7. KAPITEL
John Wyatt schlief zurzeit nicht besonders gut, also hatte er sich eine Woche freigenommen. Er arbeitete als Hausmeister an der Highschool und war schon so lange an der Schule, dass er genügend Urlaub angespart hatte, den er ohnehin irgendwann nehmen musste. Doch er hätte sich mit ein, zwei Tagen begnügen sollen. Sobald der Urlaub länger dauerte, hatte er zu viel freie Zeit. Er wusste nicht, wie lange er schon auf das Bild seines Sohnes starrte, den er mehr geliebt hatte als alles andere auf der Welt. Er wusste nur, dass Jason fort war. Für immer.
Manchmal fiel es John selbst nach zwölf Jahren noch schwer, das zu glauben. Dann wachte er morgens auf und glaubte, er hätte einen Sohn, der alles war, was ein Mann sich nur wünschen konnte, einen Sohn, auf den er stolz sein konnte. Und dann fiel ihm ein, dass die einzigen Kinder, die er noch hatte, Robert und Owen waren. Robert, an dem es nichts zu bewundern gab, und Owen, der so gebildet und zurückhaltend war, dass er fast … kauzig war. Cain zählte er natürlich nicht. John hatte seinen Stiefsohn noch nie mitgezählt.
Er hob den Blick zu der kleinen Schachtel, die er in der Hand hielt, zögerte und öffnete schließlich den Deckel. Auf dem blauen Samt funkelte der Diamantring mit einem halben Karat. Vor fast einem Monat hatte er ihn für seine Freundin Karen gekauft. Er hatte geplant, um ihre Hand anzuhalten, indem er mitten während ihrer Englischstunde in den Klassenraum ging und ihr vor allen Schülern einen Antrag machte. Er wusste, dass es den Kids großen Spaß machen und dass Karen die Aufmerksamkeit genießen würde. Sie hatte es verdient, dass ihr erster Heiratsantrag etwas ganz Besonderes wurde.
Doch diese Pläne hatte er gemacht, bevor man die Waffe, mit der Jason getötet worden war, in Cains Blockhütte gefunden hatte.
Mit einem bitteren Lachen klappte John den Deckel zu und stand auf, um den Ring zurück in die Schublade mit der Unterwäsche zu werfen. Er würde ihr den Antrag irgendwann machen. Er und Karen waren füreinander bestimmt. Sie war die Belohnung, die er sich nach all den Jahren der Traurigkeit verdient hatte, seit seine erste Frau bei Roberts Geburt gestorben war.
Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu verloben. Die Nachricht würde nicht für so viel Aufsehen sorgen, wie er es sich wünschte. Sie konnte nicht gegen das Auftauchen des Gewehrs oder die Rückkehr der ach so armen Sheridan Kohl konkurrieren.
Eine frische Welle des Hasses ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Es war ihre Schuld gewesen, dass Jason überhaupt am Rocky Point gewesen war! Es war ihre – und Cains – Schuld, dass Jason tot war. Als ob das nicht genügte, gab es noch genügend andere Dinge, die er seinem Stiefsohn ankreiden konnte. Er hatte zum Beispiel Johns zweite Ehe ruiniert. Wie oft hatte Julia im Streit Partei für ihren Sohn ergriffen? Praktisch immer. Julia war nicht annähernd so fügsam gewesen wie seine erste Frau. Mit Linda war John glücklich gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären sie heute immer noch verheiratet. Dann wäre nichts von all diesen schrecklichen Dingen geschehen. Er hätte Julia nie in dieser schmierigen Strip-Bar in Nashville kennengelernt, in der sie als Kellnerin gearbeitet hatte, und wäre nie auf ihre Schönheit hereingefallen. Er hätte sich nie um sie kümmern müssen, als sie an Brustkrebs erkrankte. Er hätte sich nie mit einem Stiefsohn belasten müssen, den er nicht einmal mochte. Er hätte sich nicht ständig von seinem Vater tadeln lassen müssen, Cain angeblich nicht fair zu behandeln.
Aber es war vor allem der Verlust Jasons, der an ihm nagte und der es ihm fast unmöglich machte, Cain anzublicken.
Das Telefon klingelte.
John ließ sich aufs Bett fallen, sah die Nummer des Anrufers und nahm ab. Es war Karen.
„Wolltest du nicht mit mir zusammen zu Mittag essen?“, fragte sie.
John blinzelte und wurde sich plötzlich bewusst, dass eine Menge Zeit verstrichen sein musste, ohne dass er es bemerkt hatte. Er warf einen Blick auf den Wecker. Es war bereits Nachmittag. Manchmal verlor er sich so in seinen Gedanken, dass ihm jeder Kontakt zur Wirklichkeit abhandenkam. Dass es ihm schon wieder passiert war, beunruhigte ihn. War das der Beginn der Alzheimerkrankheit?
Um Himmels willen, er wollte nicht wie Marshall enden und von seinen eigenen Kindern nur noch bemitleidet werden! „Ja, äh, natürlich“, sagte er und versuchte, sein seelisches Gleichgewicht zurückzugewinnen.
„Und wo steckst du? Erzähl mir nicht, dass du schon wieder mit deinem Schweißbrenner zugange bist.“
Er hatte ein kleines Nebengeschäft übers Internet aufgebaut, in dem er Rasendekorationen verkaufte, Tierfiguren, die er aus Schrott zusammenschweißte. Normalerweise verbrachte er nur die Samstagvormittage in seiner Schweißerwerkstatt, aber jetzt, wo er frei hatte, verbrachte er mehr Zeit dort. „Doch, bin ich.“ Er wollte ihr nicht sagen, dass er ihre Verabredung vergessen hatte, schließlich hatte er ihr erst vor einer halben Stunde eine SMS geschickt, dass er kommen würde. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er, und er wollte ihr keine Angst einjagen. Nachher kam sie noch auf die Idee, er könnte psychische Probleme haben. Dann würde sie ihn nie heiraten.
„Wo ist denn dein Handy? Ich habe dich angerufen, aber du bis nicht rangegangen.“
Es lag im Wohnzimmer, wo er es nicht hören konnte. „Ich muss den Ton ausgestellt haben.“
„Dann stell ihn wieder an. Und beeil dich! Wenn du nicht bald kommst, habe ich keine Zeit mehr.“
Er massierte sich die Schläfen und sagte sich, dass andere Menschen ebenfalls gelegentlich Verabredungen zum Lunch vergaßen. „In fünf Minuten bin ich da“, versprach er.
Der Helligkeit draußen vor dem Fenster nach zu urteilen, war es mindestens später Vormittag, vielleicht auch früher Nachmittag. Es war ihr erster Tag in Cains Haus, doch Sheridan konnte niemanden hören. Sie lag mehrere Minuten ruhig da und lauschte in die vollkommene Stille. War sie allein?
Sie drehte sich zur Seite und suchte nach einem Telefon auf dem Nachttisch.
Dort stand keins. Sie lag im Gästezimmer, das vermutlich nur selten benutzt wurde. Sie konnte nachvollziehen, dass es hier keinen eigenen Anschluss gab. Aber sie wollte The Last Stand anrufen, um mit Jonathan oder Skye oder Ava zu reden, und anschließend mit Jasmine telefonieren.
Aber was sollte sie ihnen eigentlich erzählen? Alle hatten ihr geraten, nicht nach Whiterock zurückzukehren. Besonders Jonathan hatte darauf bestanden, dass dort nur Kummer und Elend auf sie warteten. Er glaubte nicht, dass ein Gewehr ohne jeden Fingerabdruck neue Erkenntnisse liefern würde. Aber Sheridan sehnte sich so verzweifelt nach Antworten, dass sie die Reise trotzdem unternommen hatte. Und jetzt lag sie verletzt in Cains Gästebett. Sobald ihre Freunde das hörten, würden sie entweder sofort an ihre Seite eilen, was sie nicht hinnehmen konnte, da die meisten von ihnen Familie hatten, oder sie würden sie anflehen zurückzukommen.
Sheridan war weder die eine noch die andere Reaktion willkommen. Sie wollte nicht das Leben der anderen durcheinanderbringen, schließlich war es ihre eigene Entscheidung gewesen hierherzukommen. Doch ebenso wenig war sie bereit, zurückzukehren, bevor sie hier fertig war. Der Angriff auf sie hatte weitere Fragen aufgeworfen – und sie in ihrer Entschlossenheit bestärkt, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Schließlich war sie fast froh, kein Telefon in Reichweite zu haben, weil sie es so hinauszögern konnte, sich bei ihren Freunden zu melden. Mit beiden Händen strich sie ihr Haar glatt und rief laut: „Hallo? Ist jemand zu Hause?“
Sie hasste es, so abhängig und hilflos zu sein, hasste das Gefühl, dass sie Cain mehr Arbeit und Ärger aufhalste, als sie von einem alten Bekannten verlangen durfte. Aber sie musste etwas trinken, und sowohl er als auch der Arzt hatten ihr verboten, schon aufzustehen.
Glücklicherweise schien Cain die zusätzliche Mühe nichts auszumachen. Gestern Abend hatte er ihr beim Essen geholfen und sie ganz behutsam gewaschen. Sie hatte den Eindruck gewonnen, er würde es genießen, sich um sie zu kümmern, so wie er sich gerne um alle anderen Lebewesen auf seinem Grundstück kümmerte. Zumindest war er spielend damit fertig geworden.
Niemand antwortete auf ihr Rufen, doch eine schwarze Schnauze schob sich durch die Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Einer von Cains Hunden schien ihre Bekanntschaft machen zu wollen.
„Hallo“, sagte sie, aber der Hund kam nicht sofort zu ihr. Er zögerte, als wollte er abwarten, ob Cain seinen Befehl, nicht einzutreten, wiederholen würde. Als das nicht geschah, quetschte er sich schließlich durch den Türspalt und kam herein. Dann stand er da, legte den Kopf schräg und schien herausfinden zu wollen, wer sie war und was sie im Haus seines Herrn zu suchen hatte.
„Du musst einer der Hunde sein, die mir das Leben gerettet haben.“
Ein großer dünner Mann mit jungenhaft strubbeligem Haar und einer streberhaften Brille trat hinter dem Hund in den Raum. Es konnte sich nur um Owen handeln. Er trug ein Tablett mit einer Tasse und einer Schüssel darauf. „Das ist Koda.“
Sie richtete sich im Bett auf. „Wie ich gehört habe, schulde ich ihm eine Menge.“
„Er ist ein guter Hund, aber wenn er es nicht wäre, wäre es auch egal. Cain macht aus jedem Hund einen guten Hund und bringt ihn dazu, auf einen Pfiff oder ein Nicken hin zu gehorchen. Meine Hunde haben nie Ruhe gegeben, und sie sind allem nachgerannt, was lecker roch.“ Er schwieg nachdenklich. „Koda gehörte früher mal mir. Er hat nie gemacht, was ich ihm gesagt habe. Aber wenn Cain ihm befehlen würde, nichts zu essen, würde er sich zu Tode hungern.“
Sie versuchte, nicht zu lachen, weil sie Kopfweh davon bekam, doch sie kicherte leise. „Wie geht es dir, Owen?“
„Besser als dir, zumindest in der letzten Woche.“
„Das ist auch nicht weiter schwer.“
„Nein.“
„Cain hat mir erzählt, du hättest eine fantastische Frau und ein paar Kinder.“
Er wurde rot. „Ich habe ein paar mehr Mäuler zu füttern.“
Sheridan lächelte, milde überrascht, wie viel gewandter Owen im Umgang mit anderen geworden war, jetzt, wo er reifer war. In der Highschool war er immer wesentlich jünger als die anderen Schüler gewesen. Direkten Kontakt hatte er stets vermieden und es vorgezogen, für sich zu bleiben oder sich am Rand einer Gruppe zu halten. Sobald Sheridan sich ihm genähert hatte, hatte er seine Schuhspitzen angestarrt und einsilbige Antworten gegeben.
„Er sagte, deine Frau passt auf, dass du dich nicht völlig verzettelst.“
„Aber nur, weil ich mich nicht traue, sie zu verärgern.“ Grinsend stellte er das Tablett auf dem großen Nachttisch ab, der genauso maskulin wirkte wie der Rest von Cains Einrichtung. Nach dem, was Sheridan gesehen hatte, siegte in seinem Haus die Bequemlichkeit über einen schicken Stil. Mit dem vielen Holz herrschte eine Atmosphäre wie in einer Blockhütte, und jeder Raum war sauber.
„Du hast mir meinen Lunch gebracht, wie ich sehe.“
„Cain musste in die Stadt. Er bat mich, nach dir zu sehen -und gab mir die strikte Anweisung, dass ich dich wecken und dir etwas zu essen geben sollte, falls du bis Mittag nicht selbst aufgewacht bist. Ich wollte dir noch fünf Minuten geben, dein Timing ist also echt perfekt.“
„Ist er Sanitäter oder Tierarzt oder so etwas?“ Sie hatte sich zwar vergewissert, dass er kein Cop war, aber darüber hinaus hatte sie Cain nicht gefragt, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Entweder war sie von den Medikamenten zu benebelt gewesen, oder sie hatte sich zu viele Sorgen und Gedanken um ihre Genesung gemacht. Doch die Fürsorge, die er ihr von Anfang an entgegengebracht hatte, legte den Schluss nahe, dass er im Umgang mit Verletzungen geübter war als die meisten Menschen.
„Er arbeitet für die Tennessee Wildlife Resources Agency, die staatliche Naturschutzbehörde. Er ist für ein riesiges Gebiet in öffentlichem Besitz zuständig, das direkt an dieses Grundstück grenzt.“
„Den Wald?“
„Für den größten Teil davon. Außerdem päppelt er die Tiere von anderen Leuten auf – im Grunde eigentlich jedes Tier –, einfach weil er gut darin ist. Zum Glück macht er mir noch keine Konkurrenz, indem er seine Fähigkeiten zur Heilung von Menschen einsetzt“, fügte er mit einem betrübten Lächeln hinzu.
„Ich bin also eine Ausnahme?“ Wie es aussah, war sie jetzt offiziell Cains Patientin.
„Du bist nur ein weiterer Vogel mit gebrochenem Flügel“, sagte er. „Aber keine Sorge! Cain wird den Käfig aufmachen, sobald du wieder in der Lage bist zu fliegen.“
Sheridan wusste nicht, was sie auf diese seltsame Bemerkung erwidern sollte. Wollte Owen sie warnen oder beruhigen? Sheridan glaubte, eher Ersteres. „Was ist zwischen ihm und Amy gelaufen?“, fragte sie.
Koda knurrte, als würde ihm das Thema nicht gefallen, aber ein rascher Blick in seine Richtung zeigte, dass er allein an ihrem Essen interessiert war.
„Geh, und zernag die Möbel“, sagte Owen zu ihm, doch Koda legte sich nur auf den Boden und wedelte mit dem Schwanz.
„Ich glaube nicht, dass du ihn dazu bringen könntest, irgendetwas zu tun, das Cain nicht will“, sagte sie zwischen zwei Löffeln Suppe.
„Ich konnte ihn überhaupt nicht dazu bringen, mir zu gehorchen. Darum habe ich ihn ja Cain gegeben.“
Sie schluckte, ehe sie ihn hoffnungsvoll anlächelte. „Erzählst du mir von Amy?“
Die Frage schien ihn zu ärgern. „Warum willst du das wissen?
Bei der plötzlichen Veränderung in seiner Stimmung runzelte Sheridan die Stirn. „Vor allem aus Neugier. Ich bin vor zwölf Jahren weggegangen. Das Letzte, was ich weiß, ist, dass sie ihm wie eine liebeskranke Närrin nachgerannt ist, aber er hatte kein Interesse.“
„Immerhin war sein Interesse groß genug, um sie zu schwängern.“
Ein Anflug von Eifersucht traf sie wie ein leiser Stich, trotzdem schaffte sie es, zu lächeln. „Hat er sie deswegen geheiratet?“
„Aus Liebe bestimmt nicht.“
„Du meinst also, sie hat versucht, ihn hereinzulegen?“
„Bei Amy kann man nie wissen. Sie würde alles tun, um ihn zu bekommen, selbst jetzt noch.“
Gestützt auf das, was sie gesehen hatte, musste Sheridan zustimmen. „Und … das Kind lebt jetzt bei ihr?“
„Ein paar Wochen nach der Hochzeit hatte sie eine Fehlgeburt.“
„Weiß irgendjemand mit Sicherheit, dass das Kind wirklieh existiert hat? Sie hätte es doch einfach nur behaupten können.
„Cain ist nicht dumm“, erwiderte Owen. „Er ist mit ihr zu einer Ultraschalluntersuchung gegangen, ehe er sie geheiratet hat. Sie war wirklich schwanger.“
„Hat er sich überhaupt gefreut? Auf das Baby, meine ich.“
„Ich denke, freuen ist nicht ganz der richtige Ausdruck.“
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Und was hat er nach der Fehlgeburt gemacht?“
„Die Scheidung eingereicht.“
„Hat die Fehlgeburt ihn nicht traurig gemacht?“
„Cain hat mit mir nie darüber geredet. Er ist sehr verschwiegen, und ich bezweifle, dass er mit irgend) emandem darüber geredet hat. Aber ich vermute, dass er noch so jung war, dass er selbst nach der Ultraschalluntersuchung noch nicht das Gefühl hatte, es gäbe tatsächlich ein Baby. Er benahm sich, als sei die Schwangerschaft eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung, von der er noch einmal eine Gnadenfrist eingeräumt bekam.“
„Also war er erleichtert.“
„Ich hatte den Eindruck, er war zutiefst erleichtert. Mir gegenüber hat er einmal erwähnt, dass seine Beziehung zu Amy keine stabile Grundlage sei, um eine Familie zu gründen. Aber das wussten wir natürlich schon vorher.“
„Von ihm verlassen zu werden muss Amy sehr verletzt haben.“ Sheridan empfand Mitgefühl für sie. Aber wenn Amy absichtlich schwanger geworden war, hätte sie mit Schwierigkeiten rechnen müssen. Zu versuchen, einen Mann wie Cain in die Ecke zu drängen, war mehr als riskant, es war geradezu tollkühn.
„Ihrer Verbitterung nach zu urteilen, war sie es bestimmt.“
„Also …“
Er hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. „Wenn du nur lange genug hierbleibst, wirst du alle naselang Geschichten über Cain und Amy hören. Sie kann die Vergangenheit nicht loslassen. Sie kann ihn nicht loslassen.“ Owen nahm ihr den Löffel aus der Hand und reichte ihr den Becher mit einem warmen Getränk.
„Was ist das?“
„Cains Spezialkräutermischung.“
„Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass es Medizin ist.“
Owen setzte sich an ihre Seite. „Was ist mit dir?“
„Mit mir?“
„Bist du verheiratet?“
Sie aß weiter, aber ihre Bewegungen waren noch ziemlich unsicher, und sie fürchtete, die Bettdecke vollzutropfen. Die Schläge hatten ihre motorischen Fähigkeiten eingeschränkt -eine weitere Sache, um die sie sich Sorgen machte. „Nein. Ich habe nicht einmal einen festen Freund.“
„Warum nicht?“
„Ich habe meine Arbeit über die Liebe gestellt.“ Es war eine traurige Beschreibung ihres Lebens mit achtundzwanzig, aber The Last Stand war ihre einzige Leidenschaft geworden. Skye, sie selbst und ihre neue Partnerin Ava arbeiteten Tag und Nacht, und es war immer noch nicht genug, um die gewaltige Nachfrage zu befriedigen.
Und jetzt konnte sie überhaupt nicht arbeiten. Schon eine ganze Weile lang.
„Ned hat mir erzählt, dass du eine Organisation gegründet hast, die sich für die Opfer von Gewaltverbrechen engagiert.“
„Verstehst du dich gut mit ihm?“ Aufgrund der Spannungen zwischen Cain und Ned hätte sie nicht damit gerechnet.
Er machte eine unbestimmte Geste. „Wir haben als Kinder zusammen Sport gemacht. Und solange Cain nicht in der Nähe ist, ist er gar nicht so übel.“ Cain schien sowohl bei Ned als auch bei Amy die schlechtesten Seiten zu Tage zu fördern. „Iss weiter!“
Sheridan nahm brav einen weiteren Löffeln voll, ohne dabei zu kleckern. „Cain erzählte mir, du seist Arzt. Das ist eine ziemliche Leistung“, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte.
„Eigentlich nicht. Ich habe acht Jahre darauf hingearbeitet, um dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin, aber Cain weiß intuitiv wahrscheinlich genauso viel.“
Seine Worte klangen freundlich, aber Sheridan fragte sich, ob Owen nicht doch versteckten Neid empfand. „Macht es dir etwas aus?“, fragte sie, „dass Cain so gut ist?“
„Natürlich nicht! Er ist mein Bruder.“
Cain war sein Stiefbruder. In der Schule hatten sie das stets betont. Es war fast so, als wollten die Wyatts, besonders Owens Vater, so wenig wie möglich mit so einem Rebell in Verbindung gebracht werden. Aber Sheridan glaubte, dass es erst die fehlende Akzeptanz innerhalb der Familie gewesen war, die aus Cain einen Rebell gemacht hatte. Obwohl er am Anfang, als er in die Stadt kam, ziemlich viel Sport getrieben hatte, hatte er mit allem aufgehört, kurz nachdem seine Mutter John Wyatt geheiratet hatte. Seine Noten verschlechterten sich, und er begann, über die Stränge zu schlagen.
„Und was ist mit deinem aufregenden Job?“
„Was soll damit sein?“
„Worin genau besteht deine Arbeit für diesen gemeinnützigen Verein?“
„In der Regel behalte ich den Überblick über die anstehenden Aufgaben. Ich stelle fest, was der Klient braucht, und trage dann die notwendigen Informationen zusammen. Manchmal bedeutet es, dass sie oder er einen besseren Anwalt bekommt oder die Adresse von einem anderen Labor, um die Beweisstücke analysieren zu lassen. Manchmal bedeutet es, eine zweite Meinung zu einem psychologischen Profil oder einer Autopsie einzuholen, ein sicheres Haus zu finden, einen Bodyguard oder Selbstverteidigungskurs zu vermitteln.“ Sie zuckte die Achseln. „Was auch immer.“
„Dir gefällt deine Arbeit.“
Das war eine Feststellung, keine Frage. „Sie füllt mich aus. Bisweilen ist die Arbeit auch beängstigend, und es kann ziemlich deprimierend sein, wenn die Spendengelder knapp werden oder wir nicht so viel tun können, wie wir gerne würden.“
Owen schob das Tablett hin und her. „Muss schwierig für dich sein, deine tagtägliche Arbeit jetzt von der anderen Seite kennenzulernen.“
„Und das Opfer zu sein, anstatt helfen zu können? Eindeutig. Aber das steigert nur mein Mitgefühl.“
„Deine Arbeit schließt doch mit ein, dass du versuchst, Mörder, Vergewaltiger und Männer, die ihre Frauen misshandeln, hinter Gitter zu bringen, stimmt’s?“
Sie nahm einen weiteren Löffel von der warmen Hühnerbrühe. „Mehr oder weniger.“
„Meinst du nicht, dass es gefährlich ist, dich mit solchen Leuten anzulegen? Ich meine, könnte nicht einer von denen dich verfolgt haben?“
Trotz Owens harmloser Miene wollte er auf irgendetwas hinaus. „Du meinst, der Überfall auf mich hängt mit meiner Arbeit zusammen und nicht mit dem Mord an Jason?“
„Ich versuche nur herauszufinden, ob das eine Möglichkeit wäre.“
Sie nahm noch etwas Suppe. „Der Zeitpunkt und der Ort sprechen dagegen. Ich lebe und arbeite in Kalifornien.“
„Er könnte dir gefolgt sein.“
„Ich bin geflogen.“ Und sie hatte ein Auto gemietet. So viel wusste sie immerhin. Der Mietwagen stand vermutlich noch beim Haus ihres Onkels, sie musste Cain danach fragen. Er hatte bereits gesagt, dass er heute nach ihrer Tasche und dem Handy suchen würde.
„Egal. Jeder, der deine Pläne kannte, hätte etwas darüber ausplaudern können. Es dürfte nicht schwer gewesen sein, herauszufinden, wohin du wolltest.“
Sheridan musterte ihn einen Moment. „Aber warum hätte sich derjenige die Mühe machen sollen, mir den ganzen Weg bis hierher zu folgen? Wäre es nicht einfacher und billiger gewesen, mich in Kalifornien zu erledigen?“
„Nicht alle Kriminellen sind dumm und faul. Ted Bundy zum Beispiel.“ Owen blinzelte ihr durch die dicken Brillengläser zu. „Er ist ein ausgezeichnetes Beispiel für einen höchst praktisch denkenden Killer. Wenn jemand deine Geschichte kennt und weiß, dass du hier früher schon einmal Probleme hattest, wüsste er, dass das der beste Ort wäre, um dich umzubringen. Die Polizei würde den Angriff natürlich mit dem Vorfall am See in Verbindung bringen. Besonders bei einer kleinen Polizeieinheit wie in Whiterock, die keinerlei Erfahrung in richtiger Detektivarbeit hat. Und der Wechsel der Gerichtsbarkeit würde …“
„Bevor ich abgereist bin, hatte ich mit niemandem Probleme“, unterbrach sie ihn. Sie kannte die Schwierigkeiten, die sich ergaben, wenn zwei Polizeibehörden zusammenarbeiten sollten, besonders wenn die jeweiligen Bezirke so weit auseinanderlagen.
„Aber das Szenario ist doch möglich, oder? Ein Mann, der seine Frau misshandelt hat, ist nicht besonders glücklich damit, dass du dich eingemischt und für sie Partei ergriffen hast. Wahrscheinlich hast du das irgendwann schon einmal gemacht.“
„Natürlich. Öfter, als mir lieb ist.“
„Siehst du? Jemand könnte so wütend sein, dass er nur noch an Rache denken kann.“
Wollte er ihr unbedingt Angst einjagen? Sheridan fühlte sich bereits, als würde sie sich nirgends auf der Welt jemals mehr sicher fühlen.
„Angesichts der Wut, mit der du überfallen worden bist“, erklärte Owen, als sie nichts erwiderte, „glaube ich schon, dass derjenige etwas gegen dich höchstpersönlich hat.“
Plötzlich konnte Sheridan nicht weiteressen. Die Art und Weise, wie Owen mit ihr sprach, brachte Erinnerungsfetzen an den Überfall zurück. Und es ärgerte sie, dass er nicht zu merken schien, was für ein Unbehagen seine Worte ihr bereiteten.
Aber seine sozialen Fähigkeiten waren noch nie besonders ausgeprägt gewesen. Vielleicht war die Verbesserung, die ihr bei der Begrüßung aufgefallen war, gar keine wirkliche Änderung. Vielleicht wusste er immer noch nicht, was er zu einer Frau oder zu Menschen im Allgemeinen sagen sollte. „Du könntest recht haben“, sagte sie ruhig. „Es besteht die Möglichkeit, dass das, was Jason und mir zugestoßen ist, reiner Zufall war. Ich hatte keine Feinde, als ich noch hier lebte.“
„Keine Feinde, von denen du weißt“, berichtigte er sie.
Sie ließ den Löffel auf den Teller zurücksinken. „Was soll das heißen?“
„Was, wenn jemand dich für sich selbst haben wollte und es gar nicht gern gesehen hat, dass du mit Cain im Wohnmobil verschwunden bist?“
Sheridan hatte niemandem von dem Wohnmobil erzählt. Keiner Menschenseele. Nicht ehe sie wesentlich älter und weit weg von allem war. Mit sechzehn hatte sie viel zu große Angst gehabt, es könnte ihren Eltern zu Ohren kommen. Außerdem hatte sie sich viel zu sehr über sich selbst geärgert, wie sie nur so einen kolossal dummen Fehler hatte machen können. Sie hatte Cain nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Herz geschenkt. Er hatte das Erste genommen und Letzteres links liegen gelassen, ohne auch nur zu zögern oder einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden.
Aber sie hatte immer geglaubt, er wäre zumindest so höflich gewesen, ebenfalls Schweigen zu bewahren. „Wer hat dir das erzählt?“
„Ich war dort.“
Sheridan wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „Du warst dort?’
„Cain hat darauf bestanden, dass ich zur Abwechslung mal aus dem Haus gehe, und mich zu der Party mitgenommen. Ich habe mich nicht besonders amüsiert, also habe ich mir ein ruhiges Eckchen gesucht.“
Bei dem Gedanken, dass es im intimsten Moment ihres Lebens einen Zeugen gegeben hatte, wurde Sheridan ganz schlecht. „Und du warst im Wohnmobil?“
„Draußen. Direkt davor.“
Sheridan wünschte, sie könnte ihm glauben, aber sie war sicher, dass er log. Er hatte das Thema nur deswegen zur Sprache gebracht, weil er sie wissen lassen wollte, dass es nicht das Geheimnis war, für das sie es stets gehalten hatte. „Was, wenn ich dir sage, dass wir nur geredet haben?“
„Ich würde deine Worte nicht in Zweifel ziehen.“
Doch, das würde er. Er kannte die Wahrheit bereits. Sie würde sogar wetten, dass er im Wohnmobil gewesen war und die ganze Zeit zugesehen hatte … oder zumindest zugehört. Oh Gott! Ihr Ausflug nach Hause wurde noch scheußlicher, als sie es sich je hätte träumen lassen. „Was sagt Cain dazu?“
„Ich habe ihn nicht gefragt. Er würde es ohnehin niemals zugeben. Er hat es nicht nötig, sein Ego aufzupeppen, schließlich könnte er jede haben. Du warst das einzige Mädchen, von dem ich glaubte, es würde ihm eine Abfuhr erteilen.“
In dieser Bemerkung schwang eine kaum verhohlene Anklage mit. Aber sie hatte es nicht besser verdient. Sie war nicht klüger gewesen als die anderen. Doch selbst nach so langer Zeit wollte sie ihre religiösen Eltern nicht in Verlegenheit bringen, wenn ihnen Gerüchte von alten Freunden zu Ohren kämen. Die Kohls dachten immer, ihre Tochter sei kreuzbrav, dabei hat sie den jungen Granger rangelassen, als sie erst sechzehn war…
Sheridan konnte sich gut vorstellen, was Amy mit so einer Neuigkeit anstellen würde. „Ich war nicht so dumm, etwas mit ihm anzufangen“, wich sie aus.
„Mit wem hast du nichts angefangen?“ Cain betrat das Zimmer, frisch rasiert und gut aussehend.
„Mit niemandem“, brachte sie heraus.
Cain hatte eine starke Ausstrahlung, aber sie hatte nicht einmal ein Lächeln für ihn übrig. Die alten Wunden, Reuegefühle und Selbstvorwürfe glühten in ihrer Brust, als würde er ein Brandeisen darauf pressen. Ein Brandeisen mit einem riesigen / für Idiot.
Vielleicht spürte er die Anspannung, die in der Luft lag, denn er drängte nicht auf eine befriedigendere Antwort. „Wie fühlst du dich?“
„Ich … bin noch etwas zittrig. Ich glaube, ich muss schlafen.“ Sie zog die Decke hoch und drehte sich auf die Seite, sodass sie weder ihn noch seinen Bruder anzuschauen brauchte.
„Wie lange ist sie schon wach?“, hörte sie Cain fragen.
„Vielleicht dreißig Minuten.“
„Viel gegessen hat sie nicht.“ Er klang nicht sehr erfreut.
„Eine halbe Schüssel Suppe ist gar nicht so schlecht. Und ich habe ihr etwas von deinem Tee gegeben.“
Es gab eine Pause. „Sie bekommt später noch eine Tasse“, sagte Cain schließlich. Dann rief er seinen Hund und ging hinaus.