25. KAPITEL
„Bist du mir böse?“
Sheridan starrte auf den Fernseher und rang um eine Antwort, die Skye zufriedenstellen würde. Sie wollte, dass ihre Freundin wieder ins Bett ging. Sheridan brauchte etwas Zeit für sich. Seit Cain gegangen war, fühlte sie sich verunsichert. „Nein.“ Nein? Das war das Beste, was sie herausbekam?
Skye musterte sie mit hochgezogener Braue. „Vielleicht solltest du das noch einmal wiederholen, aber etwas überzeugender bitte.“
„Ich wollte mit ihm nach Hause gehen, Skye. So einfach ist das.“ Sheridan musste den Wunsch unterdrücken, zu Cain rauszufahren – und zwar nicht nur, weil sie mit ihm schlafen wollte. Sie hatte das Gefühl, er hätte heute Abend die Hand nach ihr ausgestreckt, als würde er sie brauchen.
Aber das war verrückt! Cain brauchte niemanden.
Außer in der Nacht, als Amy umgebracht worden war. Sheridan würde nie vergessen, wie seine Hand gezittert hatte, als er ihre Brust berührt hatte. Da hatte er sie gebraucht. Um das Böse auszuschließen und sich an das Gute zu erinnern. Und um das Leben in seiner reinsten Form zu feiern. Aber sie wollte etwas, das länger andauerte.
„Und warum bist du nicht mitgegangen?“, fragte Skye.
„Weil ich mich schon zu sehr auf ihn eingelassen habe. Ich bin an genau demselben Punkt wie vor zwölf Jahren.“
„Das ist nicht der Grund.“
Zweifelnd blickte Sheridan ihre Freundin an. „Nicht?“
„Nein. Dieses Risiko wärst du eingegangen. Du bist nicht gegangen, weil ich hier bin und weil du dich verpflichtet fühlst, bei mir zu bleiben.“
Scheinwerfer strichen die Straße entlang. Sheridan stand auf, um nach dem Wagen zu sehen, halb in der Hoffnung, es sei Cain, obwohl sie wusste, dass das höchst unwahrscheinlich war.
„Wer ist es?“, wollte Skye wissen.
Sie erkannte den Kombi. „Sieht aus, als hätte John noch etwas vor.“
„So spät?“
„Er kann bestimmt jederzeit zu Karen kommen.“ Sheridan setzte sich wieder hin und schaute weiter fern, aber Skye unterbrach sie erneut.
„Was ich versuche zu sagen, ist, dass ich dir nicht helfen kann, Sher.“
Plötzlich bekam Sheridan ein schlechtes Gewissen. Skye war durch das halbe Land geflogen, angetrieben von Liebe und Sorge, und sie konnte nicht einmal ein wenig Dankbarkeit zeigen. „Was willst du damit sagen? Natürlich hilfst du mir!“
„Nein.“ Skye drehte ihre langen Haare zu einem Knoten. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass du da allein durchmusst. So gerne ich es dir auch abnehmen würde, aber ich mache die Sache nur noch schwieriger.“
„Sag das nicht!“
„Es ist die Wahrheit. Du musst zurück zu Cain und herausfinden, wohin es dich führt.“
„Ins Schlafzimmer“, murmelte sie.
„Du hast mir erzählt, er hätte sich geändert.“
„Und du hast gesagt, ich würde nur das sehen, was ich sehen will.“
„Vielleicht habe ich mich geirrt. Egal, mein Aufenthalt hier wird dich nicht vor ihm schützen. Und er ist bereit und willens, dich vor allem anderen zu beschützen. Ich sollte wieder gehen.“
Es war nicht gut, Skye von ihrer Familie fernzuhalten. Sheridan war sich dessen bewusst, seit Skye in Whiterock aufgetaucht ist. „Ich werde nicht zu Cain zurückgehen“, sagte sie. „Wenn ich schon einmal hier bin, werde ich auch bleiben und das Haus für den Verkauf vorbereiten, wie ich es meinen Eltern versprochen habe.“
„Dann solltest du besser die hier nehmen.“ Skye ging in die Küche und kehrte mit einer Kel-Tec P-3AT, einer Halbautomatikpistole, zurück.
„Ich will keine Waffe, Skye!“ Sheridan verschränkte die Arme und weigerte sich, sie entgegenzunehmen.
„Ich weiß, dass du sie nicht magst. Aber ich weiß auch, dass du ein ganz anständiger Schütze bist. Sie könnte dir das Leben retten.“
„Was, wenn ich überwältigt würde, ehe ich einen Schuss abfeuern könnte? Dann könnte die Waffe mich töten, anstatt mich zu retten.“
„Welche Alternativen hast du sonst?“
Seufzend nahm Sheridan die Pistole und legte sie unter ein Sofakissen. „Also gut.“
Missbilligend runzelte Skye die Stirn. „Dort willst du sie aufbewahren?“
„Da komme ich wenigstens schnell ran. Sonst werde ich noch ohne sie erwischt und muss erst nach meiner Tasche suchen. Und selbst wenn ich die Tasche griffbereit hätte, müsste ich erst darin herumwühlen, bei dem ganzen Müll, den ich darin aufbewahre.“
„Da hast du auch wieder recht.“
„Du willst also auf der Stelle abreisen?“ Wenn Skye ihre Pistole aus der Hand gab, plante sie nicht, noch länger zu bleiben.
„Morgen, sobald ich einen Flug bekomme.“ Sie lachte etwas verlegen. „Es liegt nicht allein an dir. Ich vermisse meinen Mann und die Kinder.“
„Ich weiß.“ Sheridan traf ihre Freundin in der Mitte des Zimmers und nahm sie fest in die Arme. „Es tut mir leid! Ich bin so hin und her gerissen. Ich verstehe, wie frustrierend das für dich sein muss.“
„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Ich habe so etwas selbst schon durchgemacht, weißt du nicht mehr? Fang einfach diesen verdammten Hurensohn, der versucht hat, dich umzubringen!“ Skye deutete auf die Couch, wo Sheridan die Waffe versteckt hatte. „Und versprich mir, dass du sie benutzt, wenn es sein muss.“
Sheridan drückte ihre Hand. „Das werde ich!“, versprach sie.
Als Karen Cain auf ihrer Vordertreppe entdeckte, wurde sie sich des Altersunterschiedes zwischen ihnen stärker denn je bewusst. Die Jahre, die sie ihm voraushatte, forderten ihren Tribut von ihrem Körper und Gesicht. Vielleicht spürte sie es deshalb so deutlich, weil sie zum ersten Mal seit zwölf Jahren allein waren. Außerdem war sie immer noch nicht völlig immun gegen ihn. Ihre Reaktion hatte nichts mit John zu tun, denn sie liebte ihren Verlobten. Er rief vollkommen andere Emotionen in ihr hervor – Frieden, eine ruhige Zufriedenheit und Wertschätzung für seine Kameradschaft und Unterstützung. John gehörte zu den Männern, die Frauen heirateten, Cain zu denen, von denen sie träumten.
Diese Einsicht hatte ein wenig Reife ihr gebracht. Wenn sie nur vor zwölf Jahren schon gewusst hätte, was sie jetzt wusste! Damals hatte sie sich nur dafür interessiert, das Objekt ihrer Begierde zu bekommen. Sie hatte nicht begriffen, dass es sie auf lange Sicht zufriedener machen würde, mit jemandem zusammen zu sein, der weniger perfekt war, aber sie und ihre Launen akzeptierte.
Mit einem raschen Blick nach draußen vergewisserte sie sich, dass in den Nachbarhäusern die Lichter aus waren, dann zog sie ihren Morgenrock fester um sich und winkte ihn herein. „Tut mir leid, dass ich vorhin nicht da war. John ist überraschend vorbeigekommen.“ Er hatte eine Flasche Champagner dabeigehabt, um ihre Verlobung zu feiern. Es war eine liebevolle romantische Geste gewesen, und sie hatten sich zum zweiten Mal an einem Tag geliebt, was nur selten vorkam. John schien sich mit ein paar Mal Sex pro Woche zufriedenzugeben, vielleicht weil er anderthalb Jahrzehnte älter war als sie. Er kuschelte gerne und sah mit ihr zusammen fern. Das war ihm fast genauso wichtig wie das andere, was ihr ganz recht war. In der letzten Zeit war er allerdings nicht er selbst. Die Entdeckung des Gewehrs in Cains Blockhütte hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.
Cain kam herein. Er ließ den Blick über ihr Wohnzimmer schweifen, ehe er sich ihrem Aussehen widmete. Karen war zufrieden mit John, aber manchmal wünschte sie, sie selbst wäre schöner, begehrenswerter … verführerischer. Sie wollte nicht mehr mit Cain schlafen, aber sie würde sich geschmeichelt fühlen, wenn sie einen bewundernden Ausdruck auf diesem schönen Gesicht sehen könnte, vielleicht einen Hauch des Bedauerns, weil er so einfach in den Wind geschlagen hatte, was sie ihm angeboten hatte.
Stattdessen bemerkte sie einige sehr deutliche Anzeichen, dass er am liebsten gar nicht hier wäre – die leicht hochgezogenen Brauen, der ernste Zug um seinen Mund, die Besorgnis in seinen grünen Augen. „Was wolltest du mir zeigen?“
Sie strich sich das zerzauste Haar hinter das Ohr und hob die Hand zu dem klassischen Stoppzeichen. „Warte hier. Ich bin gleich wieder zurück.“ Sie eilte in ihr Schlafzimmer, holte die Nachricht aus ihrer Tasche und kehrte damit zurück ins Wohnzimmer.
Sein Blick blieb einen Moment an ihrem Verlobungsring hängen, als sie ihm das Blatt reichte. Dann faltete er das Blatt Papier auseinander.
Eine Sekunde später hob er den Blick und sah sie an. „Wo hast du das her?“
„Der Brief lag vor meiner Tür, als ich heute aus der Schule gekommen bin.“
„Hast du irgendeine Ahnung, wer ihn dorthin gelegt haben könnte?“
„Nicht die geringste. Aber es ist nicht der erste, den ich bekommen habe.“
Sein finsterer Blick wurde noch dunkler. „Wo sind die anderen?“
„Ich habe sie verbrannt. Ich … ich musste sie loswerden. Ich hatte gehofft… ich weiß nicht, was ich gehofft hatte. Dass der Schreiber einfach aufhören würde und es wieder vorbei wäre, schätze ich.“
„Es war Robert“, sagte er.
Sie zog den Gürtel erneut fester. „Robert?“
„Amy hat ihm davon erzählt. Das hat er mir gegenüber heute Abend erwähnt.“
„Woher wusste Amy …?“
„Ich glaube nicht, dass sie es wusste. Sie hat vermutlich nur geraten.“
Natürlich. Sie war so auf Cain fixiert gewesen, dass sie das Interesse einer Rivalin regelrecht gerochen hatte. „Und dann hat sie ihren Verdacht vor Robert herausposaunt.“
Er nickte.
Bei dieser Neuigkeit wurden ihre Knie weich. Robert war die letzte Person, die sie mit diesen Botschaften in Verbindung bringen wollte. Er wetteiferte mit ihr um Johns Liebe, Aufmerksamkeit und Reichtümer und würde sein Wissen einsetzen, wenn er sie damit vernichten könnte. „Er versucht, mich loszuwerden. Darum hat er diese Briefe geschickt. Es ist eine Möglichkeit, mich zu verscheuchen, ohne John mit einzubeziehen. Aber er würde auch John einweihen, wenn es sein müsste. Daran habe ich keinen Zweifel.“
Während Cain sie musterte, wünschte sie, er würde sie zum Trost in den Arm nehmen oder ihre Schulter tätscheln -irgendetwas, das ihr zeigte, dass er ihr vergeben hatte und sie zumindest Freunde sein konnten. Wegen des Fehlers, den sie begangen hatte, kam sie sich wie ein Trottel vor. Sie hatte sich selbst in eine wenig beneidenswerte Situation gebracht.
Aber Cain berührte sie nicht. Er achtete sehr sorgfältig darauf, Distanz zu wahren. „Er ist sich nicht sicher“, sagte er. „Wenn er damit zu John ginge, könnte es so aussehen, als hätte er es auf Teufel komm raus auf dich abgesehen.“
Unwillkürlich verkrampften sich ihre Finger ineinander. „Was sollen wir jetzt machen?“
„Streit es ab! Wenn du John liebst, ist das deine einzige Chance.“
„Und diese Botschaften? Soll ich zu Robert gehen und ihm sagen, dass es nicht wahr ist?“
„Nein. Wenn er es doch nicht war und er herausfindet, dass jemand anders denselben Verdacht hat, wird es ihm nur den Rücken stärken.“
„Was, wenn es nie aufhört? John könnte zufällig auf einen der Briefe stoßen, und dann …“ Sie brauchte nicht zu erklären, was dann geschähe. Sie wussten es beide.
„Du musst alles tun, um ihn davon zu überzeugen, dass es eine Lüge ist.“
Karen wünschte, es gäbe einen anderen Weg. Sie wollte ehrlich sein, ihre große Sünde beichten und Vergebung erlangen, besonders von John. Die Wahrheit zu verschweigen gab ihr das Gefühl, eine Heuchlerin zu sein. Aber John wäre so verletzt, wenn er die Wahrheit kennen würde, und das hatte er nicht verdient.
„Es tut mir so leid, dass ich das alles ausgelöst habe!“, murmelte sie.
„Willst du meinen Rat hören? Vergiss das alles!“ Cain wandte sich in Richtung Tür, aber sie hielt ihn mit einer Frage auf.
„Liebst du sie, Cain?“
Karen wusste, dass sie kein Recht hatte, diese Frage zu stellen. Aber sie fragte sich, ob es einer Frau schließlich gelungen war, diesen harten Brocken weichzukochen. Und sie wollte, dass Cain glücklich wurde. Vielleicht konnte sie sich selbst leichter vergeben, wenn sie wüsste, dass er eine Familie gründen würde.
„Wen?“
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Du weißt, wen ich meine.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was Liebe ist“, antwortete er langsam. Aber das war nur eine Ausflucht. Er wusste ganz genau, was Liebe war. Er hatte sich nur noch nie nach ihr verzehrt.
Und Karen hatte den Eindruck, dass Sheridan dabei war, das zu ändern.
Er öffnete die Tür, aber sie hielt ihn erneut zurück. „Ich wäre dir gerne eine Freundin, Cain. Wenn wir jemals an den Punkt kommen könnten, an dem … wir vergessen können … Ich will nicht zwischen dir und deiner Familie stehen. Ich würde gerne dazu beitragen, dass sich die Beziehung zwischen John und dir verbessert, wenn ich kann.“
Sie hatte erwartet, dass er hinausgehen und die Tür ohne eine Erwiderung hinter sich schließen würde. Oder dass er etwas Zynisches sagen würde wie: „Du hast bereits genug getan.“ Aber es zeigte sich, dass Cain wesentlich großzügiger war. Er drehte sich um und schenkte ihr ein halbes Grinsen. „Heirate John, und werde glücklich!“, sagte er. Dann nahm er ihre Hand und zog sie an sich, gerade lange genug, um sie flüchtig auf die Wange zu küssen.
Sie stand am Fenster, blickte ihm nach und weinte vor Erleichterung, als er davonfuhr.
John wurde schlecht, als er hinter den Büschen versteckt beobachtete, wie Cain wegfuhr. Das Licht auf Karens vorderer Veranda ging aus, aber er rührte sich nicht. Zusammengekauert blieb er im Schatten in ihrem Garten sitzen und lauschte dem Herzschlag in seiner Brust. Gesehen hatte er nichts, aber er hatte Karens leises „Bye!“, gehört, ehe die Tür geschlossen wurde. Es war von Emotionen erfüllt gewesen – positiven Emotionen.
Was, zum Teufel, ging hier vor? John konnte sich keinen einzigen guten Grund ausmalen, warum Cain Karen mitten in der Nacht besuchen sollte.
Die Wut, die wie ein lebendiges, atmendes Ungeheuer in ihm erwacht war, trieb ihn zur Tür. Die beiden mussten irgendein Geheimnis haben. Aber was für eins? Gingen sie etwa miteinander ins Bett?
Bei dieser Vorstellung musste John sich beinahe übergeben. Wenn Karen ihn für dumm verkaufte und hinter seinem Rücken über ihn lachte, während er ihr sein Herz auf dem Silbertablett präsentierte, würde er sie dafür büßen lassen. Das würde ihr noch leidtun!
Er machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen, wie er es normalerweise tat. Er hatte einen Schlüssel, schloss auf und schlich so leise wie möglich zu ihrer Schlafzimmertür, wo er die Umrisse ihres Körpers im Bett ausmachen konnte. Sie schlief. Schon.
„Karen?“
Sie fuhr herum, als hätte er sie erschreckt. „John?“
„Überrascht?“, fragte er.
Sie antwortete nicht, und das machte ihn noch wütender. „Freust du dich nicht, mich zu sehen? Ich bin der Mann, den du liebst, weißt du noch? Dein Verlobter.“
„Ich hatte nicht mit dir gerechnet. Was … was willst du?“
Er konnte ihre Angst spüren. „Eine bessere Frage wäre vielleicht, was Cain hier wollte.“
Stille. „Er, äh, hat auf einen Sprung vorbeigeschaut.“
„Macht er das öfter, Karen? Mitten in der Nacht?“
„Nein.“ Sie setzte sich auf und schüttelte den Kopf. Sie wirkte, als wollte sie ihn verzweifelt davon überzeugen, ihr zu glauben, ohne indes etwas zu erklären. Warum nicht?
„Wirst du mir den Grund dafür nennen? Oder überlässt du das lieber meiner Vorstellung?“ Sag was, verdammt noch mal! Etwas, das ich dir glauben kann, bevor ich es aus dir herausprügele!
„Es ist nicht das, was du denkst! Er … er wollte uns alles Gute wünschen, mehr nicht.“
Als er ihre atemlose Stimme hörte, begann ein Muskel in Johns Wange zu zucken. „Er ist hierhergekommen, um uns alles Gute zu wünschen“, wiederholte er. Was für eine lausige Schwindlerin sie war! Was hatte er überhaupt an ihr gefunden? Wenn er ihr wirklich wichtig wäre, würde sie ihn nicht anlügen. Sie würde sich nicht um drei Uhr morgens mit dem Menschen treffen, den er mehr hasste als alle anderen. War das ihre Form von Loyalität?
„Ich … ich habe ihn heute Nachmittag angerufen“, sagte sie.
John setzte sich neben sie aufs Bett. „Warum?“
„Um ihm von unserer Verlobung zu erzählen natürlich.“ Sie lachte, aber es klang genauso unglaubwürdig wie der Rest.
„Irgendwie finde ich es merkwürdig, dass du es ihn als Ersten wissen lassen wolltest. Wir hatten beschlossen, dass ich mit Robert und Owen reden würde, ehe wir es sonst jemandem erzählen. Schon vergessen?“
Inzwischen weinte sie, aber John empfand kein Mitleid. Sie hatte seine Liebe nicht verdient, hatte das Leben, das er sich für sie beide ausgemalt hatte, nicht verdient. „Schh!“, ermahnte er sie. „Beruhige dich! Ich bitte dich nur, mir zu sagen, was hier los ist.“
„Bitte, John!“ Sie schniefte und schnappte nach Luft. „Versuch, mich zu verstehen! Cain … tat mir so leid. Das ist alles.“
Er lachte. „Dann bist du eine unter Millionen, Karen. Er erregt bei nicht allzu vielen Leuten Mitleid.“
„Hör mir zu!“ Ihre Finger schlossen sich um seinen Unterarm. „Er hat seine Mutter so sehr geliebt … und sie dann verloren.“
Er starrte auf den Ring hinunter, den er ihr geschenkt hatte. „Ich wollte nicht seine ganze Lebensgeschichte von dir hören, Karen. Ich will nur den Grund wissen.“ Er sah ihr in die Augen und sprach jedes Wort sehr sorgfältig aus. „Nur einen Grund, der erklärt, warum er heute Nacht hier war.“
Sie ließ seinen Arm los und wischte sich die Tränen fort. Sein Diamant glitzerte, als sie sich bewegte. „Das Einzige, was er je von dir gewollt hat, war ein wenig Liebe und Anerkennung.“
„Er ist hergekommen, um dir das zu sagen?“
„Nein, ich … ich habe ihn angerufen, um ihm von der Hochzeit zu erzählen. Ich wollte nicht, dass er glaubt, er hätte … überhaupt keine Chance mehr… eine Beziehung zu dir zu entwickeln … weil du mich heiratest.“
„Ich sehe da keinen Zusammenhang.“ Natürlich gab es auch keinen. Sie schwafelte nur herum! Warum fühlte sie sich Cain gegenüber verpflichtet? Wer gab auch nur einen Furz darauf, was er von der Hochzeit hielt?
„Cain war mein Schüler, John.“
„Die Wahrheit, Karen!“, tadelte er. „Wir sind immer noch nicht bei der Wahrheit angelangt.“
„John, bitte, ich möchte es dir nicht sagen!“, platzte sie heraus. „Vertrau mir einfach! Kannst du das? Kannst du mir vertrauen, John?“
„Nein“, sagte er einfach. Nicht wenn es um Cain ging. Da konnte er niemandem trauen.
Schluchzend und zitternd schlang sie die Arme um seinen Hals, aber er reagierte nicht darauf. „Sag es mir!“
„Du würdest es nicht verstehen. Du … es würde alles kaputt machen, was wir haben. Bitte, ich flehe dich an! Lass es sein! Lass uns aus Whiterock fortgehen. Dann musst du Cain nicht mehr sehen. Keiner von uns müsste ihn je Wiedersehen.“
John hatte das Gefühl, seine Adern würden gefrieren. Wie eiskalter Schlamm kroch das Blut bis in sein Herz, lahmte es und ließ es sehr, sehr langsam schlagen … „Du hast mit ihm geschlafen“, sagte er. „Du hast mit meinem Stiefsohn geschlafen.“
Sie erstarrte, als schockierte seine Bemerkung sie.
„Das ist es, nicht wahr? Wahrscheinlich hast du brav hinter all den anderen Frauen gewartet, mit denen er zusammen war, bis du an die Reihe gekommen bist.“ Er stand auf, da er nicht länger stillsitzen konnte. „War es heute Nacht? Wie lange geht das schon so?“
„Zwischen uns ist gar nichts“, weinte sie.
Er packte den dünnen Stoff ihres Nachthemds und zerrte sie auf die Knie. „Lüg mich nicht an! Was immer du tust, wage es nicht, mich anzulügen! Ich weiß, dass du mit ihm geschlafen hast. Die Schuldgefühle sind dir doch im Gesicht geschrieben!“
„Aber n…nicht heute Nacht. N…nicht jetzt.“
„Wann dann?“ Er bohrte die Finger in das Fleisch ihrer Arme und verlangte eine Antwort.
„Vor langer Zeit! Es ist ein Mal vorgekommen, John! Wir … wir hatten seit zwölf Jahren nichts mehr miteinander. Es war ein Fehler, ich habe nicht wirklich begriffen, was ich tat. Ich war ganz konfus, und Cain kam jeden Tag und saß hinten in meiner Klasse …“
Eine flüchtige Hoffnung packte John. „Willst du damit sagen, es sei nicht deine Schuld gewesen? Dass er dich gezwungen hat?“
Als sie zu ihm aufblickte, spiegelte sich das Mondlicht, das durchs Fenster hereinfiel, in den schimmernden Tränen. Bitte sag Ja! Mehr brauchte er nicht. Dann könnte er einzig und allein Cain die Schuld geben. Dann könnte er mit Karen zur Polizei gehen, damit sie ihre Aussage dort wiederholte, und er könnte endlich die Person vernichten, die ihn seit Jahren Stück für Stück zerstörte.
Aber sie antwortete nicht. „Hat er dich vergewaltigt?“, rief er und schüttelte sie heftig.
Verunsichert durch seine grobe Behandlung, konnte sie kaum sprechen. „N…nein. Es … es war mein Fehler. Ich … ich wollte ihn. Ich war so durcheinander …“
„Du wolltest ihn.“ John ließ sie los, und sie fiel zurück aufs Bett.
„Das ist so lange her, John. Es hat keine Bedeutung für unsere jetzige Beziehung. Überhaupt keine! Über die Sache mit Cain bin ich seit Jahren hinweg.“
„Du wolltest ihn“, wiederholte er. „Er hat mit dir geschlafen, während ich wie ein Bekloppter versucht habe, wenigstens mit dir auszugehen.“
„Es war nur ein Mall Das war, bevor ich dich so kannte, wie ich dich jetzt kenne.“
Er packte sie erneut. „Begreifst du denn nicht? Ich werde dir niemals glauben können, dass du wirklich mich haben willst. Du begnügst dich mit mir, weil du weißt, dass du für ihn niemals mehr als eine schnelle Nummer sein wirst. Besonders wenn er jemand Junges, Hübsches haben kann. Jemanden wie Sheridan.“
Karen schnappte nach Luft, als er sie mit der Wahrheit konfrontierte – und schockierte. Aber war das nicht sein gutes Recht?
„John, lass uns uns beruhigen, ehe wir Dinge sagen, die wir später bereuen werden!“, bat sie und versuchte, die Situation nicht entgleisen zu lassen. „Ich weiß, dass du verletzt bist und mich verletzen willst. Aber bitte hör mir zu! Es war ein einmaliger Fehler. Mehr war da nicht.“
„Weil du dich ihm anschließend verweigert hast?“, fragte er leise.
Er spürte, wie gerne sie Ja sagen würde. Er spürte auch, wie ihre Anständigkeit mit dem Verlangen kämpfte, Cain die ganze Schuld zuzuschieben. „Nein“, gab sie schließlich zu.
„Wenn es nach dir gegangen wäre, wäre es also weitergegangen.“
Sie schwieg.
„Antworte mir!“
„Wahrscheinlich.“ Sie sprach so leise, dass er sich anstrengen musste, um sie zu verstehen.
„Na super!“ John lachte höhnisch. „Du bist die einzige Frau, die ich je wirklich geliebt habe, und jetzt finde ich heraus, dass du Cains abgelegte Schlampe bist! Was soll ich jetzt damit anfangen? Heiraten kann ich dich auf keinen Fall mehr.“
Sie klammerte sich an sein Hemd. „Vergib mir, John! Bitte! Ich … ich wollte dir schon so lange die Wahrheit sagen. Ich habe immer wieder daran gedacht.“
„Und darum hast du Cain mitten in der Nacht angerufen? Weil du es mir erzählen wolltest?“
„Ich habe ihn nicht gebeten herzukommen.“
„Er ist von sich aus gekommen?“
„Nein. Ich … ich habe ihn früher angerufen. Ich musste mit ihm reden, überlegen, was wir tun sollen. Und wir beschlossen, es sei das Beste, nichts zu sagen. Wir wussten, dass es dir nur Kummer und Zweifel beschweren würde, für nichts.“
„Wir“
„Nicht unbedingt wir. Ich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was zwischen Cain und mir passiert ist, war nur ein dummer Fehltritt. Kannst du das denn nicht begreifen? Es ist vorbei. Ich liebe dich.“
„Du liebst mich nicht!“ Er schlug zu, ehe er überhaupt wusste, dass er es tun würde. Von der Wucht des Schlages flog ihr Kopf zurück, dann klappte ihr Mund auf, und sie starrte ihn an. Vorsichtig betastete sie den Fleck, den er auf ihrer Wange hinterlassen hatte.
„Ich hoffe, jetzt fühlt du dich besser“, flüsterte sie.
Das tat er nicht. Nicht im Geringsten. Er sah sie immer noch vor sich, wie sie sich für Cain auszog, ihn in ihrem Körper willkommen hieß, die Beine um seine Hüften schlang und stöhnte, genau so, wie sie es bei ihm machte …
Er musste hier raus. Wer weiß, was er sonst noch tun würde.
Das Telefon weckte Cain auf, kaum dass er eingeschlafen war, aber er kletterte sofort aus dem Bett, um abzunehmen. Das schrille Geräusch zerrte an seinen Nerven und ließ ihn auf der Stelle an Sheridan denken. Er hätte sie nicht zurücklassen sollen. War ihr etwas zugestoßen?
„Hallo?“
Als er nichts hörte, klopfte sein Herz bis in die Kehle.
„Sheridan? Ist alles in Ordnung?“
Er hörte ein Geräusch – wie ein ersticktes Schluchzen –, und dann flüsterte eine Stimme: „Ich bin’s, Karen.“
Cain warf einen Blick auf den Wecker. Er war erst seit einer halben Stunde zu Hause, gerade lange genug, um einzuschläfern „Was ist los?“
„Er weiß Bescheid.“
John. Die Katze war aus dem Sack. Cain holte tief Luft, ließ den Kopf in die Hand sinken und massierte sich die Schläfen. „Wieso?“
„Er hat dich heute Nacht gesehen. N…nichts, was ich sagte, konnte noch etwas retten.“
Abgesehen von einem leichten Zittern in ihrer Stimme klang sie seltsam gedämpft.
„Was ist passiert?“
Sie schniefte. „Nichts anderes, als ich es verdient habe. Es ist aus zwischen uns.“
„Ihr habt ganz andere Kämpfe ausgestanden. Vielleicht beruhigt er sich wieder.“ Das glaubte Cain allerdings kaum. Er hatte gewusst, was es bedeuten würde. Für sie beide. Aber er wollte ihr ein wenig Hoffnung machen. Offensichtlich war sie am Boden zerstört.
„Nein. Er hat viel zu viele Blockaden, was dich angeht. Darüber wird er nie hinwegkommen“, sagte sie und legte auf.