12. KAPITEL
„Das ist das Mädel?“
Marshall Wyatt musterte Sheridan aus weisen alten Augen, obwohl sie vermutete, dass er sie nicht besonders gut erkennen konnte. Cain hatte gesagt, sein Stiefgroßvater sei vor wenigen Monaten am grauen Star operiert worden, aber er litt immer noch unter einem schweren Fall von grünem Star.
„Das ist das Mädel.“ Cain warf eine Tüte mit Chips und Kreuzworträtseln aufs Bett, die er unterwegs für den alten Mann gekauft hatte. „Ganz schön zäh, was?“
„Das ist sie.“ Marshall streckte eine zittrige Hand aus. „Ich habe gehört, Sie hatten eine harte Zeit, seit Sie wieder in der Stadt sind, junge Dame.“
Sheridan saß in dem Rollstuhl, den Cain sich vom Pflegeheim ausgeliehen hatte, und rollte ein Stück nach vorn, um Marshall die Hand zu schütteln. „Es war schrecklich“, erwiderte sie, als er ihre Finger kurz drückte. „Wenn Cain nicht gewesen wäre, hätte ich es nicht überlebt.“
„Erstaunlich, was dieser Junge alles für eine hübsche Frau tut“, sagte Marshall augenzwinkernd.
Früher am Nachmittag, bevor Cain mit ihr zum Pflegeheim gefahren war, hatte Sheridan noch einmal in dem kleinen Teich gebadet. Dieses Mal hatte sie eine Boxershorts und ein T-Shirt von Cain getragen und es anschließend geschafft, sich allein anzuziehen. Jetzt trug sie ein Sommerkleid aus Baumwolle und Sandalen. Sie konnte ihre Hand nicht länger als ein paar Sekunden über den Kopf heben, sodass Cain ihr geholfen hatte, die Haare trocken zu föhnen. Aber sie hatte ihr Gesicht gewaschen und etwas Rouge und Lipgloss aufgelegt. Sie fühlte sich nicht hübsch – nicht mit den ganzen Abschürfungen und Prellungen –, aber sie fühlte sich gesünder als seit Langem.
„Er hat sich als sehr guter Freund erwiesen.“ Sie wich Cains Blick aus. Seit er sie mit der Salbe eingecremt hatte, konnte sie ihn nicht anschauen, ohne heftige Sehnsucht zu empfinden. Als sie sechzehn war, hatte er genau diese Wirkung auf sie ausgeübt, und jetzt, mit achtundzwanzig, war es nicht anders. Sie konnte das Verlangen nicht unterdrücken, also blieb ihr nichts anderes übrig, als es zu verbergen.
„Du weißt nicht, wer dir das angetan hat?“, fragte Marshall.
„Nein.“ Als Cain in ihr Zimmer gekommen war und einen kurzen Ausflug vorgeschlagen hatte, war Sheridan für die Gelegenheit dankbar gewesen, einmal rauszukommen. Sie war froh, dass sie mitgekommen war. Sie hatte Marshall Wyatt gerade erst kennengelernt, und sie mochte ihn bereits.
„Es ist eine Tragödie“, sagte er. „Ich kann das verstehen.“ Dann schaute er Cain an und wackelte mit dem Finger. „Und du? Was fällt dir ein, mir diesen Tee zu schicken, den du immer zusammenschüttest? Ich trinke das eklige Zeug nicht. Ich bin achtzig Jahre ohne das Gesöff zurechtgekommen, und für den Rest gehe ich eben das Risiko ein.“
„Ich kann genauso dickköpfig sein wie du!“ Cain hielt Marshalls Blick fest.
Einen Moment lang stand es unentschieden, dann grinste der alte Mann. „Ich liebe diesen Jungen“, erklärte er Sheridan. „Ist ganz egal, dass er nicht mein eigener ist. Wenn mein John nur für einen halben Dollar Grips hätte, würde er erkennen, was er an ihm hat. Was er immer an ihm hatte. Aber John ist ein großer Trottel, lebt immer noch in der Vergangenheit und trauert Jason hinterher. Wegen dieses Schmerzes lässt er niemanden mehr an sich heran.“
„Wir sind nicht hierhergekommen, damit du sie mit Familiengeschichten langweilst“, brummte Cain, aber das Glitzern in seinen Augen nahm seinen Worten die Schärfe. Sheridan spürte, wie sehr er diesen Mann respektierte.
„Warum bist du dann gekommen?“, wollte Marshall wissen. „Du hast hoffentlich noch mehr für mich außer dem Süßkram und den Zeitschriften. Wo sind meine Zigaretten?“
Jetzt wurde Sheridan der wahre Grund klar, warum sie auf dem Weg hierher an dem kleinen Tante-Emma-Laden Halt gemacht hatten.
„Du hast John erzählt, dass ich dich damit versorge, und er versucht mir deswegen zu verbieten, dich zu besuchen.“ Cain zog ein Päckchen aus der Tasche und warf es zu den anderen Dingen auf das Bett seines Großvaters. „Das ist dir doch klar, oder?“
„John?“, schrie Marshall fast. „So nennst du ihn jetzt?“
„Komm schon, fang nicht damit an!“, sagte Cain. „Sei froh, dass ich dir deinen Stoff reinschmuggle. Es gefällt mir genauso wenig wie ihm, gegen die Befehle deiner Ärzte zu handeln.“
„Es ist mir egal, ob es John gefällt oder nicht! Und was du sagst, ist mir auch wurscht. Ich bin ein erwachsener Mann.“ Marshall stieß einen Daumen gegen seine Brust. „Ich habe das Recht, selbst zu entscheiden, ob ich rauchen will oder nicht.“
Cain lächelte schief. „Darum kaufe ich dir ja auch Zigaretten. Deswegen und weil ich dir nichts abschlagen kann“, fügte er leise hinzu. „Ist das liebevolle Strenge genug?“
„Das ist genau die Liebe, die mir gefällt“, erwiderte der alte Mann lachend. „Wie kommt es, dass ich der Einzige bin, der das sieht?“
„Der was sieht?“, fragte Sheridan.
„Dass der Junge das weichste Herz von allen hat.“ Marshall sammelte sein Zigarettenpäckchen ein und stopfte es stolz in die Brusttasche. „Ah, das brauche ich“, sagte er und klopfte zufrieden dagegen.
„Zum Glück ist es ihm wichtiger, sie zu haben, als sie zu rauchen“, flüsterte Cain Sheridan zu, und sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Es ging hier nicht ums Rauchen. Für Marshall ging es darum, den Menschen die Stirn zu bieten, die sagten, er dürfe das nicht. Er wollte seinen Willen durchsetzen, egal, welche Entscheidungen andere für ihn trafen.
„Was werden denn die Krankenschwestern sagen, wenn sie Sie damit erwischen?“, fragte Sheridan.
„Ach, die werden schimpfen und zetern, aber ich lasse mich von denen doch nicht ärgern. Die wissen, wer hier der Boss ist.“ Ein Geräusch an der Tür erweckte ihre Aufmerksamkeit. „Stimmt doch, oder?“, sagte er zu der Schwester, die dort aufgetaucht war.
„Was stimmt?“, fragte sie und kam ins Zimmer.
„Dass ich hier der Boss bin.“
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, als sie die verräterische Ausbuchtung in der Brusttasche entdeckte und ein missmutiges Gesicht machte. „Was haben Sie denn da?“
„Sie wissen genau, was das ist.“
„Sie sollten sich schämen!“, sagte sie zu Cain. „Wie oft muss ich Ihnen das denn noch sagen? Zigaretten sind gegen die Regeln hier. Wollen Sie, dass er an Lungenkrebs stirbt?“
„Ich möchte, dass er glücklich ist, egal, wie lange er noch lebt“, sagte Cain.
Darauf schien ihr keine Erwiderung einzufallen, also seufzte sie nur. „Eines Tages werde ich Ihretwegen noch meinen Job verlieren.“ Sie war sichtlich gereizt, schien sich allerdings nicht wirklich Sorgen um ihren Arbeitsplatz zu machen, vor allem nicht, sobald sie Sheridan still in der Ecke sitzen sah. „Sie haben mir gar nicht erzählt, dass Sie eine neue Freundin haben, Cain. Wer ist das?“
Er reagierte nicht darauf, dass sie Sheridan „seine Freundin“ genannt hatte. „Sheridan Kohl, darf ich dir Candy Bruster vorstellen?“, sagte er.
Die kleine, schon etwas ältere Brünette lächelte Sheridan traurig zu. „Ich hätte es wissen müssen, als ich den Rollstuhl gesehen habe. Ich habe gehört, was passiert ist. Es tut mir leid!“
„Ich habe großes Glück gehabt. Wenn Cain nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr am Leben.“
„Schlimm, wenn man sich nicht einmal mehr in seinem eigenen Haus sicher fühlen kann.“ Candy sah aus, als würde sie sich gruseln, und rieb sich die Arme. „Ich bin alleinerziehend und habe drei Töchter im Teenageralter. Es ist furchtbar, sich vorzustellen, dass in unserer Stadt jemand dazu imstande ist, eine Frau zu Tode zu prügeln.“
„Wir werden ihn aufspüren“, sagte Sheridan. „Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Ich hoffe, Sie erwischen ihn!“ Candy deutete auf das Zigarettenpäckchen in Marshalls Tasche. „Ich muss mit meiner Runde weitermachen. Aber wenn Sie nicht wollen, dass Berta Ihnen die Dinger wegnimmt, sollten Sie sie lieber wie immer in die Schublade legen. Sie ist viel strenger als ich.“ Auf dem Weg aus dem Zimmer grinste sie Sheridan und Cain an. „Er glaubt, ich wüsste nicht, wo er sie versteckt.“
Dann war sie verschwunden, und Cain stupste seinen Großvater an. „Was hast du nur gegen das Heim? Für mich sieht es so aus, als hättest du hier jeden um den Finger gewickelt.“
Marshall tätschelte Cains Arm. „Mein Lieblingsenkel!“, lächelte er. „Darf ich dir etwas Geld geben, damit du diese hübsche Lady zum Dinner ausführen kannst?“ Er griff nach seiner Brieftasche, um etwas Bargeld herauszunehmen, aber Cain hielt ihn auf.
„Ich brauche dein Geld nicht, Grandpa. Mir ist es nur wichtig, dass du auf dich achtgibst, okay?“
„Du bist ein guter Junge“, lächelte Marshall.
„Hey, sei vorsichtig!“, erwiderte Cain. „Du wirst noch meinen Ruf ruinieren.“
Marshall schüttelte den Kopf. „Wenn die Leute dich immer noch nicht kennen, dann sind sie noch blinder als ich.“
Cain lachte leise. „Ich muss Sheridan nach Hause bringen. Sie kann noch nicht so lange aufbleiben.“
„Dann geht mal, ihr zwei.“ Marshall scheuchte sie mit einer Handbewegung zur Tür. „Du weißt ja, wo du mich findest.“
Cain umfasste die Hand seines Großvaters und umarmte ihn gleichzeitig, dann schob er Sheridan aus dem Zimmer.
„Was ist?“, fragte Cain, als sie wieder draußen im Sonnenschein waren.
„Was soll sein?“
„Du lächelst.“
„Ich freue mich, dass du mich mitgenommen hast. Ich mag deinen Großvater – und es ist wunderbar, aus dem Bett raus zu sein.“
„Man merkt, dass du aus Kalifornien kommst.“
„Wieso?“
Mit dem Finger strich er sanft über ihre nackte Schulter. „Du bist seit zehn Tagen nicht draußen gewesen, trotzdem bist du immer noch braun.“
„Bevor ich hierherkam, habe ich eine Woche am Strand von San Diego verbracht.“
Er starrte sie mehrere Sekunden an – und schaute auch nicht weg, als ihre Blicke sich begegneten.
„Cain?“ Sie wurde zunehmend befangener, aber ihm schien das Schweigen nichts auszumachen.
„Du bist jetzt sogar noch schöner als damals.“
Sheridan errötete vor Freude. Nur ein paar Meter entfernt wurde eine Autotür zugeschlagen. Schritte ertönten auf dem Asphalt, und dann sagte eine Stimme: „Na, wenn das nicht mein großer Bruder ist!“
Das Lächeln verschwand aus Cains Gesicht, als er sich umdrehte und grüßend nickte. „Robert.“
„Verbringst du mal wieder deine Zeit mit dem lieben alten Grandpa, Cain?“
„Wir haben ihn kurz besucht.“
Robert legte den Kopf schräg, damit er an seinem Stiefbruder vorbeischauen konnte, der sich allerdings nicht die Mühe machte, zur Seite zu treten. „Sieht aus, als hättest du jemanden mitgebracht.“
„Das ist Sheridan Kohl.“
„Ich weiß.“ Robert machte eine rasche spöttische Verbeugung. „Ihr Ruf eilt ihr voraus.“
Er könnte sich auf eine Menge Dinge beziehen – die Schießerei, den Überfall, selbst auf ihre Arbeit für The Last Stand. Die Organisation war innerhalb weniger Jahre ziemlich bekannt geworden, vor allem dank Jasmine, die als forensische Profilerin arbeitete und zur Lösung mehrerer aufsehenerregender Fälle beigetragen hatte. Aber Sheridan spürte, dass Robert sich nicht auf die Anschläge auf ihr Leben oder auf ihre Arbeit bezog. In Whiterock war sie berühmt – oder besser berüchtigt – für ihre geheime Liaison mit Cain vor zwölf Jahren.
„Man merkt es dir an, dass du weißt, wie man eine Frau beeindruckt“, sagte sie als Entgegnung auf seinen Sarkasmus.
Er schlug sich mit der Hand auf die Brust. „Oh, nein! Nicht so wie Cain.“
Robert war schon als Junge ein kleiner Riese gewesen, und er war größer als die meisten Männer. Sein sandfarbenes Haar war fettig, und er hatte sich nicht rasiert. In Kombination mit dem fliehenden Kinn, den eingesunkenen Augen und der gelbstichigen blassen Haut wirkten seine Bartstoppeln jedoch schmuddelig und hässlich, nicht gepflegt und smart. „Nein“, stimmte sie zu. „Nicht so wie Cain.“
Seine Augen wurden schmal, als sie so ehrlich antwortete, aber Cain sprach, ehe er etwas erwidern konnte. „Owen lässt dich mit einem seiner Wagen fahren?“
Robert schaute zu dem Geländewagen hinüber, den er gerade geparkt hatte. „Irgendeinen fahrbaren Untersatz brauche ich schließlich. Ohne finde ich keine ,einträgliche Beschäftigung’.“
Cain hakte die Daumen in seine Taschen, aber Sheridan spürte, dass er nicht so entspannt war, wie er wirken wollte. „Dad glaubt also, du würdest dir einen Job suchen?“
„Ich suche einen Job.“
Cains Augenbrauen schössen in die Höhe. „Und was tust du dann hier?“
„Darf ich währenddessen nicht mal bei Grandpa hereinschauen?“
„Nicht wenn du wieder nur Geld von ihm haben willst.“
„Ich brauche nur einen kurzfristigen Kredit“, knurrte Robert. „Ich muss mein Auto reparieren lassen.“
„Kannst du dir das Geld nicht woanders besorgen?“ Vor Missfallen war der Ton von Cains Stimme schärfer geworden. „Kannst du den alten Knaben nicht mal eine Weile in Ruhe lassen?“
Robert zuckte die Achseln. „Er kann doch ohnehin nichts Besseres mit seinem Geld anfangen.“
Cain ballte seine rechte Hand, reagierte aber nicht weiter auf Roberts respektlose und undankbare Bemerkung und wechselte das Thema. „Warum hast du Amy erzählt, Jason und ich hätten uns am Abend seines Todes gestritten?“
Das unverschämte Grinsen, das die Winkel von Roberts Mund leicht in die Höhe zog, führte dazu, dass er Sheridan noch unsympathischer wurde. „Weil ihr es getan habt.“
„Woher willst du das wissen? Du warst an dem Abend gar nicht zu Hause.“
„Ich war nach der Schule zu Hause. Und da habt ihr euch gestritten.“
„Es war eine Diskussion, und es war nichts Ernstes. Wir wollten beide den Truck haben. Er sagte mir, er hätte ein Date, und ich sagte, er könne ihn haben, wenn er mich vorher zum Scooter’s fährt. Das war alles.“
„Ich habe ja auch nicht gesagt, ihr hättet euch geprügelt oder so.“ Robert hob in einer spöttischen Geste der Unschuld die Hände. „Amy hat mich gefragt, ob Jason und du irgendwelche Probleme gehabt hättet, und ich habe ihr die Wahrheit gesagt.“
„Die Wahrheit“, wiederholte Cain angewidert. „Und dann hast du ausgeplaudert, was Owen dir erzählt hat.“
„Die Sache mit dem Wohnmobil?“ Ein lüsternes Grinsen legte sich über Roberts Gesicht. „Amy fragte, ob ich wüsste, ob Sheridan und du früher mal eine Beziehung hattet oder nicht, und ich habe ihr auch in diesem Punkt die Wahrheit erzählt.“
„Du bist echt ein Arschloch.“
Sein Grinsen wurde noch breiter, als er merkte, dass er ins Schwarze getroffen hatte. „Meine Güte, Cain! Mir war nicht klar, dass du von mir erwartest, für dich zu lügen.“
Cains Brust hob sich, als würde er tief einatmen, um sich zu beruhigen, und Sheridan stellte sich vor, dass er bis zehn zählte. Seine Geduld beeindruckte sie, denn sie selbst wäre am liebsten auf Robert losgegangen. „Wie du meinst.“ Er wandte sich ab und ließ seinen Bruder stehen, ohne sich zu verabschieden. Doch als Robert auf die Tür des Pflegeheims zusteuerte, wirbelte Cain herum.
„Was, zum Teufel, tust du da?“
Einen Augenblick lang blitzte Furcht in Roberts Augen auf, was bei einem so großen Mann fehl am Platze wirkte. Doch eine Sekunde später schaffte er es, seine anfängliche Reaktion unter einem frischen Schub falschen Mutes zu verstecken. „Das haben wir doch bereits geklärt. Ich brauche einen Kredit. Mein Wagen ist nicht fahrtüchtig, und ich habe nicht genug Kohle, um ihn reparieren zu lassen.“
„Ich sagte dir, dass du Grandpa in Ruhe lassen sollst!“
Robert streckte sein Kinn vor. „Ich lasse mir von dir nichts befehlen.“
„Dann tu es um seinetwillen. Du besuchst ihn immer nur dann, wenn du etwas von ihm willst. Er muss es langsam leid sein.“
„Halt dich da raus, das geht dich nichts an! Er ist nicht einmal dein Grandpa!“ Schnell betrat Robert das Gebäude, wo er von Menschen umgeben war – nur falls Cain ausrasten und ihm nachsetzen sollte.
Cain starrte Sheridan an, aber sie wusste, dass er sie nicht wirklich sah. Er kämpfte mit dem Verlangen, Robert davon abzuhalten, Marshall Wyatt auszunutzen. „Es gibt Tage, da hasse ich ihn“, gab er zu, als er sie schließlich wirklich ansah.
„Ich staune, dass es Tage gibt, an denen du es nicht tust. Wird dein Grandpa ihm Geld geben?“
„Wahrscheinlich“, erklärte er seufzend. „Normalerweise tut er es.“
Sheridan stand aus dem Rollstuhl auf, um in Cains Truck zu klettern. Doch er hatte die Beifahrertür geöffnet und sie hineingehoben, ehe sie einen einzigen Schritt machen konnte.
Nachdem er den Rollstuhl zurück in die Lobby zurückgebracht hatte, setzte er sich hinters Lenkrad und startete den Motor. Als er den Rückwärtsgang einlegte, berührte sie ihn am Arm. „Robert fühlt sich von dir eingeschüchtert. Und er ist neidisch. Das ist dir doch klar, oder?“
„Robert ist total fertig. Das ist mir klar“, erwiderte Cain. Auf der ganzen Fahrt nach Hause sprach er kein einziges Wort mehr.
Amy musste irgendetwas tun, um Cain aus der Reserve zu locken. Wenn er sie schon nicht lieben konnte, dann sollte er sie zumindest hassen. Alles war besser als diese absolute Gleichgültigkeit, mit der er sie inzwischen behandelte. Seit drei Jahren hatte er mit keiner Frau mehr geschlafen, und trotzdem verspürte er keinerlei Verlangen, sie anzufassen? Was sollte das denn? War sie jetzt nicht einmal mehr gut genug für eine gelegentliche Nummer?
Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück und dachte daran, wie es früher gewesen war. Zum ersten Mal hatte er sie draußen hinter der Scheune ihrer Eltern geküsst. Er hatte seine Notizen für einen Test, den er unbedingt bestehen musste, vergessen und rief sie an, um nach ihren zu fragen. Sie lud ihn natürlich nach Hause ein, erklärte den Eltern, sie würden zum Lernen rausgehen. Und im Schuppen hatte Amy ihm dann gezeigt, was sie ihm zu geben bereit war … Danach nahm sie ihn während der Schulstunden mit nach Hause, wenn ihre Eltern arbeiteten. Sie rief ihn sogar manchmal mitten in der Nacht an oder weckte ihn auf, damit sie sich durch sein Fenster hineinschleichen konnte.
Wenn sie nur das Baby nicht verloren hätte …
Offensichtlich hasste Gott sie. Sonst hätte er doch niemals zugelassen, dass sie einen Teil von Cain verlor – den einzigen Teil, den er ihr nie mehr hätte wegnehmen können. Es brachte sie um, nichts von ihm zu haben. Es brachte sie schon seit Jahren um. Wann würde der Schmerz endlich aufhören?
Sie konnte so nicht weitermachen.
„Was ist los?“, wollte Tiger wissen.
Amy schob ihre nackten Zehen unter die Decke. Draußen war es heiß und feucht, aber sie hatte ihre Klimaanlage so weit aufgedreht, dass sie sich zudecken musste. Es war zu schwül, um ohne frische Luft nahe bei Tiger und der Hitze zu sitzen, die sein Körper produzierte. „Nichts. Warum?“
„Dann zappel nicht so rum“, beschwerte er sich. „Sitz still, damit ich den Film sehen kann.“
Verständnislos starrte sie auf den Bildschirm. Seit vielleicht fünfzehn Minuten lief der Actionfilm, den Tiger ausgesucht hatte, aber sie hatte keinen Schimmer, worum es eigentlich ging. Ständig wurden irgendwelche Leute und Autos in die Luft gesprengt, aber das war’s dann auch schon. Nach dem Film würde Tiger mit ihr schlafen wollen, und um sich darauf einlassen zu können, würde sie sich vorstellen, er sei Cain. Anschließend würde er einschlafen und schnarchen, bis sie kurz davor war, ihn zu erwürgen, nur damit der Lärm aufhörte. Am Morgen würde sie ihn dann aus ihrem Bett zerren, damit sie es beide rechtzeitig zur Arbeit schafften.
Jeden Tag dieselbe Routine. Aber mit Tiger zusammen zu sein war besser, als ganz allein zu sein. Wenn sie allein war, dachte sie ununterbrochen an Cain und fuhr noch öfter zu ihm. Manchmal bellten seine Hunde, wenn sie sich näherte, aber nicht immer. Sie kannten sie. Und wenn es richtig dunkel war, warf sie ihnen ein Stück Hundekuchen zu, damit sie dicht genug ans Haus kam, um durch die Fenster spähen zu können.
„Amy, hör auf!“, schnauzte Tiger.
Sie zappelte erneut herum. Seufzend stand sie auf und ging in die Küche. Sie wusste, dass sie nichts mehr essen sollte. Sie wurde fett, was sie für Cain noch weniger anziehend machte. Aber Essen schien ihr einziger Trost zu sein. Und was machten ein paar Pfunde mehr schon aus, wenn kein anderer Mann außer Tiger sie je ansah? Er war selbst fett.
„Hast du Hunger?“, rief sie.
„Nein, aber du kannst mir ein Bier bringen.“
Noch eins? Wenn er zu betrunken wäre, würde sie sich nie einreden können, er sei Cain. Cain konnte sehr distanziert sein, aber er war kein linkischer, schlampiger Liebhaber. „Ist alle“, log sie.
„Gehst du schnell mal zum Laden?“
„Zum Teufel, nein!“, gab sie zurück, aufgebracht, weil er es überhaupt vorgeschlagen hatte. Aber dann überlegte sie es sich anders. Bei der Aussicht, Cain zu sehen, bekam sie Lust auf eine weitere Stippvisite zu seinem Haus. Sie wollte wissen, was er dort draußen mit Sheridan anstellte, wollte sehen, ob sie schon die Kondome benutzten, die sie ihm in den Truck gelegt hatte.
Bei dem Gedanken, er könnte mit Sheridan im Bett liegen, bekam sie Magenschmerzen. Sheridan war schon immer die Prinzessin gewesen, und sie hatte es immer geschafft, auf den Füßen zu landen – wie jetzt schon wieder. „Blöde Schlampe!“
„Was hast du gesagt?“, brüllte Tiger.
„Ich sagte, du hast Glück. Ich habe gerade beschlossen, loszufahren und dir ein Sixpack zu holen. Ich muss meinem Bruder noch ein paar Sachen vorbeibringen, also wird es eine Weile dauern. Du kannst ja hierbleiben und dir den Film ansehen, okay?“
„Ich gehe nirgendwo hin“, rief er zurück.
Darum machte sie sich auch keine Sorgen. Sie würde sich schon direkt vor seiner Nase ausziehen müssen, um ihn auch nur von der Couch wegzubekommen.