18. KAPITEL

Das Treffen von Cain und Owen schien ewig zu dauern.

Sheridan versuchte, die neugierigen Blicke der anderen Gäste im Diner zu ignorieren. Manche schienen sich zwar an sie zu erinnern, kannten sie aber nicht gut genug, um sie zu grüßen. Sie beobachtete die Uhr. Zwanzig Minuten verstrichen, dreißig, vierzig.

Obwohl es spät wurde und die Läden am Sonntag früh schlossen, beschloss sie, rauszugehen und einen Schaufensterbummel in der Main Street zu machen, um die Zeit totzuschlagen. Aber dann kam Cains Stiefvater mit Mrs Stevens herein, ihrer Lehrerin für amerikanische Literatur an der Highschool, und das versprach, eine interessante Ablenkung zu werden. Sie wusste, dass sie kurz nach dem Tod von Cains Mutter schon einmal zusammen gewesen waren, aber sie hatte gedacht, sie hätten sich wieder getrennt. Doch offensichtlich waren sie ein Paar, denn John hielt ihre Hand.

Zuerst bemerkten sie Sheridan gar nicht. Sie unterhielten sie viel zu angeregt. Aber dann suchten sie nach einem Tisch und entdeckten sie beinahe sofort.

Karen Stevens war ihre Lieblingslehrerin gewesen. Sheridan lächelte erwartungsvoll, doch als ihre Blicke sich trafen, wandte Mrs Stevens sich ab. Es wirkte sogar so, als wollte sie Cains Stiefvater ablenken, indem sie auf einen leeren Tisch an der anderen Seite des Restaurants deutete. Aber John Wyatt sagte etwas zu ihr und führte sie dann herüber.

„Wie geht es dir?“, fragte er Sheridan. Er musterte sie mit traurigem, besorgtem Blick.

Sie erinnerte sich, dass er sie besucht hatte, als sie sich vor zwölf Jahren von der Schussverletzung erholte. Damals hatte er verhärmt ausgesehen. Mit rotgeränderten Augen hatte er sie geradeheraus gefragt, was geschehen war. Er musste die Ereignisse aus ihrem Mund hören, um das Unfassbare glauben zu können. Er musste zumindest versuchen, die Aufklärung zu bekommen, nach der er sich sehnte. Bei all dem brachte er ihr Mitgefühl für ihr eigenes Leid entgegen. Schicksalsergeben und demütig hatte er sich angehört, was sie zu sagen hatte, ohne sie dafür zu tadeln, dass sie ihm nicht mehr erzählen konnte – oder dafür, dass sie Jason überhaupt überredet hatte, mit ihr zum Rocky Point zu fahren. Sie war ihm zutiefst dankbar dafür gewesen, denn es fiel ihr schwer, sich selbst nicht deswegen schuldig zu fühlen.

Sie hätte John Wyatt mögen können, wenn sie nur nicht das Gefühl hätte, Cain gegen ihn verteidigen zu müssen. Er hatte Cain schon immer anders behandelt als seine eigenen Jungs, und das störte sie. Es hatte sie schon damals in der Highschool gestört.

„Es geht mir schon wieder besser“, sagte sie.

„Freut mich zu hören. Es tut mir leid, was du durchmachen musstest. Das ist nicht fair.“

„Leider werden Menschen häufiger zu Opfern, als jeder von uns gerne glauben würde.“

„Ganz bestimmt.“

„Hallo, john!“

Cains Vater wandte sich ab, um mit einem Herrn zu sprechen, den Sheridan nicht kannte. Sie hörte den Mann fragen, ob John bereit sei, ein paar Worte auf Amys Beerdigung zu sagen – anstelle ihres Vaters, der vor fünf Jahren gestorben war. John stimmte bereitwillig zu. Sheridan erwartete, dass Mrs Stevens sich auf die andere Unterhaltung konzentrieren und sie weiterhin ignorieren würde. John hatte sie offensichtlich ganz vergessen. Doch ihre ehemalige Lehrerin schien ihre frühere Haltung zu überdenken.

„Wohnen Sie immer noch bei Cain?“, fragte sie.

„Fürs Erste.“

Mrs Stevens warf einen Blick über ihre Schulter. Sie schien sich zu vergewissern, ob John ganz von der Unterhaltung in Anspruch genommen war, und senkte die Stimme. „Er scheint sich ja gut um Sie zu kümmern.“

Sheridan fand die Bemerkung merkwürdig, wusste aber nicht, warum. Mrs Stevens hatte Cain immer gemocht. Als er an der Highschool war, hatte sie sich besonders für ihn interessiert, wahrscheinlich hatte sie gehofft, ihm das ersetzen zu können, woran es ihm zu Hause mangelte.

„Das tut er“, sagte Sheridan. „Er ist ein sehr freundlicher Mensch.“

„Ich weiß.“ Mrs Stevens Lächeln wurde traurig. „Wo ist er?

„Er hat mich vor einer Weile hier abgesetzt, um ein paar Erledigungen zu machen.“

„Verstehe.“

Danach dehnte sich die Stille so lang zwischen ihnen aus, dass es langsam peinlich wurde. Sheridan machte den Versuch, etwas Small Talk zu betreiben. „Unterrichten Sie immer noch?“

„Ja. Inzwischen leite ich sogar den Fachbereich Englisch.“ Sie lachte. „Das hat allerdings nicht viel zu bedeuten, da der Bereich nur aus Mr Burns und mir besteht.“

„Das hält Sie bestimmt auf Trab.“

„Es ist ein gutes Leben. Inzwischen weiß ich das. Ich bin froh, dass ich mich entschieden habe, nach Whiterock zurückzukommen.“

Sheridan hatte gar nicht gewusst, dass sie jemals fort gewesen war. „Wo waren Sie?“

„In New York – fast zehn Jahre lang.“

„Was hat Sie dorthin geführt?“

„Ich brauchte eine Pause. Die Stadt ist so klein, dass jeder jeden kennt. Ich fühlte mich eingeengt und wollte es mal mit einer Großstadt versuchen.“

„Hat es Ihnen dort nicht gefallen?“

„Es hat seine guten Seiten, aber vor allem hat mich die Zeit dort gelehrt, das zu schätzen, was ich hier habe.“

Sheridan hatte Whiterock ebenfalls vermisst. Aber sie hatte sich so sehr darauf konzentriert, vor der Vergangenheit davonzulaufen und sich nicht die Schuld dafür zu geben, Jason zur falschen Zeit an den falschen Ort gebracht zu haben, dass sie nur selten zurückgeblickt hatte. Man hatte ihr geraten, nicht einmal an ihre Heimatstadt zu denken. Erst jetzt begriff sie, wie sehr sie das Leben, das sie hier geführt hatte, vermisst hatte.

Die Wut auf den Mann, der auf sie geschossen und sie verprügelt hatte – wenn es sich tatsächlich um ein und dieselbe Person handelte –, überwältigte sie beinahe. Hin und wieder brachen diese Gefühle ohne Vorwarnung über sie herein. In einem Moment ging es ihr gut, und im nächsten war sie erfüllt von Zorn. Sie versuchte, dagegen anzukämpfen, indem sie sich sagte, dass sie nicht die Einzige sei. Überall erlebten Opfer denselben hilflosen vergeblichen Ärger. Zumindest tat sie, was sie konnte, um ihre Wut in etwas Konstruktives zu verwandeln. Möglicherweise könnte sie ihren Klienten nicht dieses Maß an Mitgefühl entgegenbringen, wenn sie nicht ein ähnliches Martyrium durchgemacht hätte.

„Ich kann verstehen, dass es Ihnen hier gefällt“, sagte Sheridan.

Mrs Stevens spielte mit dem Riemen ihrer Handtasche herum. „Bleiben Sie länger hier, Sheridan? Oder wollen Sie zurück nach Kalifornien? John erzählte mir, dass Sie eine Hilfsorganisation zur Unterstützung von Gewaltopfern mitgegründet haben.“

Sheridan nickte. „Mit The Last Stand erreichen wir mehr, als ich mir je hätte träumen lassen. Es ist eine sehr befriedigende Arbeit. Aber ich werde hierbleiben, bis ich herausgefunden habe, wer mich angegriffen hat.“

„Es muss hart sein, keine Antworten zu haben. Das Gefühl, dass es keinen richtigen Abschluss gibt.“

„Das ist es.“

„John empfindet es genauso.“

„Er hat seinen Sohn verloren. Er ist in dieser Sache ebenfalls ein Opfer.“

„Und dann ist da Cain“, sagte Mrs Stevens und senkte erneut die Stimme.

Sheridan zögerte und versuchte herauszufinden, was die Veränderung des Tonfalls zu bedeuten hatte. „Verzeihung?“

„Cain. Einen Mann wie ihn kann man nicht so einfach verlassen.“

Offensichtlich hatte sie bereits von dem Vorfall im Wohnmobil gehört. „Er ist nur ein Freund.“

Die Klingel über der Tür läutete, und Sheridan blickte auf. Cain war endlich zurück. Als ihre Blicke sich trafen, wurde ihr klar, dass sie gelogen hatte. Sie war immer noch in ihn verliebt, vielleicht sogar mehr als je zuvor.

„Nicht mehr?“, sagte Mrs Stevens. „Der Erleichterung in seiner Miene nach zu urteilen, würde ich sagen, dass Sie ihm ziemlich viel bedeuten.“

„Erleichterung?“ Skeptisch runzelte Sheridan die Stirn. Sie konnte nichts dergleichen in seinen Zügen erkennen. Und wenn es da wäre, würde sie es nicht sehen wollen. Dann würde es ihr nur noch schwerer fallen, ihm zu widerstehen. „Er ist … beschäftigt. Mit dem, was ihm gerade durch den Kopf geht.“

„Und das ist: ,Gott sei Dank ist sie in Sicherheit!’“

„Karen, können wir uns endlich hinsetzen?“ John hatte es offensichtlich eilig, sich einen anderen Platz zu suchen, bevor er Cain gegenübertreten musste. Er griff nach ihrer Hand, als der Mann, mit dem er gesprochen hatte, ging.

„Ich bin so weit“, sagte sie, flüsterte jedoch Sheridan zum Abschied kaum hörbar zu: „Sie Glückliche!“

Cain konnte die Zurückweisung unmöglich ignorieren. Kaum hatte sein Stiefvater ihn erblickt, als er ihm den Rücken zudrehte, ohne ihm auch nur zuzunicken, und zum anderen Ende des Restaurants ging. Er wählte eine Nische aus, die so weit entfernt war wie nur irgend möglich. Doch Cain fand, dass John ihm damit sogar einen Gefallen getan hatte. Er hatte seinem Stiefvater ohnehin nichts mehr zu sagen. Jetzt, wo sie nicht länger so taten, als würden sie gut miteinander auskommen, fühlte er sich wesentlich wohler.

„Was hast du herausgefunden?“, fragte Sheridan.

Cain versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sich sein Stiefvater überhaupt im Restaurant befand. „Owen hat das Gewehr in meiner Hütte versteckt.“

„Owen?“ Sie riss die Augen auf. Sie blickte zu John und Karen hinüber. Sie waren in eine Unterhaltung vertieft, die auf einen Streit hinauszulaufen schien.

„Dein Stiefbruder hat versucht, dir die Sache in die Schuhe zu schieben?“

Cain bedeutete ihr, ihre Stimme zu senken. Die meisten Gäste hatten zwar bereits ihren Sonntagsbraten verspeist und waren wieder auf dem Heimweg, aber sosehr er auch versuchte, es nicht zur Kenntnis zu nehmen: Sein Stiefvater war immer noch da. „Nein. Zumindest glaube ich es nicht. Er behauptet, er hätte das Gewehr in Roberts Kofferraum gefunden und versucht, es irgendwo zu verstecken, wo niemand danach suchen würde.“

„Er hat also Robert geschützt.“

„Das klingt glaubhaft“, fügte er leise hinzu. „Mein Stiefvater und Owen sind ständig damit beschäftigt, Roberts kleine Pannen wieder auszubügeln.“

„Aber woher wusste Owen, dass es das Gewehr war, mit dem Jason erschossen worden war? Der Ballistiktest wurde doch erst danach gemacht. Ich meine, für das ungeübte Auge sehen die meisten Gewehre doch alle gleich aus.“

„Nicht wenn du ein Gewehr schon einmal benutzt hast. Vor Jahren ist Owen mit Bailey Watts zur Jagd gegangen. Er hat die Waffe als diejenige wiedererkannt, die Bailey kurz vor Jasons Tod als gestohlen gemeldet hatte.“

„Trotzdem … Robert war noch so jung, als man auf Jason und mich geschossen hat! Er war … in der achten Klasse? Der Mann mit der Skimaske hatte die Statur eines Erwachsenen.“

„Er trug schon mit zwölf Erwachsenengrößen.“

„Aber hätte er überhaupt gewusst, wie man mit einem Gewehr umgeht?“

„Mein Stiefvater hat seinen Jungs das Schießen beigebracht, sobald sie eine Waffe halten konnten. Als John meine Mutter geheiratet hat, war Robert sieben und konnte besser schießen als Owen.“

Sichtlich aufgewühlt ließ Sheridan sich gegen die Lehne ihrer Bank sinken. „Aber … warum hätte er seinem älteren Bruder so etwas antun sollen? Und mir? Er kannte mich nicht einmal.“

„Warum hätte irgendjemand so etwas tun sollen?“

Kelly, die achtzehnjährige Tochter der verwitweten Restaurantbesitzerin, näherte sich mit einem Glas Wasser, das sie auf die lackierte Tischplatte stellte. „Was kann ich dir bringen, Cain?“

„Nur eine Tasse Kaffee“, sagte er.

Sie lächelte und eilte davon, und Cain konzentrierte sich wieder auf Sheridan. „Nicht das, was du erwartet hattest?“

„Nein.“ Ihre Tasse klapperte, als sie sie zurück auf die Untertasse stellte. „Bevor wir irgendetwas unternehmen, müssen wir also als Erstes mit Robert reden. Und herausfinden, woher er dieses Gewehr hatte.“

„Ich komme gerade von seinem Trailer. Er behauptet, er hätte es vor vier Jahren in Grandpa Marshalls Schuppen gefunden, als wir ihn ins Pflegeheim brachten.“ Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich vor. „Robert sagte, Owen habe ihm nie erzählt, dass er das Gewehr gefunden habe. Eines Tages war es einfach weg, und er hat sich gefragt, wo, zum Teufel, es abgeblieben sei.“

„Hat er jemandem erzählt, dass es verschwunden war?“

„Nein. Es wäre auch untypisch für ihn. Er dachte, wie gewonnen, so zerronnen.“ Cain nahm einen Schluck von seinem Wasser. „Besser gesagt, er nahm an, er hätte irgendetwas damit angestellt, als er betrunken war.“

„Aber warum hat er nichts gesagt, als es gefunden wurde?“

„Er sagt, es sei ihm nicht klar gewesen, dass es dasselbe Gewehr gewesen sei.“

„Ich glaube ihm nicht.“

„Ich denke, es könnte stimmen, zumindest am Anfang. Später, nachdem die Polizei herausgefunden hat, dass es die Waffe war, mit der auf Jason und dich geschossen worden war, hatte er zu große Angst, man könnte ihm die Schuld in die Schuhe schieben.“

„Also hat er zugelassen, dass jeder dich verdächtigt.“

„Für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen ist: Er kümmert sich einen Dreck um mich.“

„Warum kommt Robert und du nicht miteinander klar?“

Cain zuckte die Achseln. „Er ist ein fauler Sack. Schon als Kind konnten wir ihn nie dazu bewegen, bei irgendetwas zu helfen. Alles, was er wollte, war Videospiele spielen.“

„Eure Beziehung war also nicht besser, als ihr noch zusammengewohnt habt?“

„Eigentlich war es gar nicht so übel. Er war der Jüngste in der Familie. Es fiel ihm leicht, sich ständig neue Ausreden einfallen zu lassen. Wir haben mitgespielt, in der Annahme, dass er sich ändern würde, wenn er erst einmal erwachsen wäre. Aber dass er so lange auf unsere Unterstützung zählen konnte, hat die Sache nur noch verschlimmert. Er verlässt sich immer noch auf jeden, der es zulässt.“

Sheridan schien diese neuen Informationen abzuwägen. „Wegen der Waffe…“

„Was soll damit sein?“

„Warum sollte dein Großvater sie in seinem Schuppen aufbewahren?“

„Jeder hätte das Gewehr unter eine der Planen stecken können. Grandpa hat unzählige Kisten voller Krempel in seinem Schuppen aufbewahrt. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob Robert es wirklich dort gefunden hat.“

„Was ist mit dem Bild in Owens Track?“

Auf dem Weg in die Stadt hatte Cain ihr erklärt, was Tiger ihm erzählt hatte. „Das schiebt er ebenfalls auf Robert“, sagte er. Er nahm das Bild, das er von Owen bekommen hatte, aus der Tasche und schob es ihr zu. „Es war Owens Truck, mit dem wir Robert beim Pflegeheim gesehen haben.“

Sie faltete das Blatt auseinander und starrte auf das Bild von sich selbst. Als sie die Löcher in ihrem Gesicht sah, schlug sie die Hand vor den Mund. „Hat Robert eine Digitalkamera?“

„Ja. Er sieht sich gerne als Amateurfotograf – solange er keine Online-Kriegsspiele mit seinen Kumpanen im Internet spielt.“

„Kriegsspiele?“

„Militärstrategien und -spiele haben ihn schon immer fasziniert.“

Ein paar Sekunden saßen sie schweigend da, das Bild auf dem Tisch zwischen sich. Cain war sich nicht sicher, ob er es ihr hätte zeigen sollen – mit diesen grausamen Löchern in ihrem Gesicht. Aber sie hatte Erfahrung mit der Ermittlung in Kriminalfällen. Es war wichtig, offenzulegen, was er herausgefunden hatte.

„Robert lebt nur ein paar Häuser vom Haus meines Onkels entfernt“, sagte sie schließlich.

Cain nickte. „Er war wahrscheinlich einer der Ersten, die gemerkt haben, dass du zurück bist.“ Er hätte sie mit Leichtigkeit beobachten und dieses Bild durch das Fenster aufnehmen können. Schließlich hatte er keine Frau, die sich fragen würde, wo er steckte. Oder sonst jemanden, der ihn im Auge behielt.

Die Kellnerin brachte seinen Kaffee.

„Sahne?“ Sheridan hielt ihm die Schüssel mit den Plastikdöschen hin.

Cain schüttelte den Kopf. „Ich mag ihn schwarz.“

Sie stellte die Schüssel wieder hin und schien sich zwingen zu müssen, das Foto noch einmal anzusehen. „Hat er bestritten, das Foto gemacht zu haben?“

„Natürlich. Er hat mir sogar seine Digitalkamera gegeben und mich jede Aufnahme ansehen lassen. Aber das heißt gar nichts. Er hätte die Datei auf seinen Computer runterladen und den Speicher löschen können.“

„An seinen Computer hat er dich vermutlich nicht rangelassen, oder?“

„Nein. Aber ich habe vor, ihn zu überprüfen, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.“

Sheridan spielte mit ihrem Wasserglas herum und hinterließ Ringe aus dem Kondenswasser auf dem Tisch. „Dein Großvater hat nicht viel persönlichen Besitz im Pflegeheim. Nur das Nötigste. Was habt ihr mit seinem Zeug gemacht, als ihr das Haus verkauft habt?“

„John hat das, was er haben wollte, mitgenommen, Owen hat sich ein paar Erinnerungsstücke ausgesucht, und Robert hat den größten Teil der Möbel bekommen, weil die besser waren als der Ramsch, den er in seinem Trailer hatte. Den Rest wollten sie verkaufen oder verschenken. Aber Grandpa hat sich furchtbar darüber aufgeregt, dass sein ganzer weltlicher Besitz weg sein würde. Also habe ich alles zusammengepackt und in ein leeres Zimmer in der alten Hütte gestellt. Ab und zu bringe ich einen Karton davon ins Pflegeheim, damit er darin herumstöbern kann. Das gefällt ihm.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Es bringt lieb gewonnene Erinnerungen zurück und gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Als seien die Dinge, die ihm wichtig sind, immer noch da und würden auf ihn warten.

Cain hob eine Augenbraue, als sie übers ganze Gesicht lächelte. „Warum lächelst du?“

„Du weißt, wie du den Menschen, die du liebst, Freude bereiten kannst“, sagte sie leise.

Er verzog das Gesicht, um seine Verlegenheit über dieses Kompliment zu verbergen. „Es ist keine große Sache, das Zeugs aufzubewahren. Ich benutze die Hütte nicht mal mehr.“

„Das ist egal. Was zählt, ist, dass du verstehst, dass es die kleinen Gesten sind, die so viel bedeuten.“

Einen Moment lang vergaß Cain, dass sein Stiefvater sich im selben Raum befand. Er vergaß sogar, was er gerade von Owen und Robert erfahren hatte und was das bedeuten könnte. Vergaß, dass er mit Karen geschlafen hatte, dass er sich mitschuldig an Jasons Tod fühlte und dass er seine Mutter immer noch vermisste. So tief ihn all diese Dinge auch trafen, in dieser einen Sekunde berührten sie ihn nicht. Konnten ihn nicht berühren. Der Ausdruck auf Sheridans Gesicht – als sähe sie nur den Mann, der er sein wollte, und nicht den makelbehafteten Menschen, der er war – schützte ihn vor allen Fehlern, aller Bitterkeit und Trauer der Vergangenheit.

Ein heftiges Verlangen, mit ihr zu schlafen, überkam ihn. Aber das hatte nichts mit ihrer körperlichen Schönheit zu tun. Es gab viele wunderschöne Frauen auf der Welt. Sheridan aber hatte etwas an sich, etwas, das ihn tief in seiner Seele berührte.

Als ihre Blicke sich trafen, begann sein Herz zu rasen. Er wollte sie, und sie wusste es.

Sie öffnete den Mund, doch was immer sie sagen wollte, ging verloren, als Karen aufsprang und John anschrie: „Scher dich zum Teufel! Ruf mich nie wieder an!“

Überrascht drehte sich Cain zusammen mit allen anderen Gästen zu ihr um und sah ihr nach, als sie hinausstürmte.

Als Sheridan aus der Dusche stieg, konnte sie den Fernseher nicht mehr hören. Cain war ins Bett gegangen und hatte die Lichter ausgemacht, bis auf das in seinem Schlafzimmer. Und er hatte ihren Koffer in sein Zimmer gebracht. Dadurch wollte er sie wissen lassen, dass er erwartete, sie würde die Nacht mit ihm verbringen. Nach dem, was mit Amy geschehen war, wollte er kein Risiko mehr eingehen. Er wollte sie sehr nahe bei sich haben. Aber sie war nicht sicher, ob sie es noch eine Nacht schaffen würde, keusch neben ihm zu liegen. Sie wusste schon jetzt, dass sie wach liegen und jede seiner Bewegungen mitbekommen würde, während sie sich danach verzehrte, ihn zu berühren.

Die Alternative war, in ihrem eigenen Zimmer zu schlafen. Doch allein sein wollte sie auf gar keinen Fall.

Nachdem sie ihr Haar geföhnt hatte, wickelte sie sich in ein Handtuch und ging in sein Zimmer, um sich saubere Sachen zu holen. Im Badezimmer zog sie ihr Nachthemd an, schlich zurück und schlüpfte zu ihm ins Bett.

Weil er sich weder gerührt noch etwas gesagt hatte, als sie sich fürs Bett fertig gemacht hatte, war sie davon ausgegangen, dass er bereits schlief. Doch das tat er nicht. Als sie die Decke glatt strich, wechselte er die Position. Sie dachte – hoffte sogar darauf –, dass er sie in den Arm nehmen würde. Das Funkeln in seinen Augen, das sie im Restaurant gesehen hatte, hatte seinen Hunger verraten. Doch er tat nichts dergleichen, sondern drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

„Hast du genug Decke?“, fragte sie.

„Ja.“

„Okay.“

In der Stille konnte sie die Geräusche des Waldes hören. Der einsame Ruf einer Eule erinnerte sie an die Nacht, in der sie aufgewacht war und gesehen hatte, wie ein Mann mit einer Skimaske ihr Grab schaufelte.

Sie rutschte ein Stückchen näher an Cain heran. „Gute Nacht“, flüsterte sie.

Er antwortete nicht. Aber als sie noch näher rutschte und gegen seinen nackten Rücken stieß, drehte er sich um und nahm sie in den Arm, damit sie ihren Kopf an seine Schulter legen konnte.

Er trug seine Boxershorts, sie spürte den Stoff an ihrem Bein. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen.

Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl der glatten Haut an ihrer Wange. Das war besser. Das war perfekt. Was sollte eine Frau mehr verlangen? Doch die Erinnerung daran, wie sie sich geliebt hatten, stieg in ihr auf.

Hör auf, dich selbst zu verleugnen! Hör auf, mich zu verleugnen!

Vielleicht fünfzehn Minuten lang lag sie einfach nur da und atmete. Sie wartete darauf, dass ihr Verlangen verschwand. Doch es war sinnlos. Sie wusste, was sie wollte, und sie wusste, dass sie es sich holen würde.

Sie hob den Kopf und hauchte ihm einen Kuss auf die Brust, den Hals und das Kinn. Bis sie schließlich seinen Mund fand.

Sheridans seidig weiche Haare fielen Cain ins Gesicht, als sie sich auf die Ellenbogen stützte und ihre Lippen seinen Mund berührten. Es war ein sanfter Kuss, süß und unaufdringlich, aber es überraschte ihn, dass sie ihn überhaupt von sich aus küsste. Nie hätte er erwartet, dass sie den ersten Schritt machen würde. Er hatte angenommen, sie würde kein Risiko eingehen und schlafen wollen, und war fest entschlossen gewesen, sie in Ruhe zu lassen. Stattdessen glitten ihre Hände jetzt über seine Brust, berührten, suchten und erforschten ihn.

Sein Körper reagierte. Doch er hielt sich zurück, berührte sie nur ebenso sanft wie sie ihn und gab ihr unendlich viel Zeit, ihn zu erkunden, damit ihre Sehnsucht stetig wuchs. Er hatte sie zwei Mal geliebt, dieses Mal schien sie das Sagen haben zu wollen.

Sie küsste ihn erneut und fuhr dabei mit der Zungenspitze über seine Lippen. Mit einem hilflosen Stöhnen schlang er ihre Haare um seine Finger und ließ sich von ihr küssen, wie sie es wollte. Dabei war sie so zärtlich, dass er ein unglaubliches Verlangen empfand, wie er es nie zuvor erlebt hatte.

Mehr, dachte er. Gib mir mehr! Aber er widerstand der Versuchung, die Kontrolle zu übernehmen.

„Du schmeckst gut“, flüsterte sie. „Und du fühlst dich gut an.

Er schloss die Augen, und sein Kiefer verkrampfte sich, als er gegen das Bedürfnis ankämpfte, sich auf sie zu werfen. Langsam. Noch nie zuvor hatte er sich so verzweifelt nach einer Frau gesehnt. Er fühlte sich, als müsste er sich auf der Stelle so viel nehmen, wie er nur konnte – solange Sheridan nicht versuchte, ihre Lust für jemand anders oder für später oder für die Ewigkeit zurückzuhalten.

Sie schien es nicht halb so eilig zu haben wie er. Rittlings setzte sie sich auf ihn und presste langsam ihre Hüften gegen ihn.

Er legte ihr die Hände um ihre schlanke Taille, um sie einen Moment zum Innehalten zu bewegen. Doch dann beugte sie sich vor und öffnete den Mund. Sie küsste ihn so innig, wie er es letzte Nacht gewollt hatte. Da wusste er, dass sein Herz sich nicht beruhigen würde.

„Ich kann nicht länger warten!“, flüsterte er, den Mund gegen ihre Lippen gepresst. „Ich möchte in dir sein.“

Sie zog sich zurück, um ihn anzusehen, und er glaubte, Verwirrung in ihrem Blick zu erkennen.

„Wir machen es später noch einmal langsamer“, murmelte er. „Ich verspreche es dir.“ Und dann waren sie plötzlich nackt …

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