10. KAPITEL
Karen Stevens saß John im Ruby’s Hideaway Steak & Seafood gegenüber, dem nettesten Restaurant in Whiterock. Bei der dunklen Wandtäfelung und dem gedämpften Licht konnte sie seinen Gesichtsausdruck kaum erkennen, aber sie fand, dass er etwas blass aussah.
„Stimmt irgendetwas nicht?“, fragte sie.
Er hielt kurz beim Fleischschneiden inne und blickte auf. „Nein, warum?“
„Du wirkst in letzter Zeit so … abwesend. Ruhelos.“ Sie wusste, dass es etwas mit Cain und dem Gewehr, das man in seiner Blockhütte gefunden hatte, zu tun haben musste, denn seitdem war John so verschlossen. Der Waffenfund hat seinen ganzen Schmerz über den Verlust Jasons wieder neu aufleben lassen. Und es belastete die Beziehung zwischen ihm und Cain. Sie verstand das alles, aber das Gefühl, dass John sie ausschloss, gefiel ihr gar nicht. Sie wollte, dass John ihr zumindest mitteilte, was er empfand.
„Robert hat wieder angefangen zu trinken.“ Er schüttelte resigniert den Kopf. „Ich glaube, ich muss ihn zur Reha schicken.“
Das hatte gerade noch gefehlt! Aber Karen musste aufpassen, was sie über Robert sagte. Sie war nicht damit einverstanden, wie John seinen jüngsten Sohn behandelte, genauso wenig, wie es ihr gefiel, wie er mit Cain umging – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Robert musste es allein schaffen und aufhören, sich immer auf seinen Vater zu stützen. Cain brauchte Liebe, aber aus irgendeinem Grund konnte John ihm die nicht geben.
„Hast du mit ihm darüber gesprochen?“, fragte sie.
„Du weißt doch, wie er ist. Er fängt ja doch nur wieder Streit an.“
„Selbst nachdem er gegen den Schuppen gekracht ist, hat er nicht zugehört?“ Sie wusste, dass der Unfall keine Lappalie gewesen war. Roberts Camaro war immer noch in der Werkstatt.
„Er behauptet, er würde nie wieder betrunken Auto fahren.
Karen war versucht, einzuwenden, dass John genau wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach, aber sie wollte ihn nicht bedrängen. Nicht heute Abend. Er würde nur endgültig dichtmachen, dabei wollte sie mit ihm reden. Sie vermisste die Nähe, die zwischen ihnen gewesen war, bevor das Gewehr in Cains Blockhütte aufgetaucht war. Als John sie vor zwölf Jahren zum ersten Mal umworben hatte, war sie nicht interessiert gewesen, aber jetzt liebte sie ihn.
„Und was hältst du davon?“
„Ich bin frustriert. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich ihn in seinem Wohnwagen besucht habe, nur um festzustellen, dass er mal wieder bewusstlos im Sessel lag. Und die letzten beiden Gehaltschecks hat er schon wieder für Computerzeug ausgegeben!“
Sie wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Ich dachte, du wolltest anfangen, Miete von ihm zu nehmen?“
„Er gibt das Geld aus, bevor ich dazu komme, es einzufordern.“
„Aber mit dem Job drüben in Fernley ist alles in Ordnung, oder?“
John schaufelte ein Stück Tomate in seinen Mund. „Nein. Da ist er vor zwei Wochen rausgeflogen.“
Karen sah John fast jeden Tag. Er war Hausmeister an der Schule, an der sie unterrichtete. Außerdem kam er mindestens vier Mal in der Woche zum Abendessen vorbei oder verbrachte die Nacht bei ihr – in normalen Wochen jedenfalls. Seit das Gewehr gefunden worden war, hatte er nicht mehr bei ihr übernachtet. „Und es ist dir nicht in den Sinn gekommen, es mir gegenüber zu erwähnen?“
„Ich wollte deswegen keinen Streit.“
Sie hatte ihm gesagt, dass Robert nicht in der Lage sei, einen Job längere Zeit zu behalten, insbesondere wenn er dafür pendeln musste. Robert konnte nicht einmal regelmäßige Arbeitszeiten einhalten. Er blieb bis zur Morgendämmerung wach und schlief bis in den Nachmittag hinein. „Was macht er jetzt?“
„Ich habe ihm gesagt, er soll sich bis zum nächsten Ersten einen Job suchen, oder ich schmeiße ihn raus.“
Karen hätte sich über diese Nachricht gefreut, wenn sie diese Prozedur nicht schon so viele Male miterlebt hätte. John würde es niemals durchziehen. Er würde Robert noch eine Chance geben und dann noch eine und noch eine …
„Und wie läuft’s mit dir und Cain?“, fragte sie.
Ein Muskel zuckte in seiner Wange, als die Gabel mitten in der Luft verharrte. Nervös verschränkte sie die Finger auf ihrem Schoß. Es war ein Risiko, Cains Namen auch nur zu erwähnen. Aber sie hatte das Gefühl, sie sei ihm etwas schuldig. Nach dem, was vor zwölf Jahren geschehen war, konnten Cain und sie keine Freunde werden. Aber sie konnte ihren Einfluss geltend machen und versuchen, die Dinge zwischen ihm und seinem Stiefvater zum Besseren zu wenden. „Ich möchte nicht über Cain reden“, sagte er, als hätte er das nicht bereits hinlänglich deutlich gemacht.
„Ich frage doch nur, wie du mit ihm zurechtkommst. Das ist doch kein Drama.“ Karen wich seinem Blick aus und griff nach ihrem Glas.
„Ich gehe ihm mehr oder weniger aus dem Weg.“
Das überraschte sie nicht. „Du hast ihn also nicht gefragt, was er glaubt, wie das Gewehr dorthin gekommen ist, wo man es gefunden hat?“
„Warum sollte ich? Meinst du etwa, er würde zugeben, Jason umgebracht zu haben?“
„Ich glaube nicht, dass er Jason getötet hat.“
„Und genau darum will ich nicht mit dir darüber reden. Jedes Mal, wenn ich etwas gegen ihn sage, nimmst du ihn in Schutz.“
Der Vorwurf machte ihr gewaltig zu schaffen. „Ich versuche zu helfen“, erwiderte sie. „Du hast gesagt, dass du kaum noch schläfst.“
„Das ist nichts Neues. Ich habe seit Jahren Schlafprobleme, das weißt du doch.“
Sie wusste es. Das war die Ausrede, die er ihr nannte, warum er sich seit mehreren Wochen von ihr fernhielt. Er sagte, es würde ihm helfen, sich zu entspannen, wenn er rausgehen und in seiner Werkstatt an seinen Metalltieren arbeiten konnte. Oder dass er sie nicht wach halten wolle, weil er sich hin und her wälzte. Im Grunde war er so damit beschäftigt, Cain die Schuld zu geben, dass er seine Gesundheit aufs Spiel setzte und in all seinen Beziehungen Stress hatte. Einschließlich ihrer. „Ich mache mir Sorgen um dich“, gab sie offen zu.
Zum ersten Mal an diesem Abend hellte sich seine Miene auf, als er über den Tisch nach ihrer Hand griff. „Mach dir keine Sorgen! Mir geht’s gut.“
„Bist du sicher? Ich weiß, dass du manchmal wegen Jason deprimiert bist. Geht es darum?“
„Mir geht es gut“, sagte er noch einmal und drückte ihre Hand. „Ich liebe dich. Ich liebe dich vom ersten Moment an, als ich dich gesehen habe.“
Sie lächelte, weil sie nicht dasselbe sagen konnte. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, putzte er gerade ihr Klassenzimmer an der Whiterock Highschool. Sie war siebenundzwanzig, er zweiundvierzig. Sie hatte sein Interesse sofort gespürt, es aber nicht erwidert. Er zog vier Jungs groß, die allesamt eher in ihrem Alter waren als in seinem. Zwei von ihnen waren sogar ihre Schüler. Außerdem war er verheiratet, und seine Frau starb gerade an Krebs.
Seine Anrufe und Briefe hatte sie größtenteils ignoriert. Es war nicht nur seine Situation zu Hause, die sie abschreckte. Viel mehr hatte sie sich zu seinem charismatischen Stiefsohn hingezogen gefühlt, der in ihren Stunden immer in der letzten Reihe saß …
„Willst du noch Nachtisch?“, fragte John.
Plötzlich hatte Karen Lust auf Sex. Es war schon viel zu lange her. Sie musste sich vergewissern, dass John von der einen Sache, die ihre Beziehung zerstören würde, nichts wusste und es nie herausfinden würde. „Lass uns dafür zu mir gehen“, antwortete sie.
Es war spät, aber zum ersten Mal seit dem Überfall konnte Sheridan nicht schlafen. Sie hörte immer noch, wie Cain Roberts Aussage laut vorlas, hörte Amy behaupten, Cain hätte Jason aus Eifersucht erschossen. Aber das stimmte nicht.
Sie musste einfach nur jedem erzählen, was geschehen war, und die volle Verantwortung dafür übernehmen. Sie wusste, dass sie einiges zu erklären haben würde, wenn ihre Eltern davon erfuhren, und fühlte sich entsetzlich, wenn sie an das Gefühl der Schande und Verlegenheit dachte, das die Enthüllung bei ihnen auslösen würde. Aber wenn man Cain für irgendetwas die Schuld geben konnte, dann dafür, dass er seinen Sexappeal ausgenutzt hatte – nicht dafür, dass er seinen Stiefbruder umgebracht hatte.
Sie musste Amy auf der Stelle anrufen.
Sie kletterte aus dem Bett und stützte sich an den Möbeln und Wänden ab, um nicht umzukippen. Ihr Gleichgewichtssinn erholte sich langsam. Das Gehen bereitete ihr nicht mehr so große Schwierigkeiten wie gestern. Vielleicht lag es auch daran, dass sie unbedingt Amys Reaktion auf Roberts Aussage kontrollieren musste, ehe diese Hexenjagd völlig aus dem Ruder lief. Sie schaffte es bis ins Wohnzimmer und fand Cains Telefon ohne Probleme. Sie wusste Amys Nummer nicht, also rief sie bei der Telefonauskunft an.
Weil sie nichts zu schreiben hatte und ihr Kurzzeitgedächtnis nicht so funktionierte, wie sie es gewohnt war, wiederholte sie die Nummer immer wieder, bis sie gewählt hatte. Schließlich klingelte das Telefon, und sie wartete begierig darauf, die Dinge ins rechte Licht zu rücken.
Doch es war nicht Amy, die schließlich abnahm, sondern ein Mann.
„Hi?“
Sheridan stutzte. Hatte sie sich verwählt? Sie glaubte nicht. „Ist Amy da?“
„Wer ist da?“
„Sheridan Kohl.“
„Sheridan.“ Sie hörte ein leises Lachen. „Hier ist Tiger.“
Natürlich. Sie erinnerte sich, dass Cain ihr erzählt hatte, Amy und Tiger seien zusammen. Der verschlafenen Stimme nach zu urteilen und der Selbstverständlichkeit, mit der er bei Amy ans Telefon gegangen war, schien es etwas Ernstes zu sein. „Hallo, Tiger. Wie geht’s?“
„Auf jeden Fall besser als früher, als wir zusammen waren.“
Sheridan beschloss, nicht auf diesen verbalen Hieb einzugehen. „Ich muss mit Amy sprechen, wenn es geht.“
„Tut mir leid, aber sie ist ziemlich müde. Sie hat sich den ganzen Abend darüber schlapp gelacht, dass dein Geheimnis gelüftet ist. Miss Rührmichnichtan hat sich von Cain Granger vögeln lassen! Ich fand es auch witzig.“
Sheridan schluckte heftig. „Genau darüber will ich mit ihr reden.“
„Sag mir eins“, sagte er.
Sie packte das Telefon fester, als seine Stimme einen vertraulichen Klang bekam. „Was?“
„War es das wert?“
„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich muss mit Amy sprechen.“
„Ich meine dich und Cain.“ Offensichtlich würde er das Telefon nicht an Amy weiterreichen, bis er seine Rache gehabt hatte. „War es das wert, mit jemandem Schluss zu machen, der dich wirklich geliebt hat, um mit einem Kerl rumzumachen, der sich einen Scheiß um dich kümmert?“
Sheridan holte tief Luft. Reagier nicht darauf! Da wird noch mehr kommen. Viel mehr. Tiger war nur der Erste. „Du hast recht“, sagte sie. „Cain hat sich einen Dreck um mich gekümmert. Er hat bekommen, was er wollte, und ist dann weitergezogen. Hilft es dir, wenn ich das eingestehe?“
Ihre offenherzige Antwort schien ihn zu überraschen, und sie tröstete sich mit der Vorstellung, dass es ihm kein Stück weiterhalf.
„Ich hätte dich ganz anders behandelt.“
Amy hatte offensichtlich etwas gegen Tigers Anteil an der Unterhaltung einzuwenden und unterbrach ihn mit einer bissigen Bemerkung. Tiger bedeckte den Hörer, aber Sheridan konnte ihn trotzdem hören. „Ich habe mich um sie gekümmert, okay? Bestimmt mehr als er. Und sie hat mich hintergangen“, fügte er hinzu und sprach jetzt wieder in den Hörer.
Sheridan verdrehte die Augen. „Du wolltest genau dasselbe wie er, Tiger! Bei jeder Gelegenheit hast du versucht, mir die Hand unter den Pullover zu schieben.“
„Und du hast dich nie anfassen lassen! Ich konnte dir ja nicht einmal einen Zungenkuss geben, ohne dass du dich abgewendet hast!“
„Es ist zwölf Jahre her! Mehr als zwölf Jahre, seit wir zusammen waren. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?“
„Es ist nur die Ironie. Das ist alles“, sagte er mürrisch. „Miss Rührmichnichtan macht für mich nicht mal den Mund auf, aber Cain braucht nur mit den Fingern zu schnipsen, und schon macht sie die Beine breit.“
Sheridan rieb sich die Schläfen. „Bist du fertig damit, mich wie einen Haufen Dreck zu behandeln?“
Er antwortete nicht, aber Amy kam ans Telefon. „Was willst du?“
„Versuchen, dich davon abzuhalten, zu weit zu gehen. Ja, ich habe mit Cain geschlafen. Ich habe es sogar genossen. Aber er hat sich nichts aus mir gemacht, und das weißt du. Er hat mich ins Wohnmobil mitgenommen und mich danach nie wieder angeschaut, das war alles. Ein Junge bringt wegen einer schnellen Nummer keinen anderen Jungen um.“
Sie hörte eine Bewegung im anderen Zimmer, ignorierte sie aber. Sie musste Amy davon überzeugen und musste die ganze Geschichte stoppen, ehe Ned anfing, in die falsche Richtung zu ermitteln. Das war Cain gegenüber nicht fair. Und es war wichtig, dass Amy und ihr Bruder sich auf den wahren Mörder konzentrierten, auf die Person, die sie zwei Mal ins Krankenhaus gebracht hatte.
„Es geht hier noch um andere Dinge, Sheridan“, erwiderte Amy. „Dinge, von denen du keine Ahnung hast.“
„Wie die Tatsache, dass du noch ein Hühnchen zu rupfen hast?“
Amy schnaubte. „Mein Privatleben geht dich nichts an.“
„Dann benutz auch nicht das, was zwischen Cain und mir war, als Waffe gegen ihn.“
„Halt dich da raus, und lass mich meine Arbeit machen.“
„Du hörst nicht zu.“
„Robert hat mir alles erzählt, was ich wissen muss.“
Cain war hinter ihr aufgetaucht, Sheridan spürte seine Gegenwart. Er stand nur wenige Schritte entfernt.
„Amy, das ist nicht richtig! Du bist die Einzige, die ich kenne, die eifersüchtig genug ist, um jemandem wehzutun.“
Es folgte ein langes Schweigen. Schließlich sagte Amy: „Das habe ich jetzt nicht gehört.“
„Es ist die Wahrheit. Du benutzt eine Sechzehnjährige …“
Cain nahm ihr das Telefon aus der Hand und legte auf. Sheridan blickte überrascht auf. Er trug eine Jeans, die nicht vollständig zugeknöpft war, kein T-Shirt und keine Schuhe. Offensichtlich kam er wie sie gerade aus dem Bett.
„Was sollte das?“, fragt sie.
„Du verschwendest nur deinen Atem“, sagte er. „Bei ihr bewirkst du damit gar nichts.“
„Aber sie lenkt die Ermittlungen in die falsche Richtung! Und in der Zwischenzeit läuft jemand, der wirklich gefährlich ist, immer noch frei herum. Ich weiß das. Er hat mich als Sandsack benutzt.“
Cain antwortete nicht sofort.
„Hörst du mir zu?“
„Woher weißt du, dass ich nicht auf Jason und dich geschossen habe?“
Er meinte es ernst. Trotz der Dunkelheit spürte sie seine bohrenden Blicke und die Anspannung, unter der er stand. Sie wollte nicht antworten. „Ich weiß es einfach.“
„Woher?“
„Weil der Junge, der mich zum ersten Mal berührt hat, alles getan hat, um mir ja nicht wehzutun“, antwortete sie schließlich.
Sie vermutete, dass er darauf bestehen würde, ihr zurück ins Bett zu helfen. Aber das tat er nicht. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.
Am nächsten Morgen fand Sheridan einen Topf mit Salbe auf dem Nachttisch. „Was ist das?“, rief sie.
Das Klappern der Töpfe und Pfannen in der Küche verriet ihr, dass Cain wach war und das Frühstück zubereitete. „Was ist was?“, rief er zurück.
„Dieses … Zeug.“
Koda und Maximilian stießen mit der Schnauze die Tür auf und bellten ihr ein „Guten Morgen“ zu. Quixote musste bei Cain geblieben sein, denn Sheridan entdeckte ihn nirgends.
„Es ist eine Salbe, die ich gemacht habe.“ Einen Moment lang war es still, als das Wasser lief, dann fügte Cain hinzu: „Zieh dich aus, und creme dich überall damit ein. Es wird gegen die Schmerzen und die Prellungen helfen.“
Sie drehte den Deckel auf und schnupperte. „Igitt! Das werde ich mir nirgendwohin schmieren. Das riecht ja fürchterlich!“
Er antwortete nicht. Das Telefon hatte geklingelt, und sie hörte seine Stimme, die zu ihr herüberwehte. Er schien nicht besonders glücklich über den Anruf zu sein.
Vielleicht war es Amy? Sie stellte die Salbe zur Seite und wartete ab, was passieren würde. Schließlich tauchte Cain in der Tür auf.
„Schlechte Nachrichten?“, fragte sie.
Frisch geduscht, mit nassem Haar und sauber rasiertem Kinn, lehnte Cain sich an den Türrahmen. „Zumindest keine gute. Ned kommt vorbei. Er will dir ein paar Fragen stellen.“
Sie runzelte die Stirn. „Über die Nacht im Wohnmobil?“
„Er sagte, über die Nacht, in der Jason erschossen wurde, aber wir wissen beide, dass er sich dem Thema über die Geschichte mit dem Wohnmobil nähern wird. Das ist die einzige neue Information, die er hat. Ich hätte ihm fast gesagt, er solle wegbleiben, aber …“
„Aber wenn wir kooperieren, macht er vielleicht nicht so eine große Sache draus.“
„Genau. Im Moment ist es am besten, wenn wir zugeben, was passiert ist, und so tun, als hätte es keine Rolle gespielt, damit er und Amy nichts in der Hand haben.“
Und wenn ihre Kooperationsbereitschaft Amys Eifersucht nicht besänftigte? War Sheridan vorbereitet auf die Reaktionen in Whiterock auf ihre vergangenen Sünden? Ihre Eltern würden demnächst von ihrer Kreuzfahrt zurückkommen.
Cain stieß sich von der Wand ab und kam näher. „In ein paar Tagen geht es dir vielleicht wieder gut genug, damit du nach Hause fliegen kannst.“
Sie öffnete den Topf und begann die Salbe trotz des Geruchs auf die hässlichen gelben Flecken an ihren Beinen aufzutragen. „Du schlägst vor, dass ich die Stadt verlasse?“
„Auf diese Weise könntest du dem üblen Gerede aus dem Weg gehen.“
Sie hob die Augenbrauen. „Bist du es leid, den Babysitter für mich zu spielen?“
„Ich will nur, dass du in Sicherheit bist.“ Er nahm den Topf in die Hand. „Zieh dein Shirt aus, und leg dich hin. Ich creme dir den Rücken ein.“
Sie wandte sich ab, zog ihr Top aus und tat wie geheißen. Vor allem weil sie glauben wollte, dass eine Berührung von Cain mehr bedeutete als von jedem anderen Mann. „In Kalifornien laufen vermutlich Dutzende gefährliche Leute herum, die mich am liebsten tot sähen“, sagte sie und lächelte ihm über die entblößte Schulter zu. „Ich scheine diesen Wunsch in den Menschen hervorzurufen.“
Er berührte ihren Rücken und massierte die Salbe in ihre angespannten Muskeln ein. „Du willst also bleiben?“
„Bis ich hier fertig bin.“
„Du bist echt verrückt!“
„Kann sein.“ Sie unterdrückte ein Stöhnen, als seine kräftigen Finger sich auf einen harten Punkt an ihrem Hals konzentrierten. „Aber es ist sinnlos, sich den Kampf für einen anderen Tag aufzuheben. Die Spuren, die der Angreifer hinterlassen hat, werden nur kälter werden.“
„Du weißt, dass Amy tun wird, was sie kann, um dich zu demütigen.“
Es war so leicht, seine Berührungen zu genießen. Es war Ewigkeiten her, seit sie mit einem Mann zusammen gewesen war – und Cain war schließlich nicht irgendein Mann. „Ich habe es verdient. Ich war so naiv.“
Er hielt seine Hände still. „An Unschuld ist doch nichts Falsches.“
„Bis auf die Blödheit, die so oft damit einhergeht. Du wirst die Lacher auf deiner Seite haben.“
Seine Stimme wurde tiefer. „Meinst du, mir gefällt es, dass ich dich verletzt habe?“
„Du bist nicht rachsüchtig wie Amy. Aber es muss dich doch amüsiert haben, dass eine Musterschülerin so leichtgläubig sein kann.“
Er begann erneut, ihren Rücken zu massieren. „Es amüsiert mich, dass du glaubst, du seist heute so viel klüger.“
„Das bin ich.“
„Denn jetzt weißt du, dass mich nur die Frage interessiert, wie ich die nächste Frau ins Bett kriege?“
Sie schob ihr Haar zur Seite, damit er die fürchterlich stinkende Salbe nicht hineinschmierte. „Du scheinst dich nicht besonders darum zu kümmern, Frauen ins Bett zu bekommen. Ich glaube, du hast dich verändert. Aber egal, ich bedaure die Lektion, die du mir erteilt hast, nicht. Nur meine eigene lächerliche Reaktion darauf.“
Sie spürte ein erneutes kurzes Zögern in seinen Bewegungen. „Was für eine Lektion habe ich dich gelehrt? Dass Männer Schweine sind? Dass sie nur das eine wollen? Dass Sex nicht das ist, wofür du es mit sechzehn gehalten hast?“
Sie wollte sich nicht in eine Diskussion verwickeln lassen. Ihr war ihre jugendliche Schwärmerei noch immer peinlich. Sie würde vor der ganzen Stadt wie eine Hochstaplerin und Lügnerin dastehen. „Zum Glück bedeuten ,dumm’ und .abgebrüht’ nicht dasselbe. Ich habe nur gelernt, was jede Frau wissen sollte.“
„Und das ist …“
Die Augen fielen ihr zu. „Man muss aufpassen, wem man vertraut.“
„Und dafür darf ich die Lorbeeren einheimsen? Ich Glückspilz!“
Seine Hände strichen an beiden Seiten ihres Rückens entlang und kneteten sanft die Muskeln. Sie dachte daran, zu behaupten, sie hätte es auch noch woanders gelernt, aber er war nun einmal derjenige gewesen, der sie gezwungen hatte, die rosarote Brille abzunehmen. „Wie ich schon sagte: Es war eine gute Lektion“, murmelte sie, das Gesicht auf den Arm gepresst.
„Das hast du schließlich auch verdient, nachdem du dich mit dem falschen Jungen eingelassen hast.“
Sie schlug die Augen auf. Worauf wollte er hinaus? „Mehr oder weniger“, sagte sie. „Aber egal, jetzt, wo unser kleiner Fehltritt raus ist, werden sie dich wegen der Schießerei misstrauisch beäugen. Das weißt du.“
„Sie begegnen mir ohnehin mit jeder Menge Misstrauen.“
„Amy wird das auf keinen Fall auf sich beruhen lassen.“
„Ich habe deinetwegen den Mund gehalten, nicht meinetwegen.“
Aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm. Vielleicht war er nicht in sie verliebt gewesen, so wie sie in ihn, aber er war ehrenhaft genug gewesen, um nicht damit anzugeben, was er getan hatte. „Machst du dir keine Sorgen?“
„So weit würde ich nicht gehen. Ich denke nur, du solltest von hier verschwinden, ehe es noch unangenehmer wird.“
„Ich weigere mich, ein zweites Mal vor der Person davonzulaufen, die mich vor zwölf Jahren schon einmal davongejagt hat. Wenn ich jetzt mit meiner Ausbildung nicht für den Kampf gewappnet bin, dann werde ich es nie sein.“
„Was für ein Kampf soll das sein?“
„Ich werde ihn erwischen.“
„Wie?“
„Ich werde selbst den Köder spielen, wenn es sein muss.“
Cain stellte den Topf mit der Salbe auf den Nachttisch und trat zurück. „Rede nicht so darüber.“
„Manchmal muss man Feuer mit Feuer bekämpfen.“ Sie fühlte sich seltsam verwegen, drehte sich um und setzte sich auf – und begann, die Salbe auf die Prellungen auf ihrer Brust aufzutragen. Als sei er absolut keine emotionale Bedrohung für sie. Als sei er eine gute Freundin.
Cain räusperte sich. „Für den Fall, dass du es nicht bemerkt hast: Ich bin immer noch im Zimmer!“
Angesichts seiner verblüfften Miene verbarg sie ein Lächeln. „Na und? Du hast mich bereits gesehen, das hast du selbst gesagt. Und die Vergangenheit liegt hinter uns. Ich bin über diesen Aberglauben, der erste Mann sei etwas ganz Besonderes, hinweg.“
„Das merke ich.“ Er nahm ihr die Salbe aus der Hand.
„Was tust du da?“, fragte sie nervös.
„Wenn ich keine Versuchung mehr für dich bin, kann ich dir genauso gut helfen. Das ist eine rein medizinische Angelegenheit. Als sei ich der Arzt und du meine Patientin. Ist es nicht so?“ Seine mysteriösen grünen Augen schienen sie zu fesseln, während seine Hände, bedeckt mit der glitschigen Salbe, über ihre Brüste glitten.
Die Erregung in Sheridan schwoll so schnell und heftig an, dass sie fast glaubte, ohnmächtig zu werden. Und dann tanzten seine Fingerspitzen auch noch über ihre Knospen … Oh Gott! Er durfte auf keinen Fall bemerken, was er damit in ihr auslöste!
„Wenn man Feuer mit Feuer bekämpft, wird man manchmal von den Flammen verzehrt“, flüsterte er.
Starrköpfig reckte sie das Kinn in die Höhe und weigerte sich, zurückzuweichen oder sich zu bedecken. Sie wollte beweisen, dass er ihr gleichgültig war, dass sie dieses Mal diejenige sein würde, die am Ende ging.
Aber es dauerte nicht lange, bis sie zu zittern begann. Sie nahm ihm den Topf mit der Salbe aus der Hand, damit er es nicht merkte, rang sich ein höfliches Lächeln ab und rutschte aus der Reichweite seiner Hände. „Ich glaube, das reicht, meinst du nicht?“
Die Türklingel ertönte, doch er blieb, wo er war. Er senkte den Blick, schien das, was er sah, verschlingen zu wollen.
Schließlich wandte er sich ab, nur um an der Tür noch einmal innezuhalten. „Führ mich nie wieder so in Versuchung! Es sei denn, du hast vor, mit mir zu schlafen.“
Er scherzte nicht.
Sheridan war so atemlos, dass sie nicht sicher war, ob die Stimme ihr gehorchen würde. Aber sie hatte nicht vor, diesem Mann ein zweites Mal zu erliegen. Sie hatte ihre Lektion bereits gelernt – auf die harte Tour.
„Ah … klar“, murmelte sie. „Ich ruf dich dann.“