Ja, da lag sie. Vielleicht hätte sie das von Anfang an warnen sollen, aber sie war von ihrer Entdeckung so erschüttert gewesen, dass sie geglaubt hatte, Owen erginge es genauso – und er sei davon überzeugt, dass das Beweisstück den Behörden übergeben werden musste.
„Bring mich zurück zur Stadt!“
Er sah sie nicht an. „Ich fürchte, das geht nicht.“
Sie warf erneut einen Blick auf die Schaufel. Sie war sicher, dass man sie benutzt hatte, um Sheridans Grab auszuheben. Sollte sie jetzt dazu dienen, ihr Grab zu schaufeln? „Warum nicht?“, fragte sie.
„Weil du herumgeschnüffelt hast. Das hast du doch, Karen, oder? Du hast deine Nase in Dinge gesteckt, die dich nichts angehen.“
„Das war deine Maske!“
Keine Antwort.
„Du hast die Sachen in der Werkstatt deines Vaters versteckt, damit man sie nicht auf deinem Grundstück findet.“
„Ich wollte ihm die Sache nicht anhängen“, erwiderte Owen, als würde ihn dieser Vorwurf stärker treffen als die Anschuldigung, einen Mordversuch auf dem Gewissen zu haben. „Ich dachte, dort würde nie jemand nachsehen. Ich meine, wer würde ihn schon verdächtigen, irgendeinem Menschen wehzutun?“
Sie hatte es getan. Sie hatte erlebt, wie John auf die Neuigkeit über sie und Cain reagiert hatte, und hatte das Schlimmste vermutet.
„Wer würde sich schon über diesen riesigen Müllhaufen Gedanken machen?“, fuhr Owen fort. „Ich habe keine Ahnung, wie er in so einer Umgebung leben kann. Er und Robert.“ Er schüttelte den Kopf.
„Und Cain?“
„Cain ist nicht wie der Rest von uns. Er ist nicht mit uns verwandt.“
„Hast du deshalb kein Problem damit, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben?“
„Er hat es verdient. Er hat es herausgefordert.“
Sie überlegte, wie rasch sie die Tür entriegeln und öffnen könnte. Würde sie überhaupt eine Chance haben, wenn sie hinaussprang? Sie fuhren immer schneller, mindestens vierzig Meilen pro Stunde. Aber sobald sie den kurvigen Teil der Straße erreichten, würde er vom Gas gehen müssen. Das war wahrscheinlich ihre einzige Möglichkeit. Die Straße war gesäumt mit Felsen, Ästen und Pinienzapfen, mit Bäumen und Baumstümpfen. Wenn sie Glück hatte, würde sie den Sturz vielleicht überleben.
„Denk nicht einmal darüber nach!“, warnte er sie sanft.
Karen öffnete ihren Sicherheitsgurt. „Warum nicht? Es ist vielleicht meine einzige Chance.“
„Ich werde dich trotzdem finden und töten.“
„Was war mit Jason?“ Sie wollte ihn ablenken und zum Reden bringen, solange sie auf eine weitere Fluchtmöglichkeit wartete. „Hast du ihn ebenfalls umgebracht?“
Er antwortete nicht.
„Hast du Jason erschossen?“, wiederholte sie.
„Cain hat Jason erschossen.“
Sie rutschte ein winziges Stück näher an die Tür heran. „Das stimmt nicht, und das weißt du auch. Cain hat niemanden erschossen.“
Er blickte sie schräg von der Seite an. „Natürlich würde ich nie von dir erwarten, dass du mir glaubst. Du gehörst schließlich auch zu seinen zahlreichen Eroberungen. Mein Dad hat es mir auf der Beerdigung erzählt. Er sagte, du seist Cain ebenso verfallen wie Amy. Und Sheridan. Ich dachte, sie wäre anders, zu gut für ihn. Aber nein … Es hat sich herausgestellt, dass sie nicht besser ist als der Rest.“
„Hast du es darum getan? Du warst sauer, weil Cain mit Sheridan geschlafen hat?“
„Nicht sauer. Ich war von ihr enttäuscht. Ich hatte gehofft, dass irgendeine ihn schließlich in seine Schranken weisen würde. Aber mit der Schießerei hatte Sheridan nichts zu tun.“
„Wer dann?“
Keine Antwort.
„Bitte sag es mir!“
„Du würdest es doch nicht verstehen, selbst wenn ich es täte. Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, im Schatten eines anderen zu leben.“
„Cain wirft einen großen Schatten.“
„Cain?“ Er lachte. „Cains Schatten war nicht halb so groß wie der von Jason.“
„Du warst auf Jason eifersüchtig?“
Seine Fingerknöchel wurden weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad. „Das wärst du auch gewesen, wenn du erlebt hättest, wie mein Vater ihn angebetet hat. Bei Robert konnte ich verstehen, warum er bei einem Vergleich stets den Kürzeren zog, er hat nie etwas richtig gemacht. Aber Jason war nicht halb so klug wie ich. Ich habe zwei Klassen übersprungen, verdammt noch mal! Mit zweiundzwanzig hatte ich meinen Abschluss in Medizin. Glaubst du etwa, mein Vater wäre stolz darauf gewesen?“
„Er ist stolz auf dich, stolz auf das, was du geleistet hast. Warum willst du alles zerstören? Warum hast du ihm das Einzige genommen, das er …“ Sie verstummte, aber Owen beendete den Satz für sie.
„Das Einzige, das er wirklich liebte?“ Er lachte bitter. „Du bist klüger, als ich dachte.“
„Nein. Ich kann nicht verstehen, wie ein Bruder den anderen töten kann, egal, was sein Vater denkt! Mit dir stimmt doch was nicht, Owen. Du brauchst Hilfe.“
Er sah verletzt aus. „Es gibt keinen Grund, unhöflich zu werden. Es ist nichts Persönliches.“
„Und ob mein Leben etwas Persönliches ist!“
Er lächelte. „Gute Retourkutsche! In solchen Dingen war ich nie sehr gut. Vielleicht mochte Dad Jason deswegen lieber. Jason wusste immer eine schlagfertige Antwort.“
„Vielleicht mochte er ihn lieber, weil er kein Psychopath war.“
„Du machst mich wütend!“ Seine Stimme klang genauso monoton wie immer.
Karen spürte das Metall des Türgriffs an ihrem Oberarm. „Wenn du Jason treffen wolltest, warum hast du dann auch auf Sheridan geschossen?“
„Ich durfte es nicht zu offensichtlich machen. So blöd bin ich nicht.“
„Aber als sie wieder zurück war, hast du sie verfolgt.“
„Das war Neds Schuld. Er sagte mir, sie wüsste etwas, das sie ihm nicht erzählt hatte. Er meinte, dass sie den Fall lösen würde. Ich mache mir immer noch Sorgen, dass das stimmen könnte. Man kann nie wissen, durch welche Kleinigkeit die Wahrheit schließlich ans Licht kommt. Wenn sie sich an etwas erinnert, könnte ich Schwierigkeiten bekommen.“
„Also hast du beschlossen, dafür zu sorgen, dass sie sich an gar nichts mehr erinnern kann.“
„Ich habe jetzt eine Familie“, erklärte er. „Und eine erfolgreiche Praxis. Ich kann nicht in den Knast gehen!“
„Und was ist mit Amy?“
Bedauern spiegelte sich auf seinem Gesicht. „Amy war im Weg. Ich wollte sie nicht umbringen.“
„Dieses Mal werden sie dich erwischen, Owen! Robert war zu Hause, als wir losgefahren sind. Er hat uns vielleicht zusammen gesehen.“
„Ganz sicher hat er das. Er überwacht Dads gesamtes Grundstück mit Kameras. Hast du das nicht gewusst?“
Karen war überrascht. Bei ihren vielen Besuchen waren ihr nie irgendwelche Kameras aufgefallen. Aber es erklärte, warum Robert so sicher gewesen war, dass sie ins Haus und nicht zu den Nachbarn gegangen war. „Wofür sind die Kameras gut?“
„Sie schützen das Haus vor Einbrechern. Dad hat den Großteil seines Geldes in Silber angelegt und hockt in seinem Haus darauf. Für den Fall, dass du es noch nicht gemerkt haben solltest.“ Er stellte den Rückspiegel neu ein. „Sie sind beide ein bisschen verschroben, wenn du mich fragst. Aber ich werde gewiss nicht mit dem Finger auf sie zeigen.“
Sehnsüchtig starrte Karen auf den vorbeifliegenden Randstreifen. „Verschroben?“, wiederholte sie schwach.
„Das war ein Witz“, sagte er. „Lustig, was?“
Karen fand es ganz und gar nicht lustig. Sie fand es entsetzlich. „Wenn du mir etwas antust, wirst du ins Gefängnis kommen. Dabei willst du doch genau das vermeiden.“
Er lächelte sie zuversichtlich an. „Du bist ganz allein in meinen Truck gestiegen. Ich habe dich schließlich nicht hineingezerrt oder so. Und die Kameras liefern den Beweis.“
„Sie beweisen auch, dass du der letzte Mensch warst, der mich gesehen hat, bevor ich verschwunden bin.“
„Man wird mich also fragen, warum. Und ich werde einfach erklären, dass du mit meinem Vater gekämpft hast und ich dich gebremst habe, ehe du die Schaufel noch einmal schwingen konntest.“
„So einfach ist das nicht! Sie werden wissen wollen, warum du dich nicht um John gekümmert hast.“
„Das ist nicht besonders schwer. Ich werde sagen, dass ich sehen konnte, dass er nicht ernsthaft verletzt war. Sie werden mir glauben, weil ich Arzt bin. Außerdem war Robert ja da.“
Wahrscheinlich würde man ihm tatsächlich glauben. Für Ned und die Polizei hatte er kein Motiv. Sie und Owen waren immer gut miteinander ausgekommen. Es war Robert, der sie nie gemocht hatte.
„Selbst wenn man mich verdächtigt, müsste man es mir erst einmal nachweisen“, fügte er hinzu.
Und er war zu klug, um irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Er war bereits bei zwei Morden ungeschoren davongekommen.
Vor ihnen fuhr ein anderer Truck, der wesentlich langsamer war, und Owen bremste ab.
„Willst du ihn nicht überholen?“ Karen wollte, dass er etwas tat, das die Aufmerksamkeit des anderen Fahrers erregen würde. Wenn der Fahrer zu ihr hinüberblickte, könnte sie ihm vielleicht ein Zeichen geben.
„Ich habe es nicht eilig“, sagte er. „Man wird nachlässig, wenn man sich hetzt. Ich gehöre zu den Menschen, die sich gerne Zeit lassen.“
Ihre Finger zuckten, am liebsten hätte sie den Türgriff gepackt. Aber der Truck war immer noch zu schnell. Sie musste Owen entweder dazu bringen, schneller zu fahren, damit sie die Aufmerksamkeit des Fahrers vor ihnen erregen konnte, oder langsamer zu werden, damit sie herausspringen konnte. „Wo fahren wir hin?“
„Nicht weit. Irgendeine kleine Seitenstraße reicht völlig.“
Panik erfasste Karen. Er hatte tatsächlich vor, sie umzubringen. Und er hatte nicht einmal die geringsten Gewissensbisse deswegen. Sie konnte sich vorstellen, dass er über sie ebenso distanziert reden würde wie über Amy. Es war schade, aber sie hat die Schaufel und die Skimaske gefunden, also musste ich mich um sie kümmern …
Sie griff in das Lenkrad und riss es nach rechts. Owen schrie auf und versuchte, sie abzuwehren und den Wagen wieder auf die Mitte der Straße zu bringen.
Karen hörte das Quietschen der Bremsen, roch das heiße Gummi, als sie sich drehten. Dann sah sie den steilen Abhang bis zum Fluss unter sich, kurz bevor er den Truck wieder unter Kontrolle bekam.
Als der Wagen in der Mitte der Straße zum Stehen kam, atmeten beide heftig. Zum Glück war niemand hinter ihnen gewesen. Dieser Umstand schien Karen wie ein gutes Omen, und geistesgegenwärtig tastete sie nach dem Türgriff. Aber Owen packte sie und trat das Gaspedal durch. Sie schössen vorwärts und nahmen rasch wieder Geschwindigkeit auf, während sie miteinander rangen.
Irgendwie schaffte er es, sich ihrer zu erwehren, weiterzufahren und eine Waffe unter dem Sitz hervorzuziehen, alles fast zur gleichen Zeit.
Karens Herz klopfte ihr bis zur Kehle. Sie sah ihre Mutter über sich stehen und sie küssen, ehe sie sie in den Kindergarten schickte, den Direktor ihrer Highschool, als sie ihr Abschlusszeugnis erhielt, ihren Freund auf dem College, der sie lachend unter einem Baum kitzelte, Cain, der malend in ihrer Klasse saß, John, der sie lächelnd um ihre Hand bat. Die Bilder stürzten in dem Sekundenbruchteil auf sie ein, als sie begriff, dass sie sterben würde.
Dann ging die Pistole los.