17. KAPITEL
„Lass uns gehen!“, sagte Cain.
Sheridan blinzelte ihn an. „Was? Du legst nach diesem geheimnisvollen Telefonat den Hörer aus der Hand und sagst ,Lass uns gehen’?“
„Ich kann dich hier nicht allein lassen. Hier bist du nicht sicher.“
„Du könntest mir zumindest sagen, wohin wir gehen.“
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Zu meinem Stiefbruder.“
„Zu Owen? Warum?“
Weil Owen Zugang zur Blockhütte hatte. Er ging auf Cains Grundstück ein und aus und hätte mit Leichtigkeit das Gewehr in den Keller schmuggeln können. Und nach der Beerdigung von Johns Mutter, als John damit beschäftigt war, sein Liebesleben wieder aufleben zu lassen, war er häufig mit Bailey Watts jagen und fischen gegangen, jenem Mann, dem das Gewehr gehört hatte, mit dem Jason erschossen worden war. Aber Cain wollte das alles nicht erklären. Er wollte die Gedanken nicht weiter ausspinnen, die ihm durch den Kopf gingen. Er wollte sie nur widerlegen.
„Ich muss etwas überprüfen.“
Sie runzelte die Stirn. „Was?“
Er ging zum Tresen, der die Küche vom Wohnzimmer trennte, und schnappte sich die Schlüssel von der gefliesten Arbeitsplatte. „Hattest du in der Highschool viel mit Owen zu tun?“
Sie war aufgestanden und baute sich vor ihm auf, als er auf die Tür zuging. „Nicht besonders viel. Warum?“
„Ist er dir nie gefolgt oder hat sich verhalten, als wollte er sich dir nähern, mit dir reden, mit dir zusammen sein?“
„Eigentlich nicht. Er hat sich nicht für Mädchen interessiert.
Er war immerhin interessiert genug gewesen, um sie in dem Wohnmobil zu beobachten, anstatt sich bemerkbar zu machen.
„Er war zu schüchtern“, fügte sie schulterzuckend hinzu.
„Nein, nicht schüchtern“, sagte Cain. „Eingeschüchtert.“ Seine Frau erzählte witzige Anekdoten darüber, wie Owen ein ganzes Jahr lang regelmäßig die gleichen Kurse wie sie besucht hatte, in der Hoffnung, einmal mit ihr ausgehen zu können. Doch er hatte sie nie eingeladen. Schließlich hatte sie ihn gefragt, ob sie zusammen ins Kino gehen wollten. Als die Zeit reif war, musste sie ihm sogar beim Heiratsantrag auf die Sprünge helfen.
Sheridan strich sich das Haar hinter die Ohren. „Er ist auf jeden Fall nicht gewalttätig.“
Cain versuchte sich daran zu erinnern, wie sich sein vierzehnjähriger Bruder nach dem Intermezzo im Wohnmobil verhalten hatte. Aber er war so überwältigt gewesen vom Tod seiner Mutter und so damit beschäftigt, jeden Kontakt zu seinem Stiefvater zu vermeiden, dass er nicht sonderlich darauf geachtet hatte, was Owen trieb. Seine Stiefbrüder hatten einander, und sie hatten ihren Vater. Um sie hatte er sich keine Sorgen gemacht. „Ich erinnere mich nur, dass er immer nur lernte, und wenn er nicht lernte, las er. Darum hatte ich ihn auch zu der Party mitgenommen. Ich dachte, es sei an der Zeit, dass er mal ein bisschen was erlebt.“
„Die Footballspiele hat er immer besucht“, sagte Sheridan. „Ich glaube, er hat kein einziges verpasst. Er war immer da und saß direkt hinter uns … den Cheerleadern, meine ich.“
„Als wäre er nur gekommen, um dich zu sehen?“, fragte Cain. Das war das Einzige, das in dem Puzzle noch fehlte. Ein Motiv. Warum hätte Owen den Wunsch verspüren sollen, Jason oder Sheridan etwas anzutun? Und war der sanfte und wohlerzogene Arzt, den er kannte, wirklich dazu fähig, so entsetzliche Dinge zu tun, noch dazu in so frühem Alter?
Das war fast unmöglich zu glauben. Aber es musste eine Erklärung für das Bild von Sheridan in seinem Truck geben.
„Ich glaube nicht“, sagte sie. „Wo hätte er denn sonst sitzen sollen? Der arme Junge war zwei Jahre jünger als alle anderen in seinem Jahrgang. Er hatte keine Freunde, mit denen er hätte hingehen können. Mich kannte er von den Kursen, die wir zusammen hatten. Vielleicht fühlte er sich in meiner Nähe etwas wohler.“ Sie klang zuversichtlich, trotzdem huschte ein Schatten über ihre Züge.
„Was ist?“ Cain war um sie herumgegangen und hielt ihr die Tür auf.
„Eine merkwürdige Sache gab es. Aber das ist nicht damals passiert, sondern erst vor Kurzem.“
„Was denn?“
„Als er unsere …“, sie räusperte sich, „… Zeit im Wohnmobil erwähnte.“
„Was hat er gesagt?“
„Er sagte: ,Du warst das einzige Mädchen, von dem ich glaubte, es würde ihm eine Abfuhr erteilen.’ Als hätte ich ihn enttäuscht, weil ich es nicht getan habe.“
Cain ließ Sheridan am Roadhouse Cafe aussteigen, das ihm hell erleuchtet und öffentlich genug schien, damit sie dort sicher war. Es gefiel ihr gar nicht, wie ein Gepäckstück abgestellt zu werden, aber er hatte nicht vor, sie länger als eine Stunde allein zu lassen. Es widerstrebte ihm, sie mitzunehmen, wenn er Owen zur Rede stellte. Vor Publikum würde Owen kein Wort sagen, insbesondere vor weiblichem Publikum. In Gegenwart von Frauen hatte er sich schon immer unbehaglich gefühlt, und mit Ausnahme seiner Frau hatte er fast ausschließlich Umgang mit Männern.
Aber Owen war nicht zu Hause, um den Sonntagnachmittag in seinem teuren klimagekühlten Haus zu verbringen, wie Cain erwartet hatte. Seine Frau sagte, er habe einen Anruf von einem Patienten erhalten und sei in die Praxis gefahren.
Nachdem er einen Moment mit seinen drei Neffen gespielt hatte, bedankte Cain sich bei Lucy und fuhr zu Owens Praxis. Vielleicht erwischte er seinen Stiefbruder, sobald der Patient gegangen war. Aber wer immer es war – es handelte sich um eine Frau, wie er trotz der heiseren Stimme erkennen konnte –, war immer noch dort. Er konnte sie und Owen hinter der geschlossenen Tür hören, die den Empfangsbereich vom Untersuchungszimmer trennte.
Sie haben eine Streptokokkeninfektion.
Himmel, es ist Hochsommer! Wo habe ich mir das denn eingefangen?
Das kann überall passiert sein. Ich werde Ihnen ein Antibiotikum verschreiben, dann sollte es Ihnen innerhalb von vierundzwanzig Stunden besser gehen. Wenn sich Ihr Zustand nicht merklich verbessert, rufen Sie mich an. Und nehmen Sie ein paar Ibuprofen gegen das Fieber, sobald Sie wieder zu Hause sind.
Cain schaltete das Licht in der Lobby an und blätterte in ein paar Zeitschriften. Dann stand er auf, um nachzusehen, ob Owen einen neuen Fisch für das riesige Aquarium gekauft hatte, das den Großteil der einen Wand einnahm, aber die ganze Zeit über behielt er die Uhr im Blick und grübelte über Tigers Entdeckung nach. Was würde Owen ihm antworten?
Endlich öffnete sich die Tür, und Dahlia Daugherty kam heraus, eine Frau in den Fünfzigern, die im Supermarkt arbeitete. Ihre tränenden Augen und die roten Wangen ließen sie so krank aussehen, wie sie sich ohne Zweifel auch fühlte.
„Hallo, Cain. Wann sind Sie denn gekommen?“, fragte sie, als sie ihn sah.
„Vor ein paar Minuten“, erwiderte er, aber seine Aufmerksamkeit war auf Owen gerichtet, der hinter ihr stand. Sein Stiefbruder wirkte nicht überrascht, ihn zu sehen – aber auch nicht erfreut.
„Viel schlafen und trinken“, erinnerte er Mrs Daugherty, während sie hinausschlurfte.
„Gute Besserung!“, rief Cain ihr nach.
„Danke.“
Die Außentür schloss sich mit einem leisen Klick hinter ihr und hinterließ eine Stille, die nur vom Summen des Deckenventilators durchbrochen wurde.
Owen musterte Cain durch die goldgerahmte Brille, die er bei der Arbeit trug. „Ich nehme an, du hast mit Tiger gesprochen?“
Cain nickte.
„Was hat er dir erzählt?“ Owen hatte sich nicht die Mühe gemacht, die schweren Jalousien hochzuziehen, die seine Assistentin am Freitagabend heruntergelassen hatte, ehe sie gegangen war. Obwohl das Licht eingeschaltet war, beschlich Cain ein unangenehmes Gefühl, fast als wäre er eingeschlossen.
„Was glaubst du denn, was er mir erzählt haben könnte?“, fragte Cain zurück.
„Dass er das Foto gesehen hat natürlich.“
Es war immer schwer zu sagen, was in Owens Kopf vorging. Er isolierte sich von der Welt, versteckte sich hinter seiner Brille und dem weißen Kittel. Er war förmlich, gestelzt, fühlte sich leicht fehl am Platze – es sei denn, er saß hinter einem Bücherturm an seinem Schreibtisch – und gab selten etwas Persönliches preis. Aber das war auch schon das Schlimmste, was Cain jemals von ihm gedacht hätte. Dass er ein bisschen ungesellig war und Schutz hinter seinem professionellen Status suchte. Nicht, dass er ein Mörder war. „Er hat es in deinem Truck gesehen.“
„Und jetzt bist du hier, weil du herausfinden willst, warum.“
„Ich bin sicher, dass ich nicht der Einzige bin, der es wissen wollen wird.“
„Hast du schon irgendjemandem davon erzählt?“
„Nur Sheridan.“
„Vermutlich glaubst du jetzt, ich sei derjenige, der versucht, dir etwas anzuhängen.“
„Ich hoffe, du kannst mich davon überzeugen, dass es nicht so ist.“
Owen trommelte mit dem Stift, mit dem er Mrs Daughertys Rezept ausgestellt hatte, auf dem Tresen herum und sagte nichts.
„Also?“, drängte Cain.
„Ich habe das Foto nicht gemacht.“
Cain trat näher. Darauf hatte er gehofft, er wollte es glauben. „Wer dann?“
Sein Stiefbruder blinzelte ihn durch die Brille an. „Es muss Robert gewesen sein.“
„Robert?“
„Ich habe ihm neulich meinen Truck geliehen.“
Cain erinnerte sich. Beim Pflegeheim. In den letzten Tagen hatte er versucht, nicht darüber nachzudenken, wie viel Geld Robert Marshall abgeschwatzt haben mochte. „Und?“
„Er muss das Bild darin liegen gelassen haben.“
„Ich möchte es sehen“, sagte Cain.
„Das geht nicht.“
„Solange du nicht jemanden deckst, dich oder Robert, hast du es noch.“
„Ich decke niemanden. Ich habe es noch, aber ich habe es in meiner Garage versteckt, damit niemand es findet, bis ich herausgefunden habe, was es zu bedeuten hat.“
Cain stieß einen langen Seufzer aus und begann, auf und ab zu gehen. „Hast du irgendeine Idee, wann oder wo es aufgenommen worden ist?“
„Es ist auf normalem Papier ausgedruckt und trägt kein Datum. Es ist aufgenommen worden, nachdem Sheridan in die Stadt gekommen ist, aber bevor sie zusammengeschlagen wurde. Sie hat keine sichtbaren Verletzungen.“
„Was ist mit den Örtlichkeiten?“
„Sie ist im Haus ihres Onkels. An der Küchenspüle. Derjenige, der den Schnappschuss gemacht hat, stand draußen vor dem Fenster.“
„Ist es möglich, dass Robert ihr nachgestellt hat? Dass er das Foto gemacht und es später in deinem Truck liegen gelassen hat? Absichtlich oder zufällig?“
„Irgendjemand hat ihr nachgestellt. Ich weiß nicht, ob es Robert war. Als ich ihn deswegen gestern Abend zur Rede gestellt habe, behauptete er, das Foto nie zuvor in seinem Leben gesehen zu haben.“
Cain machte sich nicht viel aus Robert, aber es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass sein jüngster Stiefbruder zu so viel Brutalität fähig wäre wie der, die Sheridan widerfahren war. Und falls es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen den Schüssen vor zwölf Jahren und dem Überfall gab, konnte Robert es nicht gewesen sein. Er hätte Jason nie umgebracht. Er war zwar schon immer groß für sein Alter gewesen, und mit einer Skimaske vor dem Gesicht hätte er mit dreizehn möglicherweise als kleingewachsener Mann durchgehen können. Aber er hatte Jason angebetet. Völlig unmöglich, dass er ihn erschossen hatte. „Wann ist dir das Foto in deinem Truck zum ersten Mal aufgefallen?“
„Als Tiger es bemerkte natürlich. Sonst hätte ich es schon viel früher weggenommen.“
„Und was sollte diese Heimlichtuerei? Du hast es zurückgelegt und die Tür zugemacht.“
Owen blieb ruhig. „Das war keine Heimlichtuerei. Ich wollte nur nicht, dass er es sieht. Ich hatte gehofft, dass er nicht genug erkannt hatte, um zu wissen, was er da gesehen hat. Ich wollte Zeit herausschinden, um die Sache selbst zu untersuchen.“
Gut vorstellbar, dass Owen die Situation so handhaben würde, wie er es beschrieb. Er war von Natur aus zurückhaltend, methodisch und besonnen. Aber Cain hatte noch andere Fragen. „Warum bist du damit nicht zu mir gekommen?“
Owen schob die Brille auf der Nase nach oben. „Weil ich immer noch nicht weiß, was es zu bedeuten hat.“
In der Nacht, in der Sheridan überfallen worden war, war Robert betrunken gewesen – so betrunken, dass er seinen Wagen demoliert und das Gesicht verbeult hatte. War er so betrunken gewesen, dass er noch mehr angestellt hatte? Waren einige seiner Verletzungen das Ergebnis von Sheridans Versuchen, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen?
Aber warum sollte er sie überhaupt angreifen? Und warum mit dieser Heftigkeit? Wer immer sie in den Wald gebracht hatte, war entweder völlig von Sinnen gewesen – oder wollte sie umbringen. Das war offensichtlich.
„Robert hätte Jason nie etwas angetan“, sagte Owen und sprach damit Cains Gedanken laut aus. „Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass er Sheridan angegriffen hat. Aber …“
Cain runzelte die Stirn, als Owen immer leiser wurde. Aber sie hatten keine andere Erklärung. Das Foto musste irgendwoher kommen. Cain wünschte, er wüsste, von wo. War es Owen, der hier log? Oder Robert? Oder lag die Antwort ganz woanders?
„War Dad dabei, als du Robert zur Rede gestellt hast?“
„Nein, er war bei Karen. Er verbringt eine Menge Zeit mit ihr.“
Cain dachte an die peinlichen Begegnungen mit seiner ehemaligen Englischlehrerin, seit sie wieder in Whiterock lebte. Die erste hatte im Supermarkt stattgefunden. Sie kam um die Ecke geschossen und wäre beinahe mit ihrem Wagen in ihn hineingefahren. Sie war puterrot geworden, hatte eine Entschuldigung gemurmelt und war davongeeilt. Das nächste Mal hatten sie sich im Restaurant getroffen. Er hatte dort allein zu Abend gegessen. Als er aufblickte, ertappte er sie dabei, wie sie ihn vom anderen Ende des Raumes aus beobachtete.
Doch das letzte Zusammentreffen war das unangenehmste gewesen. Sie hatte seinen Stiefvater zu einer Pferdeshow in Kentucky begleitet, die Cain ebenfalls besucht hatte. Da es so weit weg war, hatte Cain nicht erwartet, dort jemand Bekanntes zu treffen, aber sobald John ihn in der Menge entdeckt hatte, war er mit Karen zu ihm herübergekommen und hatte so getan, als freue er sich über das unerwartete Treffen. Er hatte sogar darauf bestanden, dass sie alle gemeinsam zu Abend aßen.
Das war vor zwei Monaten gewesen, während einer dieser seltenen Phasen, in denen John sich Mühe gab, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Hin und wieder überkam es John. Doch seine Bemühungen waren unberechenbar, als wollte er, dass Cain ihn mochte, obwohl er es langfristig gar nicht aushalten konnte.
Jetzt, wo John glaubte, er hätte Jason auf dem Gewissen, bezweifelte Cain, dass er jemals wieder den Versuch unternehmen würde, ihm näherzukommen. Was ihn seltsamerweise eher erleichterte. Cain konnte ihm nicht vergeben, wie er Julia behandelt hatte. Es war einfacher, wenn sie einander aus dem Weg gingen.
„John weiß also nichts von dem Bild?“, fragte Cain.
„Natürlich nicht. Niemand weiß davon. Ich fand, es sei das Beste, es dabei zu belassen, bis ich den Fotografen ausfindig gemacht hätte und wüsste, wer es in meinen Truck gelegt hat.“
„Schließt du den Wagen nachts ab?“
Owen schüttelte den Kopf. „Wenn jemand ein Auto stehlen wollte, dann bestimmt nicht dieses.“
Und er parkte oft direkt an der Straße, sodass praktisch jeder Zugang dazu hatte. Aber es war ziemlich weit hergeholt, dass jemand das Foto gemacht, ein Loch in Sheridans Gesicht gestochen und es anschließend in Owens Truck gelegt haben soll.
Konnte er Owen glauben? Schwer zu sagen. Owen war der Mensch mit der größten Selbstbeherrschung, den er kannte. Er erzählte nie etwas von sich. Ob er gewollt hatte, dass sein Vater Cains Mutter heiratet oder nicht. Wie es ihm damit ging, zwei Klassen übersprungen zu haben. Ob er es bedauerte, seinen Abschluss so früh gemacht zu haben. Wie sehr er Jason vermisste. Ob er Cain dessen Anwesenheit in seinem Leben verübelte. Cain wusste nie, was er wirklich über irgendetwas dachte.
Doch Sheridan gegenüber hatte er sehr wohl ein paar Gefühle gezeigt. Er hatte sie wissen lassen, dass er enttäuscht war, weil sie mit Cain geschlafen hatte. War sie die eine Frau, die er immer im Stillen bewundert hatte? Die eine, die ihn, aus welchem Grund auch immer, dazu provozieren könnte, brutale Gewalt auszuüben?
„Was hast du Lucy erzählt?“, fragte Cain.
„Nichts. Sie weiß gar nichts darüber.“
Cain fragte sich, ob das bei vielen Dingen der Fall war. Lucy bewunderte die Intelligenz ihres Mannes und rühmte seine kühle Zurückhaltung. Sie war mit einem polternden, trinkenden Vater aufgewachsen, der sie gelegentlich misshandelt hatte, und Owen schien das genaue Gegenteil zu sein. Aber hatte sie jemals hinter sein beherrschtes Auftreten geschaut?
Cain jedenfalls hatte es nicht getan.
„Lass uns gehen“, sagte er.
„Wohin?“
„Ich fahre mit dir nach Hause.“
Owen hob die Augenbrauen bis über den Brillenrand. „Warum?“
„Ich will das Bild haben.“
„Und was willst du damit machen?“
Cain schaltete das Licht aus. „Ich weiß noch nicht.“
„Du wirst es doch nicht Dad zeigen, oder?“, fragte Owen, ohne sich zu rühren.
„Du möchtest nicht, dass ich das tue?“
„Er ist ziemlich aufgewühlt wegen Amy. Du und Amy wart vielleicht geschieden, aber sie hat ihn mehr wie einen Vater behandelt als …“ Er hielt inne, bevor er den Satz beendet hatte, aber er hatte bereits genug gesagt.
„Als ich?“ Offensichtlich war Owen stärker aus der Fassung gebracht, als Cain gemerkt hatte. Oder es war ein absichtlicher Schnitzer.
„Sie standen einander nahe“, fuhr Owen fort und wich seinem Blick nicht aus. „Sie war seine erste Schwiegertochter. Und sie ist ständig vorbeigekommen. Letzte Woche erst hat sie ihm einen Sack Pfirsiche von ihrem Baum gebracht.“
„Und was hat dieses Bild von Sheridan mit Amy zu tun?“
„Ich will damit nur sagen …“ Er schien nach Worten zu suchen. „Na ja, nach dem Mord an ihr und … und Roberts Trinkerei in letzter Zeit … und nachdem Baileys Waffe in deiner Hütte gefunden wurde, denke ich, wir sollten Dad nicht in die Sache mit hineinziehen. Robert erzählte mir, dass Dad schon wieder Schmerzen in der Brust hat.“
John hatte schon seit Langem zu hohen Blutdruck. Außerdem hatte er ernsthafte Schlafstörungen. Cain konnte sich daran erinnern, dass er nachts aufgestanden ist, herumlief, ein heißes Bad nahm oder sich einen Tee kochte, um sich zu entspannen. Aber Owens Erklärung ergab keinen Sinn. „Wenn du und Robert nichts damit zu tun habt, warum machst du dir dann solche Sorgen, ich könnte es Dad erzählen?“
Owen antwortete nicht.
„Warte mal! Du glaubst, dass es tatsächlich Robert war. Du denkst, dass es Robert gewesen sein muss. Und du willst nicht, dass Dad zu demselben Schluss kommt.“
„Wir wissen nicht genug, um deswegen Staub aufzuwirbeln“, erwiderte Owen. Endlich begriff Cain, was hinter diesem absichtlich ausdruckslosen Gesichtsausdruck steckte. Owen glaubte, es sei besser für John, Cain zu verdächtigen als seinen „richtigen“ Sohn. Der Gedanke, dass Robert etwas so Entsetzliches getan hatte, etwas, das nicht wiedergutgemacht oder verschwiegen werden konnte – so wie John die anderen Missetaten und Fehler seines jüngsten Sohnes wiedergutmachte oder verschwieg –, könnte zu dem Herzinfarkt führen, den sie seit Jahren befürchteten.
„Ich bin also das Opferlamm“, stellte Cain fest.
Owen streckte das Kinn leicht vor und verriet damit einen Hauch von Streitlust. „Dir ist er doch sowieso egal.“
Sein Stiefbruder hatte recht, aber Cain war nicht gleich am Beginn ihrer Beziehung vom Schlimmsten ausgegangen. Er hatte sich darauf gefreut, einen Vater zu bekommen, und wollte, dass John ihn akzeptierte. Aber John hatte ihm nie etwas gegeben, an dem er sich hätte festhalten können. Keine Liebe, keine emotionale Unterstützung, nichts. Owen war im selben Haus aufgewachsen, aber er hatte Cains Gedanken, Gefühle oder Handlungen nie verstanden. Und wahrscheinlich würde er es auch nie verstehen.
Cain sagte sich, er solle sich nichts daraus machen, wenn Owen ihm für den Bruch mit John die Schuld gab. Es war immer das Gleiche, und dies war nur eine weitere Mahnung, dass er sich vom Rest der Familie unterschied und nicht dazugehörte.
„Gut“, nickte er. „Ich werde kein Wort zu Dad oder sonst jemandem sagen. Zumindest noch nicht.“
Owen konnte seine Überraschung nicht ganz verbergen. „Du hältst den Mund?“
„Wenn du mir den Grund dafür nennst.“
Owen verlagerte sein Gewicht. Offensichtlich fühlte er sich unbehaglich. „Den Grund wofür?“
„Du hast Angst. Es geht um mehr als nur um das Foto.“
Jetzt, wo das Licht aus war, lag Owens Gesicht im Schatten, aber Cain wusste, dass er sich fürchtete, weil er so steif dastand. „Es geht um nichts anderes.“
„Was verschweigst du mir?“
„Nichts. Robert war zu jung.“
„Für die Schüsse, aber nicht für den Angriff auf Sheridan. Wie passt die Schießerei dazu? Das ist es, was dir wirklich Sorgen macht, stimmt’s? Du hast eine Verbindung gefunden. Und jetzt hast du Angst, die Familie auseinanderzureißen.“
Keine Antwort.
„Wie passt die Schießerei dazu?“ Und dann fiel es ihm ein. „Woher kam Baileys Gewehr?“, fragte er und senkte die Stimme.
„Ich weiß es nicht.“
„Doch, du weiß es.“
Owen nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Es war eine schützende Bewegung, der Versuch, Zeit zu gewinnen, aber Cain würde sich nicht länger hinhalten lassen.
„Sag es mir, verdammt noch mal!“, brüllte er. „Ich will die Wahrheit wissen!“
Owen stieß einen langen Seufzer aus und setzte die Brille wieder auf. „Ich habe es in Roberts Kofferraum gefunden.“
„Was hattest du an Roberts Kofferraum zu schaffen?“
„Ich habe nach einem Starthilfekabel gesucht. Lucys Wagen sprang nicht an, und ich konnte mich nicht erinnern, wo ich meines gelassen hatte.“
„Aber das war, bevor die ballistischen Untersuchungen ergaben, dass Jason damit umgebracht worden war.“
„Es musste aus einem bestimmten Grund gestohlen worden sein. Und als ich das Gewehr in Roberts Auto fand, bekam ich Angst, was für ein Grund das sein könnte.“