15. KAPITEL

Mist! Sie hatte wieder denselben Fehler gemacht. Nach zwölf Jahren. Hatte rückhaltlos alles hergegeben, genau wie damals. Jetzt lag Cain halb auf ihr, seine nackte Haut bedeckt von winzigen glänzenden Schweißperlen. Sein Herz raste in seiner Brust, während er in tiefen Zügen ein- und ausatmete.

Ein bisschen spät, um Nein zu sagen.

Ich bin eine Närrin! Was hat dieser Mann nur an sich? fragte Sheridan sich. Bei ihm konnte sie nicht klar denken, kluge Entscheidungen fällen oder auch nur die Kleidung anbehalten.

„Du hättest mir keinen Knutschfleck machen sollen“, beschwerte sie sich.

Er lachte leise, und sie spürte seinen warmen Atem an der Schulter. „Du hast schon so viele blaue Flecken, dass es niemandem auffallen wird.“

„Machst du Witze? Jeder wird es merken.“

„Mmmm …“, murmelte er träge. „Geschieht dir recht.“

„Warum?“

„Du hast mich dazu verführt.“

„Nein, habe ich nicht!“

„Doch, hast du. Du hast mich gezwungen …“, er küsste das Stück Haut, das seinen Lippen am nächsten war, „… verzweifelte Maßnahmen zu ergreifen.“

Sheridan wünschte, sie könne wütend sein. Aber das war sie nicht. Sie war noch ganz gefangen von diesem seligen Nachklingen ihres Liebesspiels und wollte nichts anderes, als sich an seiner Seite zusammenzurollen und einzuschlafen.

Er hob den Kopf, um sie anzusehen. „Gib’s zu – du bist froh.“ Er versuchte, sie auf die Lippen zu küssen, aber sie wich ihm erneut aus.

Sein Lächeln verschwand, und seine Stimmung wechselte von zufrieden, sogar glücklich, zu argwöhnisch. „Warum willst du mich nicht küssen?“

Sie antwortete nicht sofort, sie war sich selbst nicht sicher. Es schien nur der einzige Weg zu sein, sich einen Rest ihres Widerstandes zu bewahren. „Du bist zu eingebildet“, beschwerte sie sich schließlich. „Ich gehe ins Bett.“

Er blieb auf ihr liegen. „Aber mit mir, oder?“

„Allein.“ Sie brauchte Zeit und Raum, um die Barrikaden wieder zu errichten, die er gerade eingerissen hatte, und sich selbst zu überreden, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Es würde nicht einfach werden. Das war gerade die beste sexuelle Erfahrung ihres Lebens gewesen – wahrscheinlich weil sie nie zuvor etwas so sehr gewollt hatte.

Manche Dinge ändern sich nie …

Sein Gesichtsausdruck wurde undurchdringlich. „Gut. Wie du willst.“ Er bewegte sie, sodass sie sich unter ihm hervorwinden konnte. Doch als er begriff, dass sie tatsächlich gehen wollte, stand er plötzlich hinter ihr, hob sie sich über die Schulter und trug sie in sein eigenes Schlafzimmer.

„Was soll das?“

„Ich bringe dich ins Bett.“

„Das sehe ich. Die Frage ist … warum?“

„Weil ich zu müde bin, um mir um dich Sorgen zu machen.“

„Was willst du damit sagen?“

Er manövrierte sie vorsichtig durch die Tür, damit sie nirgendwo anstieß. „Glaubst du, ich will aufwachen und dich auf der Straße finden wie Amy?“

„Ist doch eine gute Methode … um alte Geliebte … loszuwerden.“

Auf der Stelle wusste sie, dass sie zu weit gegangen war. Sie war entsetzt über ihre unbedachte Bemerkung.

Er geriet ins Straucheln. „Wenn ich es mir recht überlege …“, er ließ sie auf das Bett fallen, „… zieh dir lieber was an!

Sheridan ging zurück ins Wohnzimmer und zog ihr Tanktop an. An der Tür zu Cains Zimmer blieb sie stehen. Wenn sie jetzt in ihr eigenes Bett ginge, würde er sie gewiss nicht aufhalten, aber Amys Tod hatte ihn arg mitgenommen. Sie war ebenfalls aufgewühlt, sie war durcheinander und traurig und viel zu verletzlich.

Die Wahrheit war, dass sie genauso wenig allein sein wollte wie er.

Schließlich schluckte sie ihren Stolz genügend hinunter, um sein Zimmer zu betreten und zu ihm ins Bett zu schlüpfen. Sie hoffte, er würde etwas sagen, was ihr die Gelegenheit gäbe, sich zu entschuldigen – dass er vielleicht einen Arm ausstrecken und sie näher an sich heranziehen würde. Aber das tat er nicht. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich etwas anzuziehen, doch für den Rest der Nacht rührte er sie nicht an.

Sheridan schlug die Augen auf und starrte auf die großen grünen Ziffern von Cains Wecker. Es war nach acht – nicht besonders früh. Aber sie hatte auch nicht so lange geschlafen, wie sie eigentlich wollte, nicht nach der letzten Nacht. War Amy wirklich tot? Tot wie Jason? Für immer fort?

Es schien unfassbar.

Das Telefon klingelte. Cain rührte sich, dann beugte er sich über sie und griff nach dem Hörer. Seine nackte Brust berührte ihren Arm, aber sie wusste, dass er nicht mehr nackt war. Während der Nacht war er mindestens drei Mal aufgestanden, um nach seinen Hunden zu sehen, und war in Boxershorts zurück ins Bett gekommen. „Hallo? … Jetzt sofort? … Wir kommen.“

Sie spürte vorübergehend das Gewicht seines Körpers auf sich, als er das Telefon in die Ladeschale zurückstellte, aber die Berührung schien absolut keine Wirkung auf ihn zu haben. Offensichtlich war er immer noch wütend auf sie.

„Was ist los?“, fragte sie, als er aufstand.

„Wir müssen runter zum Polizeirevier und eine offizielle Aussage machen.“ Er ging hinaus in den Flur und ins Badezimmer.

„War das Ned?“, rief sie hinter ihm her.

„Nein, Ian Peterson. Ich schätze, Ned ist noch beim Bestattungsinstitut.“

Bestattungsinstitut. Es war also tatsächlich geschehen. Amy war erschossen worden.

Während Sheridan der Dusche lauschte, hörte sie erleichtert die Hunde draußen bellen. Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil Cain so oft aufgestanden war.

Schließlich beschloss sie, im Teich zu baden, anstatt auf die Gelegenheit zu warten, Cains einziges Badezimmer zu benutzen. Sie musste aus dem Haus raus, um sich zu vergewissern, dass ihr nicht die ganze Welt feindselig gegenüberstand. Dieser Moment war der beste Zeitpunkt dafür. Die Polizei war vermutlich immer noch am Tatort, weniger als eine Meile entfernt. Der Mörder müsste ein Idiot sein, wenn er sich jetzt nähern würde. Und sie wusste bereits, dass der Killer nicht dumm war.

Für alle Fälle nahm sie Cains Gewehr mit, holte ihr Waschzeug aus dem Koffer und ein Handtuch aus dem Wäscheschrank und ging nach draußen. Bevor sie zum Teich hinüberging, sah sie nach den Hunden.

„Na, ihr Racker!“ Sie verhakte die Finger am Maschendrahtzaun, während sie zu ihnen hinüberschaute. Bis auf Maximilian schienen sie alle wiederhergestellt zu sein. Max war nicht besonders lebhaft, während Koda und Quixote eindeutig putzmunter waren. Er lag auf dem Bauch, die Schnauze auf den Vorderpfoten, und beobachtete sie. Koda und Quixote wedelten mit den Schwänzen und bettelten sie an, sie rauszulassen.

Sie nahm eine der Leinen, die über dem Zaun hingen, betrat den Zwinger und klinkte die Leine an Kodas Halsband an. Sie hatte eine gute Waffe, aber es konnte nicht schaden, auch einen guten Alarm dabeizuhaben. „Kommst du mit auf eine kurze Runde, alter Junge?“

Koda bellte aufgeregt, um seine Zustimmung zu bekunden, und sie musste Quixote davon abhalten, mit hinauszuschlüpfen, als sie durch das Tor gingen. „Dich nehme ich nächstes Mal mit“, versprach sie.

Koda wollte rennen, aber für solche Anstrengung war Sheridan noch nicht fit genug. Trotzdem fühlte sie sich kräftiger. Es schien, als hätte ihre Genesung in der letzten Nacht Riesenfortschritte gemacht. Zumindest die Sehnsucht nach einem gesunden Körper war wiedererwacht. Und ihr war klar geworden, dass sie rasch wieder gesund werden musste, ehe sie erneut verletzt wurde.

Auf dem Weg zum Teich musterte sie den sie umgebenden Wald. Es schien, als würde der Mörder einfach so davonkommen. Zuerst Jason, dann der Angriff auf sie und jetzt Cains Exfrau …

Was ihre Freunde wohl dazu sagen würden, wenn sie Bescheid wüssten? Sie musste sie anrufen! Morgen. Morgen wäre ein besserer Tag, um es ihnen zu erzählen. Sie würden zwar außer sich sein – insbesondere Jonathan –, aber im Moment schaffte sie es einfach noch nicht.

Sobald sie den Teich erreicht hatte, band sie Koda an einen Baum, legte das Gewehr auf einen Stein, wo sie es schnell erreichen konnte, und ließ das Handtuch fallen, das sie sich um die Hüfte geschlungen hatte. Unter der perfekten Sonne, die so gelb und rund wie ein Eigelb am Himmel klebte, lösten sich ihre Gedanken über Amy und ihr Verdruss darüber, dass sie sich schon wieder mit Cain eingelassen hatte, in Luft auf.

Der plätschernde Bach war das einzige Geräusch, und der warme Wind liebkoste ihre Haut, als sie ins Wasser watete. Koda saß im Schatten und beobachtete sie.

„Alles klar bei dir, Koda?“

Er bellte, und sie lächelte. „Braver Junge.“

Sie wusste, dass sie bald auf dem Polizeirevier sein mussten, also nahm sie nur ein rasches Bad und wollte gerade aus dem Wasser steigen, als Koda auf die Beine sprang und an der Leine zu zerren begann. Angst ließ das Adrenalin in ihr aufwallen, als Sheridan zum Gewehr rannte. Doch dann stellte sie fest, dass es unnötig war. Es war Cain. Er kam über die Lichtung, trug eine saubere Jeans und ein rotes T-Shirt. Sein Haar war immer noch nass.

„Hättest du mir nicht wenigstens Bescheid sagen können?“, sagte er. Offensichtlich war er nicht gerade erfreut, dass sie das Haus verlassen hatte, ohne es ihm zu sagen.

Mit einem Nicken deutete sie auf das Gewehr. „Ich habe Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.“

Cain stritt nicht mit ihr. Er bückte sich und streichelte seinen Hund. Sie beschloss, aus dem Wasser zu steigen, solange er beschäftigt war, aber er war nicht lange genug abgelenkt.

Als sie aufschaute, begegnete sie seinem hintergründigen Blick und streckte den Rücken durch. Das Wasser lief an ihr herunter. Ihr Shirt musste beinahe transparent sein. „Du starrst mich an“, hauchte sie … und hoffte, dass er noch mehr tun würde. Sie malte sich aus, wie er auf sie zukäme und sie in die Arme nähme, wie er es gestern Abend getan hatte. Aber das tat er nicht.

„Du solltest etwas tragen, das den Knutschfleck verdeckt“, sagte er. Dann machte er Kodas Leine vom Baum los.

Letzte Nacht hatte sich etwas zwischen ihnen verändert -aber wie sehr? Cain war unnahbar und auf der Hut. Und sie wusste, dass er sie nicht noch einmal berühren würde. Es sei denn, sie bat ihn darum.

Sheridan hatte nichts Hochgeschlossenes dabei, also musste sie auf den farbigen Schal zurückgreifen, um Cains Knutschfleck zu verstecken. Sie betrachtete sich im Spiegel und fragte sich, ob der violett-rote Schal zu ihrem pinkfarbenen Shirt mit Spaghettiträgern, dem pink-roten Stufenrock und den Sandalen passte. Doch schließlich beschloss sie, dass das keine Rolle spielte. Der Schal war alles, was sie hatte, um den Beweis, dass sie sich geliebt hatten, zu verstecken. Ihr stand ein anstrengendes Treffen bevor. Sie wollte nicht auf dem Polizeirevier aufkreuzen, nur damit Ned und alle anderen den Knutschfleck bemerkten und sofort wussten, was er zu bedeuten hatte.

„Ich bin so weit“, sagte sie und ging ins Wohnzimmer.

Zumindest sah sie besser aus als je zuvor, seit sie in Whiterock angekommen war. Die blauen Flecken verblassten langsam. Doch Cain sah sie kaum an. Er reichte ihr einen Teller mit Rührei und Toast und sagte einfach: „Frühstück.“

Er ließ sie im Truck essen und sagte kein Wort, bis sie beim Polizeirevier von Whiterock ankamen. Dann fluchte er leise.

„Was ist los?“, fragte sie.

Mit einem Nicken deutete er auf den alten braunen Kombi. „Mein Stiefvater ist hier.“

„Warum?“

„Ich kann es mir nur denken“, sagte er und stieg aus dem Truck.

Sheridan folgte ihm hinein. Dort saß John Wyatt und sah wesentlich besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Schläfen waren ergraut, und er hatte mehr Falten um die Augen und die Mundwinkel als früher, doch mit seinen gleichmäßigen Zügen war er immer noch attraktiv. Für einen Mann in den Fünfzigern hatte er eine gute Konstitution.

„Cain, danke, dass du gekommen bist.“

Sheridan hatte den Polizeibeamten gar nicht bemerkt, der sie begrüßt hatte, doch sein Namensschild sagte ihr, dass sie Ian Peterson vor sich hatte, denjenigen, der Cain angerufen hatte.

„Kein Problem.“ Cain warf einen raschen Blick auf seinen Stiefvater, der aufgestanden war, aber sie umarmten sich nicht oder schüttelten sich auch nur die Hände. Sie tauschten lediglieh ein knappes Nicken zur Begrüßung, dann konzentrierte Cain sich erneut auf Ian.

„Was brauchst du?“

„Ich würde euch beiden gerne ein paar Fragen stellen, wenn es euch nichts ausmacht.“

„Und wenn wir Nein sagen?“, fragte Cain.

„Dann würden wir denken, ihr hättet Grund dazu.“

„Du glaubst doch so oder so, ich hätte was damit zu tun“, sagte Cain, doch er bedeutete Sheridan, dass er ihr den Vortritt ließ, und der Polizist führte sie in Neds Büro, wo sie auf einem der Besucherstühle Platz nahm. Das Revier war nicht groß genug für ein eigenes Verhörzimmer.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, setzte Peterson sich an Neds Schreibtisch. „Ich habe gehört, Sie haben vor einer Dekade oder so ebenfalls hier gelebt?“

Sie stellte ihre Tasche zu ihren Füßen ab. „Das ist richtig.“

Er hatte einen Stenoblock vor sich liegen, auf dem er das Datum und ihren Namen notierte. „Sie und Cain Granger hatten in dieser Zeit eine sexuelle Beziehung, ist das ebenfalls korrekt?“

Sheridan faltete die Hände auf ihrem Schoß und drückte den Rücken durch. „Nicht ganz. Wir haben ein Mal miteinander geschlafen, und das hatte nichts mit dem zu tun, was davor oder danach geschehen ist.“

„Aber kurz darauf wurde sein Stiefbruder erschossen, und zwar innerhalb von …“ Er öffnete eine Akte, die ebenfalls auf dem Tisch bereitlag, aber Sheridan lieferte ihm die Information, ehe er sich durch den Inhalt wühlte.

„Sechs Wochen.“

„Und anschließend sind Sie mit Ihrer Familie umgezogen?

„Zwei Monate später.“

„Hatten Sie schon vor der Schießerei geplant, die Stadt zu verlassen?“

„Nein. Als der Mann, der versucht hatte, mich umzubringen, nicht gefasst wurde, fürchteten meine Eltern um meine Sicherheit und beschlossen fortzuziehen.

„Sind Sie danach mit Cain Granger in Kontakt geblieben?“

„Nein.“

„Überhaupt nicht?“

„Überhaupt nicht.“

„Können Sie sich an irgendwas von dem Mann mit dem Gewehr am Rocky Point erinnern?“

„An nichts, das ich nicht schon zu Protokoll gegeben hätte. Sonst hätte ich angerufen und es gemeldet. Ich will, dass der Mann, der auf mich geschossen hat, verhaftet wird. Genauso sehr wie Mr Wyatt oder sonst jeder.“

„Ich bin sicher, dass Sie das möchten.“ Er legte die Akte beiseite und konzentrierte sich auf seinen Stenoblock. „Wie gut kannten Sie Amy Smith?“

„Ich kannte sie von der Highschool, aber wir hatten nichts miteinander zu tun.“

„Haben Sie sie seit Ihrer Rückkehr in die Stadt gesehen?“

„Ja, zwei Mal.“

„War Cain bei einer dieser Begegnungen zugegen?“

„Bei beiden.“

„Und trotzdem haben Sie keine Beziehung mit Cain Granger.

Der Knutschfleck unter dem Schal schien zu brennen. „Er ist so freundlich, sich um mich zu kümmern, während ich mich erhole. Das ist alles.“

„Aus reiner Herzensgüte.“

„Ja“, erwiderte sie und starrte ihn an.

„Sind Ihnen irgendwelche Anzeichen von Feindseligkeit zwischen Cain und seiner Exfrau bei einem dieser Treffen aufgefallen?“, änderte er seine Taktik.

„Nichts von dem, wonach Sie offensichtlich suchen.“

Er hob den Blick von dem linierten Papier vor sich. Seine Augen waren haselnussbraun. „Bitte beantworten Sie nur meine Frage.“

„Amy hat Cain immer noch geliebt. Das führte zu einer Spannung zwischen ihnen, sobald sie zusammen waren.“

„Und das wissen Sie, obwohl Sie vor zwölf Jahren von hier fortgegangen sind?“

Sie spürte die Loyalität, die Peterson seiner getöteten Kollegin und seinem Chef entgegenbrachte. „Für mich war es offensichtlich.“

„In zwei kurzen Treffen?“

„Das sah man in fünf Sekunden“, erwiderte sie und sah ihn scharf an.

„Wäre es angemessen, zu sagen, dass Cain seine Exfrau nicht mochte?“

„So würde ich es nicht nennen. Ich glaube, er wollte einfach, dass sie endlich mit der Vergangenheit abschließt und ihn in Ruhe lässt.“

„Aber das hat sie nicht getan.“

„Nein.“

„Also hat er sie umgebracht?“, fragte er leise.

Sheridan wartete ein paar Herzschläge ab, um ihrer Antwort mehr Wirkung zu verleihen. „Nein.“

Peterson legte den Kopf schräg. „Woher wissen Sie das?“

„Weil er an dem Abend, als es passiert ist, mit mir zusammen war. Wir spielten Poker, bis ihm auffiel, dass die Hunde ungewöhnlich ruhig waren. Er ging nach draußen, um nach ihnen zu sehen, und dann hörte ich den ersten Schuss.“

„Sie erinnern sich nicht, ob Amy an die Tür gekommen ist? Oder vielleicht nach Cain gerufen hat?“

„Nein. Ich habe Stimmen draußen gehört, aber nur ganz kurz. Ich hatte keine Ahnung, dass es Amy war.“

„War das vor oder nach dem Schuss?“

„Davor.“

„Was geschah dann?“

„Ein paar Minuten lang gar nichts. Dann gab es noch einen Schuss.“

„Wann kehrte Cain zum Haus zurück?“

Sheridans Finger im Schoß verkrampften sich. „Nach dem zweiten Schuss.“

„Wie lange danach?“

„Zehn, fünfzehn Minuten.“

„Was, glauben Sie, hat er während dieser Zeit gemacht?“

Sheridan erinnerte sich, dass sie gesehen hatte, wie Cain auf die Lichtung trat, bedeckt mit Blut, erinnerte sich an das Entsetzen, das sie erfasst hatte, bis sie begriff, dass er unverletzt war. Sie hatte bereits seinen Stiefbruder sterben sehen. Sie wollte nicht noch einen Tod miterleben – vor allem seinen nicht. „Er hörte den Schuss und sah nach, was das zu bedeuten hatte – und entdeckte Amy auf der Straße.“

„Hat er Ihnen das erzählt?“

„Ich denke, dass es so war.“

„Genau. Sie wissen nicht, was geschehen ist, nachdem er das Haus verlassen hat.“

„Ich weiß, dass er seine eigenen Hunde nicht betäubt haben kann. Als sie still wurden, war er mit mir im Haus.“

„Er hätte es schon früher getan haben können. Haben Sie nie eine Schlaftablette genommen? Bei manchen Mitteln dauert es einige Zeit, ehe die Wirkung einsetzt. Wollen Sie mir erzählen, er sei den ganzen Abend nicht draußen gewesen?“

Das konnte sie nicht bezeugen. Cain war ständig draußen. Er fütterte die Hunde, ließ sie aus ihrem Zwinger heraus oder sperrte sie wieder ein, wässerte die Pflanzen im Garten oder jätete Unkraut, kümmerte sich um kleine alltägliche Aufgaben. „Er war es nicht“, sagte sie.

Peinlich genau richtete Peterson den Kalender, den Stifthalter und den Stenoblock auf dem Schreibtisch neu aus. „Wie geht’s den Hunden eigentlich?“

„Gut.“

„Auen?“

„Ich glaube. Maximilian wirkte heute Morgen noch etwas lethargisch, aber ich bin ziemlich sicher, dass das an den Nachwirkungen des Betäubungsmittels liegt.“

Er lächelte, aber Sheridan wusste, dass er es nicht aufrichtig meinte. „Was meinen Sie, wo diese Person ein Betäubungsgewehr herhatte?“

„Cain hat es überprüft. Er hat seins benutzt.“

„Sie behaupten also, dass man mit seiner Waffe auf Cains Hunde geschossen hat.“ Das Lächeln war wieder da.

„Der Täter ist in Cains Klinik eingebrochen und hat das Betäubungsgewehr gestohlen. Sie können sich das beschädigte Schloss ansehen, wenn Sie wollen.“

„Darauf kommen wir gleich noch einmal zurück. Ich wundere mich immer noch wegen dieser Hunde. Drehen sie nicht durch, wenn ein Fremder das Grundstück betritt? Ich dachte, sie hätten Cain durch ihr Gebell geweckt, als Sie überfallen wurden. Und da waren Sie viel weiter weg gewesen.“

„Wer immer es war, wusste anscheinend, wie er sie bändigen konnte. Vielleicht hat er ihnen ein paar Steaks in den Zwinger geworfen, ehe er in die Klinik eindrang. Das hätte sie lange genug abgelenkt, bis er das Gewehr geholt hatte. Meinen Sie nicht?“

„Ich würde meinen, es wäre ein Kinderspiel für Cain, sein eigenes Schloss aufzubrechen.“

„Sie machen den Eindruck, als wollten Sie unbedingt glauben, dass Cain etwas mit Amys Tod zu tun hat.“

„Und Sie nehmen ihn ziemlich offensichtlich in Schutz“, gab er zurück.

„Er ist ein guter Freund.“

„Ein Freund.“ Er nickte langsam. „Ich verstehe. Sind Sie sicher, dass hinter Ihrer Beziehung nicht mehr steckt?“

„Zum Beispiel?“

„Eine Nähe, die Sie motivieren könnte, für ihn zu lügen?“

„Ich lüge nicht!“

„Aber in der Vergangenheit haben Sie in Bezug auf Ihre Beziehung die Unwahrheit gesagt.“

Sheridan nahm die Hände auseinander und grub ihre Nägel in die Handflächen. „Ich bin nicht mit der Tatsache hausieren gegangen, dass wir miteinander geschlafen haben.“

Nachdenklich schürzte er die Lippen, aber das war nur Show. Officer Peterson schien sich für besonders clever zu halten. „Würden Sie mir noch eine weitere Frage beantworten, Mrs Kohl?“

„Welche?“ Sie fühlte sich unbehaglich und in die Ecke getrieben. Sie wollte, dass Amys Mörder gefunden wurde, sie wollte, dass der Mann, der Jason getötet und sie überfallen hatte, gefasst und bestraft wurde. Stattdessen suchten die Cops nach Beweisen, um Cain anzuklagen.

„Wie viele Menschen können Sie mir namentlich nennen, die wissen, welches Sedativum man einsetzen muss – und in welcher Dosierung –, um einen Hund zu betäuben, ohne ihn zu töten?“

Sie starrte ihn an.

„Mrs Kohl?“

„Niemanden“, gab sie zu. „Aber alle notwendigen Mittel befanden sich in der Klinik, und die Dosierung ist nicht schwer zu ermitteln, wenn man sich im Internet schlaumacht. Vor allem wenn man sich nicht darum kümmert, ob die Hunde die Betäubung überleben.“

„Sie sagten, sie hätten überlebt. Alle drei.“

„Vielleicht hatten sie einfach nur Glück.“

„Oder der Täter wusste genau, was er tat.“

„Sie behaupten also, Cain hätte seinen eigenen Stiefbruder getötet, mich beinahe zweimal umgebracht und Amy erschossen?

„Das haben Sie gesagt.“

„Und warum sollte er all das getan haben?“

„Er hat aus Eifersucht auf Sie und Jason geschossen.“

Sie verdrehte die Augen, doch er hob die Hand, während er fortfuhr. „Damit ist er durchgekommen. Was Sie damals der Polizei erzählt haben, reichte nicht, um ihn in Schwierigkeiten zu bringen, und dann sind Sie fortgezogen. Es war vorbei. Ende. Aber jemand hat dieses Gewehr gefunden, womit er wahrscheinlich nie gerechnet hat, und Sie sind zurückgekommen. Es ist nur logisch, anzunehmen, dass er es mit der Angst zu tun bekommen hat.“

„Und warum hat er mich dann nicht endgültig erledigt, als er mich im Wald zusammengeschlagen hat?“, fragte sie herausfordernd.

„Er hat etwas gesehen oder gehört, das ihn glauben ließ, dass er entdeckt worden ist, also tat er stattdessen so, als hätte er Sie gerettet.“

„Wer hätte ihn sehen können?“

„Ein Jäger. Ein Camper. Ein Wanderer.“ Er hielt inne. „Vielleicht sogar Amy.“

Sheridan sprang auf. „Wie bitte? Amy patrouilliert zufällig um Mitternacht im Wald in der Nähe von Cains Haus und stolpert quasi über ihn, während er mich zusammenschlägt?“

„Sie war ständig da oben. Gestern Nacht auch.“

„Weil sie sich vergewissern wollte, dass derjenige, der mich angegriffen hat, nirgendwo herumlungert. Das hat sie Cain erzählt. Warum sonst sollte sie so spät noch unterwegs sein?“

Er hob eine Augenbraue. „Sie kennen doch Cain. Was glauben Sie denn?“

Sie machten vor nichts Halt, um ihn schlecht zu machen. „Er hat nicht mir ihr geschlafen.“

„Wie können Sie sich da so sicher sein?“

„Weil Amy es mir erzählt hat. Außerdem war sie Polizistin. Wenn sie gesehen hätte, dass Cain etwas Unrechtes tut …“

„Sie war ein Cop, aber vor allem war sie eine Frau. Möglicherweise wissen Sie nicht, wie sehr sie Cain geliebt hat.“

Sheridan wusste es tatsächlich nicht. Doch bedauerlicherweise wusste sie, dass Amy nicht die Einzige war. „Sie meinen also, sie hätte ihn gedeckt.“

„Genau das meine ich. Bis gestern Nacht. Vielleicht hat sie gedroht, mit der Wahrheit herauszurücken, und deswegen hat er sie umgebracht.“

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