16. KAPITEL

Als Peterson und Sheridan aus Neds Büro kamen, sah Sheridan alles andere als glücklich aus. Sie warf ihm einen warnenden Blick zu, aber Cain ahnte bereits, dass sich die Dinge erst noch verschlechtern würden, ehe es wieder aufwärts gehen konnte.

Sein Stiefvater verhielt sich distanzierter und förmlicher als je zuvor. Und offensichtlich war er aus einem ganz bestimmten Grund aufs Revier gekommen.

„Cain, würde es dir etwas ausmachen, kurz mitzukommen?“ John deutete auf das jetzt leere Büro. „Ich würde dich gerne unter vier Augen sprechen.“

Cain machte es etwas aus. Wenn es um John Wyatt ging, waren seine Gefühle so vielschichtig, dass er sich nicht einmal sicher war, was er die meiste Zeit über empfand. In der Vergangenheit hatte es Phasen gegeben, in denen Cain ihm gefallen und endlich die Liebe und Akzeptanz erfahren wollte, die seine Stiefbrüder für selbstverständlich hielten. Doch als seine Mutter krank wurde, änderte sich alles. Beinahe von dem Tag an, an dem sie die Diagnose erhielt, benahm John sich, als würde sie nicht existieren. Alle anderen mochten ihn vielleicht für einen Heiligen halten, aber Cain wusste, wer er wirklich war.

Mit einem knappen Nicken ging er ins Büro und beobachtete, wie sein Stiefvater nach ihm hereinkam und Neds Platz hinter dem Schreibtisch einnahm.

„Setz dich!“, forderte John ihn auf.

Cain wollte sich nicht setzen, dazu stand er zu sehr unter Strom. Zuerst hatte man das Gewehr in seiner Blockhütte gefunden. Dann war Sheridan in die Stadt zurückgekommen und beinahe umgebracht worden. Und Amy – oh Gott, Amy! Jetzt, wo der Schock langsam nachließ, empfand er nur noch bittere Trauer und ein Gefühl von Sinnlosigkeit.

„Ich stehe lieber.“ Er verschränkte die Arme, lehnte sich gegen die Wand und wartete darauf, womit sein Stiefvater es diesmal auf ihn abgesehen hatte.

„Ned hat mich heute Morgen angerufen“, sagte John.

„Warum?“ Cain hasste den trotzigen Unterton, der sich in seine Stimme geschlichen hatte.

„Er meinte, ich sollte mit dir sprechen, ehe du mit irgendjemand anders redest.“

„Mit wem sollte ich über was reden?“

„Über letzte Nacht.“

„Ich wüsste nicht, was dich der Mord an Amy anginge.“

„Er geht mich aber etwas an.“

„Warum?“

„Weil ich mir um sie Sorgen gemacht habe, verdammt! Sie war wie eine Tochter für mich, schon bevor sie dich geheiratet hat.“

Amy hatte sich große Mühe gegeben, die Zuneigung seiner Familie zu gewinnen, damit sie eine bessere Position hatte. Cain wusste, dass sie oft vorbeigekommen war, um für John zu putzen, ihm Kekse zu backen oder Filme vorbeizubringen, von denen sie glaubte, sie könnten ihm gefallen. Cain hatte das alles ignoriert, aber John hatte ihre Zuwendung genossen und Cain sogar vorgeworfen, dass er schön dumm sei, sie „gehen gelassen zu haben“.

Früher hatte sie diese Dinge getan. Es war schwer zu begreifen, dass sie tatsächlich tot war.

„Außerdem glaubt Ned, und ich stimme ihm da zu“, sagte John jetzt, „dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem, was im Moment auf deinem Grundstück vor sich geht, und den Ereignissen vor zwölf Jahren.“

Was im Moment auf deinem Grundstück vor sich geht… Cain konnte den Vorwurf, der in diesen Worten mitschwang, nicht ignorieren. „Das sehe ich genauso, aber ich bin nicht die Verbindung.“

„Manchmal machen Menschen Fehler.“

„Mord ist mehr als ein Fehler.“

John ignorierte seinen Einwurf. „Manchmal hat man vielleicht das Gefühl, als gäbe es keinen Ausweg, aber …“

„Hör auf.“

„Wenn du mir zuhören und aufhören würdest, dich querzustellen …“

„Du glaubst, ich hätte Amy umgebracht. Wie soll ich sonst reagieren?“

John wurde rot. Dieses Gespräch entwickelte sich zu demselben Machtkampf, wie sie ihn in der Vergangenheit so oft geführt hatten.

Aber dann schloss John die Augen und schien sich um Geduld zu bemühen. „Ich möchte, dass du eins weißt.“

Cain machte sich nicht die Mühe, nachzufragen, was er meinte. Er würde es ohnehin hören, ob er wollte oder nicht.

„Ich möchte, dass du begreifst, wirklich begreifst, wie schwer es ist, jeden Tag ohne Jason zu leben. Ich vermisse ihn so sehr, dass es Tage gibt …“ Seine Augen füllten sich mit Tränen. „… Tage, an denen ich morgens kaum aus dem Bett komme.“

„Ich vermisse ihn auch“, sagte Cain, aber er wusste, dass diese Worte unaufrichtig klangen. John spürte nur seinen eigenen Schmerz, er würde niemals glauben, dass Cain zu tieferen Gefühlen in der Lage war.

„Das ist nicht das Gleiche.“

„Warum nicht? Weil ich nicht solche Liebe empfinden kann wie du?“

„Hör auf, mir die Worte im Mund umzudrehen.“

„Ich stelle bloß klar, was du eigentlich gesagt hast.“

„Alles, was ich sagen will, ist, dass es schwer ist, die Identität des Mannes nicht zu kennen, der meinen Sohn umgebracht hat. Es gibt keinen Abschluss, kein Gefühl, dass das Recht gesiegt hat“, sagte er barsch. „Ich bitte dich ausnahmsweise einmal, mir zu helfen, verdammt noch mal!“

Wie sollte Cain seinem Stiefvater helfen? Es gab nichts, das er tun konnte, um den Schmerz zu mildern, den John empfand, nichts, das irgendjemand tun könnte. Cain wollte ebenfalls die Identität des Mannes herausfinden, der Jason erschossen hatte. Wer immer es gewesen war, hatte ihm das einzige Familienmitglied genommen, das ihn wirklich geliebt hatte -neben Marshall, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit den ersten Anzeichen von Alzheimer zu kämpfen hatte. „Du glaubst, ich hätte es getan“, sagte er tonlos.

John schluckte. „Ich frage mich langsam …“

„Nein, du hast dich bereits entschieden. Darum bist du hier. Du glaubst Ned.“

„Hast du es getan, Cain? Hast du meinen Sohn umgebracht?“

Die Anschuldigung löste eine Woge aus alter Wut und Frustration aus. „Nein!“, rief er, aber er wusste, dass John ihm nicht glauben würde.

„Mehr hast du nicht zu sagen?“

„Was kann ich sonst sagen?“

„Ich weiß, dass es zwischen uns nie besonders gut geklappt hat, Cain. Ich weiß, dass du nicht viel Respekt vor mir hast. Aber ich möchte, dass du begreifst, dass ich mein Bestes getan habe. Als deine Mom an Krebs erkrankte, war ich ebenso am Boden zerstört wie du …“

Cain hob eine Hand. „Hör auf! Erzähl mir nicht, wie gebrochen du in den letzten Jahren warst, als meine Mutter noch lebte. Ich habe den Liebesbrief gefunden, den du meiner Englischlehrerin geschrieben hast, gerade mal zwei Wochen nach Julias erster Chemotherapie. Ich habe dich in der Schule gesehen, wie du auf einen Schwatz mit deiner neuen Liebe gehofft hast, während meine Mutter dahinsiechte.“

Sein Stiefvater biss die Zähne zusammen. „Ich war völlig aus der Bahn geworfen. Ich konnte damit nicht umgehen. Verstehst du das nicht? Ich hatte Kinder, die aufgezogen werden mussten. Ich wusste nicht, was ich ohne sie machen sollte.“

„Also hast du dich schon mal rechtzeitig nach einem Ersatz für sie umgeschaut?“

John stieß sich vom Schreibtisch ab und stand auf. „Du mieser Dreckskerl! Dir gefällt es doch, mich schlecht dastehen zu lassen!“

„Ist das das Einzige, worum du dir Sorgen machst, John? Wie du auf andere Leute wirkst?“

„Ich habe mich um deine Mutter gekümmert!“

Gekümmert? Er hatte nicht einmal gesagt, dass er sie liebte. Weil er es nicht getan hat. Nicht am Schluss. Und wenn doch, dann hatte er sich selbst zumindest mehr geliebt. Aber das überraschte Cain nicht. „Und wo hast du gesteckt? Warst du da, als sie dich gebraucht hat?“

Es war Cain gewesen, der bei ihr gesessen hatte, wenn der Schmerz zu heftig wurde. Cain, der versucht hatte, es ihr so bequem wie möglich zu machen, und sich mit den Hospizhelfern abgestimmt hatte. Cain, der sich geweigert hatte, die Hoffnung aufzugeben, und sich so lange wie möglich daran geklammert hatte. Seine Stiefbrüder und sein Stiefvater hatten sich benommen, als sei alles in Ordnung. Sie hatten stets eine Ausrede parat gehabt, warum sie gerade jetzt wegmussten -selbst Jason und Marshall. Jason war zu beschäftigt mit der Schule. Und Marshall musste mit Mildreds Tod fertig werden, danach war er nicht mehr derselbe gewesen.

„Vielleicht habe ich es einfach nicht ertragen, ihr dabei zuzusehen.“

Cain wünschte, er könnte John glauben. Aber es war nur eine Ausrede. Irgendwann hatte seine Englischlehrerin ihm anvertraut, dass John ihr bereits seit Monaten nachstellte. Danach hatte Cain einen Nachmittag mit ihr im Bett verbracht, eine stille Form der Rache. Sie wollte damals eine Fortsetzung, doch Cain hatte sich geweigert, ihr noch einmal nach dem Unterricht „bei der Gartenarbeit zu helfen“.

Karen Stevens war ein paar Jahre nach seinem Abschluss fortgezogen, aber vor sechs Monaten nach Whiterock zurückgekehrt. Jetzt unterrichtete sie wieder an der Highschool – und war mit John zusammen. So hatte John letzten Endes doch seinen Willen bekommen.

Vage fragte Cain sich, was sein Stiefvater wohl sagen würde, wenn er herausfände, dass er mit Karen geschlafen hatte. Einen verwegenen Moment lang fühlte er sich versucht, zurückzuschlagen und ihm diese Tatsache ins Gesicht zu schleudern. Aber er wusste, dass er sich am Ende nur noch schlechter fühlen würde. Und es würde Karen verletzen. „Falls du auf mein Mitgefühl hoffst, kannst du lange warten“, sagte er.

„Ich will dein Mitgefühl nicht!“, spie John aus. „Ich will die Wahrheit wissen! Es ist Zeit, reinen Wein einzuschenken, Cain. Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir heilen können, die einzige Möglichkeit, wie diese Gemeinde die Vergangenheit hinter sich lassen kann.“ Mit einer flehenden Geste ergriff er Cains Arm, und Cain zwang sich, ihn gewähren zu lassen und nichts anderes zu tun, als auf die Finger hinabzublicken, die seinen Unterarm umklammerten. Der einzige Vater, den er je hatte, hielt ihn für einen Mörder. Doch andererseits hatte John sich nie wie ein Vater verhalten.

„Denk an Owen und Robert. Denk an Grandpa!“

„Ich habe es nicht getan.“

Sein Stiefvater verstärkte seinen Griff. „Bitte!“

„Ich habe es nicht getan!“ Er stieß Johns Hand fort und ließ die Tür gegen die Wand krachen, als er hinausstürmte.

Sheridan hatte Cains letzte Worte gehört. Das gesamte Büro hatte sie gehört.

„Ja, klar doch“, murmelte Peterson leise, griff jedoch nicht ein. Dazu hatte er auch gar keine Gelegenheit. Denn in diesem Moment kam Ned herein und zog seine Waffe, sobald er Cain erblickte.

„Du Hurensohn!“, schrie er und zielte mit der Pistole auf Cains Brust.

Sheridans Mund wurde trocken. Cain blieb stehen, in seinen Augen blitzte etwas auf. Fast im gleichen Moment erschien John Wyatt in der Tür zu Neds Büro. Er wirkte blass und gezeichnet.

„Chief, was machst du da?“ Petersons Stimme war tief und wachsam. „Nimm die Waffe weg!“

„Er hat sie umgebracht!“ Neds Stimme klang spröde vor Trauer. „Alles, was sie je verbrochen hat, war, ihn zu lieben! Alles, was sie je gewollt hatte, war ein wenig Aufmerksamkeit von ihm. Und er hat sie umgebracht!“

Ein Muskel zuckte in Cains Wange, aber er bestritt Neds Vorwürfe nicht. Er reagierte überhaupt nicht.

„Er kann genauso wenig kontrollieren, wen er liebt, wie du.“ Sheridan stellte sich vor Cain, der sie daraufhin beiseitezuschieben und hinter sich zu bugsieren versuchte. Aber sie blieb stur, wo sie war.

„Du kannst nicht mehr klar denken.“ Sie wand sich aus Cains Griff und näherte sich Ned. „Du bist erschöpft und schon viel zu lange auf den Beinen. Leg die Waffe weg, ehe du dich in Schwierigkeiten bringst.“

„Sheridan, er wird dich verletzten!“ Cain war wenig erfreut über ihre Einmischung, aber sie ignorierte ihn.

„Weg da!“ Ned wedelte mit der Waffe herum, um zu zeigen, dass er sie aus dem Weg haben wollte. „Dieses Mal werde ich ihn nicht davonkommen lassen! Ich werde nicht zusehen, wie sie beerdigt wird, während er frei wie ein Vogel durch die Stadt spaziert.“

Sheridan erwartete, dass Cains Stiefvater sich einmischen würde. Es war eine Sache, sich zu fragen, ob Cain schuldig sein könnte, aber eine andere, ihm den Tod zu wünschen. Doch John sagte kein Ton. Er stand schockiert daneben, und sein Blick sprang von Ned zu Cain und wieder zurück, als könnte er seinen Augen nicht trauen.

„Er hat es nicht getan!“ Sheridan wusste, in welcher Stimmung Cain gestern Nacht gewesen war, nachdem er seine Ex-frau gefunden hatte, wie aufgewühlt und verletzt er trotz seiner Frustration über ihre ständigen Nachstellungen gewesen war.

Aber wie konnte sie Amys Zwillingsbruder davon überzeugen? Mit den dunklen Ringen unter den Augen und dem wenigen Haar, das ihm verblieben war, das nach allen Seiten vom Kopf abstand, sah er aus wie ein Irrer. Sie glaubte nicht, dass sie ihn dazu bringen konnte, seinen Irrtum zu erkennen.

„Er hat es getan!“

„Das wissen wir nicht mit Sicherheit, Ned. Noch nicht.“ Peterson kam Stück für Stück näher. „Warum gibst du mir nicht deine Waffe, damit wir es richtig machen können? Wenn Cain schuldig ist, werden wir ihn kriegen. Darauf kannst du deinen Arsch verwetten. Ich werde keine Ruhe geben, bis ich ihn habe. Ich habe Amy ebenfalls geliebt. Die ganze Stadt hat sie geliebt.“

Endlich brach John sein Schweigen. „Ned, hör auf! Denk daran, was du tust. Wir mussten genug Verluste hinnehmen.“

Sheridan war sich nur allzu bewusst, was er nicht hinzufügte … dass Cain niemals jemandem wehtun würde. Johns Verdacht gegenüber Cain machte es ihm schwer, seinen Stiefsohn zu verteidigen.

Schweißperlen liefen Ned in die Augen, er musste blinzeln. „Er hat es getan. Ich weiß, dass er es war!“ Er griff in seine Tasche und schleuderte einen Brief auf den Fußboden. „Hier ist der Beweis.“

Am liebsten hätte Sheridan das Papier aufgehoben, aber Ned zielte immer noch mit der Pistole auf Cain. Sie fürchtete, ihm die Gelegenheit zu einem tödlichen Schuss zu geben. Stattdessen sah sie zu, wie Officer Peterson den Brief aufhob und ihn laut vorlas.

Cain,

triff dich mit mir morgen um Mitternacht, bei mir, oder

ich werde allen erzählen, dass du es warst.

Amy

Langsam ließ Peterson das Blatt sinken. „Wo hast du das gefunden?“

„Es war in ihrer Tasche. Zusammen mit einem Stapel Bildern von ihm.

„Hat sie dich erpresst, Cain?“, fragte Peterson.

„Nein! Ich habe keine Ahnung, worauf sie sich darin bezieht.“

„Sie wollte ihn so sehr!“ Neds Worte waren ein halbes Wehklagen. „Seit ich mich erinnern kann. Sie hat sich so elend gefühlt! Und alles nur deinetwegen!“ Er schüttelte den Kopf, als juckte es ihn in den Fingern, den Abzug zu ziehen.

Sheridan stellte sich ihm immer wieder in den Weg, während er versuchte, um sie herum zu kommen. „Aber er hat sie nicht umgebracht“, sagte sie ruhig. „Diese Nachricht hat gar nichts zu bedeuten.“

„Sie bedeutet, dass sie etwas gegen ihn in der Hand hatte -und das war das Motiv für ihn, sie umzubringen! Geh mir aus dem Weg!“

Sheridan rührte sich nicht. „Amy war so versessen darauf, sich mit ihm zu treffen, dass ihr jedes Mittel recht war, um ihr Ziel zu erreichen. Wenn du dich nur für eine Minute beruhigen könntest, würdest du das ebenfalls begreifen, Ned. Was ist mit den Bildern? Sie war wie besessen von ihm und konnte nicht aufhören, an ihn zu denken.“

Peterson legte die Notiz auf den Schreibtisch. „Ich fürchte, sie hat recht, Ned. Woher willst du wissen, dass du die Nachrieht richtig interpretierst? Es könnte sein, dass Amy etwas gegen ihn in der Hand hatte. Aber genauso gut könnte es sein, dass sie gedroht hat, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, die er nicht verdient hat. Um Himmels willen, jetzt leg die Waffe weg!

„Er hat ihr den Kopf weggeschossen“, sagte Ned, aber er schrie nicht länger. Mit Tränen in den Augen ließ er schließlich die Waffe sinken.

Peterson stürzte sich nach vorn. „Komm her, und setz dich hin, Chief!“

Sheridan drehte sich zu Cain um. Es war Zeit zu verschwinden. Ned brauchte die Gelegenheit, um mit dem Tod seiner Schwester klarzukommen, und Sheridan wollte Cain hier raushaben. Was, wenn Ned plötzlich seine Meinung änderte?

Aber als sie an Cains Arm zerrte, reagierte er nicht. Er starrte seinen Stiefvater an, dessen Miene bei ihr einen harten Knoten in der Brust hervorrief. Vielleicht hatte es nur eine Sekunde gedauert, aber selbst für sie war es offensichtlich, dass John auf einen anderen Ausgang gehofft hatte.

Cain saß vor dem Fernseher und versuchte, sich auf das Baseballspiel zu konzentrieren, das er eingeschaltet hatte, während Sheridan geschlafen hatte. Sie war noch nicht kräftig genug, um es ohne ein gelegentliches Nickerchen über den Tag zu schaffen. Aber jetzt war sie wieder wach und saß am anderen Ende des Sofas. Alles, woran er denken konnte, war, dass er sie an sich ziehen und sein Gesicht in der Mulde über ihrem Schlüsselbein vergraben oder die Lippen über ihre glatte, weiche Haut gleiten lassen wollte. Sie konnte ihn dazu bringen, alles zu vergessen – seine Abneigung gegenüber seinem Stiefvater, Amys blutigen Leichnam, Neds zitternde Hand und seine Sehnsucht, den Abzug zu ziehen. Alles. Als sie sich in der letzten Nacht geliebt hatten, hätte die Welt um sie herum untergehen können, und er hätte es nicht gemerkt. Oder sich deswegen aufgeregt.

Er sehnte sich nach mehr von diesem überaus wirksamen Schmerzmittel. Aber er würde sie nicht anfassen. Sie hatte klargemacht, dass sie das nicht wollte.

„Wo warst du?“, fragte sie.

Er gestattete sich, sie anzusehen, obwohl er allein bei ihrem Anblick hart wurde. „Wann?“

„In der Nacht, als Jason umgebracht wurde.“

Er wollte nicht über Jason reden, doch zumindest würde dieses Thema sein Verlangen, mit ihr zu schlafen, ausradieren. „Ich war am Rocky Point. Eine Zeitlang.“

„Das wusste ich bereits. Ich habe dich dort gesehen. Aber dann bist du mit jemandem weggegangen, bevor …“ Er sah, wie sie tief Luft holte. „Bevor die Schüsse fielen.“

Er war weggegangen, ja. Aber er war allein gewesen. Er hatte sie mit Jason zusammen gesehen und angenommen, dass sie rumknutschen würden oder sogar mehr. Diesen Gedanken hatte er nicht ertragen. Also hatte er seinen Freunden erzählt, dass er nach Hause fahren würde. Da er mit jemandem gekommen war, der noch bleiben wollte, hatte Amy angeboten, ihn zu fahren, doch er hatte abgelehnt. Er wusste, was sie von ihm wollte, wusste, dass er ihr das nicht geben konnte – nicht solange allein die Vorstellung ihn aufbrachte, Jason könnte Sheridan küssen. Also war er nach Hause gelaufen. Er hatte nichts von der Schießerei gewusst, bis er nach Hause kam, gerade rechtzeitig, um den Anruf der Polizei entgegenzunehmen.

„Ich bin allein nach Hause gelaufen“, sagte er. Und er hatte eine Abkürzung durch den Wald genommen, damit niemand ihn sah, wie er hundeelend die Straße entlangschlich – ein weiterer Grund, weshalb er kein Alibi hatte.

„Wo waren Amy und deine anderen Freunde?“

„Sie sind am Rocky Point geblieben.“

„Warum bist du so früh gegangen?“

Er musterte sie. Er wollte nicht verraten, wie sehr er den Gedanken gehasst hatte, sie in Jasons Armen zu wissen. Es bewies, dass jeder, der behauptete, er sei eifersüchtig gewesen, recht hatte. Und es würde ihr zeigen, dass sie Erfolg gehabt hatte und dass er tatsächlich das empfunden hatte, was sie ihn spüren lassen wollte. Aber damals waren sie Kinder gewesen, inzwischen war er zu alt für solche Spielchen. „Das fragst du noch?“

Sie hob die Hände, als wollte sie sich verteidigen. „Mit mir kann das nichts zu tun haben.“

Er stellte den Ton des Fernsehers aus. „Woher weißt du das?“

„Weil du dich absolut nicht um mich gekümmert hast. Ich verstehe das … jetzt, wo ich nicht mehr so dumm und naiv bin.“

„Du hast also mit genügend Männern geschlafen, um eine Expertin darin zu werden?“

„Nein, aber ich habe genug Erfahrung, um zu wissen, wann es etwas Ernstes ist und wann ich besser loslassen sollte.“

Nichts wusste sie. Wie sein Vater und alle anderen ging sie einfach vom Schlimmsten aus.

Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Fernseher zu. „Erzähl mir nicht, was ich fühle.“

„Ich will gar nicht anfangen zu raten, wie du dich gefühlt haben könntest. Ich versuche nur herauszufinden, wie wir beweisen können, dass du nicht in der Nähe warst, als die Schüsse fielen“, beharrte sie.

„Es gibt keine Möglichkeit, es zu beweisen.“

„Warum nicht?“

„Weil niemand mich gesehen hat, von dem Zeitpunkt an, wo ich gesagt habe, dass ich gehe, bis zu dem Moment, als ich zu Hause ankam und alles schon vorbei war.“

Das Telefon klingelte. Er nutzte die Gelegenheit, um die Unterhaltung zu unterbrechen, und schnappte sich das Telefon. „Hallo?“

„Cain? Hier ist Tiger.“

Das war nicht gerade jemand, mit dem er sprechen wollte, so kurz nach dem, was geschehen war. Tiger musste ebenso fertig sein wie Ned. Er hatte sich um Amy gesorgt, hatte sie vielleicht sogar geliebt. „Tiger“, erwiderte er und unterdrückte einen tiefen Seufzer.

„Ich wollte nur, ich meine …“ Tigers Stimme überschlug sich, „… ich wollte dich etwas fragen.“

Cain packte das Telefon fester. Nicht schon wieder! „Was?“

„Hast du Amy letzte Nacht angerufen? Hast du sie gebeten vorbeizukommen?“ „Nein.“

„Das hatte ich mir gedacht.“ Tiger lachte freudlos. „Würdest du glauben, dass sie mir eigentlich nur Bier holen wollte? Ich saß auf ihrer Couch und sah mir einen Film an, während sie um dein Haus herumschlich.“

Cain antwortete nichts. Nichts, was er sagen würde, würde die Situation besser machen.

„Warum?“, fragte Tiger. „Vielleicht kannst du mir das sagen?

„Möglich, dass jemand ihr einen Tipp gegeben hat, sie sollte mal hier vorbeischauen.“

„Nein.“ Tiger klang entschlossen. „Hier hat niemand angerufen.“

„Sie könnte die Nachricht bekommen haben, nachdem sie aufgebrochen ist. Vielleicht per SMS.“

„Darauf gibt es keinen Hinweis. Ned hat das überprüft. Sie ist auf ihrem Handy weder angerufen worden, noch hat sie eine SMS bekommen.“

Cain stützte den Kopf auf. „Worauf willst du hinaus?“

„Warum hat sie einen perfekten gemütlichen Abend mit mir geopfert, um zu deinem Haus zu fahren und sich dort erschießen zu lassen?“

„Das kann ich dir nicht beantworten, Tiger. Ich habe keine Ahnung.“

Tiger ließ ein weiteres bitteres Lachen hören. „Tu nicht so, als ob du es nicht wüsstest. Bitte.“

„Ich habe nicht mit ihr geschlafen, wenn es das ist, was du im Sinn hast. Schon vor unserer Scheidung habe ich Amy nicht mehr angerührt.“ Cain sah sich einer Vielzahl von Zweifeln und Anschuldigungen ausgesetzt, doch irgendwie war es ihm wichtig, dass Tiger ihm in diesem Punkt glaubte.

„Ich weiß“, erwiderte der.

Überrascht, dass Tiger die Wahrheit so einfach akzeptierte, hob Cain den Kopf, doch Tiger fuhr fort, ehe er etwas erwidern konnte: „Unglücklicherweise weiß ich auch, dass es nicht daran lag, dass sie nicht gewollt hätte. Sie wäre in dem Augenblick mit dir ins Bett gegangen, in dem du ihr die Chance gegeben hättest.“

Cain sagte nichts. Das war nicht nötig.

„Ich dachte, ich könnte sie am Ende schließlich rumkriegen. Ich dachte, sie würde kapieren, dass du deine Meinung nicht ändern würdest und dass ich der Beste bin, den sie je bekommen könnte. Aber sie war so eine dumme Kuh!“ Seine Worte klangen barsch, aber seine Stimme war brüchig.

„Es tut mir leid, Tiger! Ich wünschte, die Situation wäre anders.“

„Das ist ja das Verrückte. Das glaube ich dir ebenfalls.“ Tiger lachte erneut, doch dann schien er sich zusammenzureißen. „Ich muss dir etwas erzählen.“

Cain warf einen Blick auf Sheridan, die ihn aufmerksam beobachtete. „Was?“

„Gestern Nachmittag habe ich ein zerknittertes Foto von Sheridan in der Fahrerkabine von Owens Truck gesehen.“

Cains Herzschlag beschleunigte sich. „Von Sheridan als Teenager?“

„Sheridan als Erwachsene. So, wie sie jetzt aussieht. Und jemand hat mit einem Stift oder so etwas auf ihr Gesicht eingestochen.“

„Wo warst du?“

„Auf dem Baseballplatz. Ich wollte mir das Spiel meines Neffen bei der Little League ansehen und traf Owen zufällig auf dem Parkplatz. Wir haben uns unterhalten, während sein Sohn ausgestiegen ist. Das Foto ist fast auf den Asphalt gefallen, zusammen mit ein paar Fast-Food-Verpackungen.“

Cain konnte sich den Müllhaufen in Owens Truck vorstellen. Er war so dreckig, dass seine Frau sich weigerte, damit zu fahren. Was Cain sich nicht vorstellen konnte, war, dass Owen ein aktuelles Foto von Sheridan besitzen sollte. Warum? „Kannst du mir mehr über das Bild sagen? Zum Beispiel wo es aufgenommen wurde?“

„Wahrscheinlich ein Computerausdruck, es war normales Papier. Ich habe es nicht besonders gut gesehen, aber ich könnte schwören, dass es durch das Fenster eines Hauses aufgenommen war.“

Was bedeutete, dass Sheridan keine Ahnung gehabt hatte, dass sie beobachtet, geschweige denn fotografiert wurde. Cain konnte es nicht glauben. Owen würde niemandem nachstellen. Und er würde auch nicht mit einer Perücke im Krankenhaus herumgeistern oder Sheridan oder irgendjemand anders verletzen.

Aber er würde sich in einem Krankenhaus auskennen. Direkt nach seiner Hochzeit hatte er zwei Jahre lang im Mercy General Hospital in Sacramento, Kalifornien, gearbeitet. Cain fiel ein, dass er in der Nacht, in der Sheridan angegriffen worden war, Schwierigkeiten gehabt hatte, Owen zu erwischen. Hatte er sich die ganze Zeit um Robert gekümmert, wie er gesagt hatte? Oder war er nach Hause gerast und hatte sich gewaschen?

Die bloße Möglichkeit versetzte Cain in Wut. „War das mein Haus auf dem Bild? Oder ein anderes?“

„Dein Haus war es nicht, so viel ist schon mal sicher. Ich glaube, es war irgendwo in der Stadt, aber ich habe es nicht so schnell wiedererkannt.“

Allein bei der Vorstellung, Owen könnte etwas mit den tragischen Ereignissen zu tun haben, die so viele Menschen, ihre Familien und vor allem Sheridan aus der Bahn geworfen und verletzt hatten, wurde Cain schlecht. Er fingerte an einem ausgefransten Loch in seiner Jeans herum. „Du hast ihn nicht zufällig deswegen gefragt?“

„Ich sagte: ,Hey, die sieht ja aus wie Sheridan.’ Und er sagte: ,Sie ist es aber nicht.’ Dann legte er das Bild zurück und machte die Tür zu.“

„Das war alles?“

„Das war alles.“

„Hast du es Amy erzählt?“

„Natürlich.“

„Und was hat sie dazu gesagt?“

Tigers Stimme klang belegt. „Sie rief ihn an, um ihn zu fragen. Ich habe ihr Handy überprüft. Seine Nummer war die letzte, die sie gewählt hatte. Laut Zeitangabe muss sie bereits auf dem Weg zu dir gewesen sein, als sie ihn anrief.“

Cain schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Amy hatte Owen wegen dieses Fotos angerufen. Und jetzt war sie tot.

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