26. KAPITEL
Sheridan saß neben Skye in der letzten Bankreihe in genau der Kirche, die sie immer mit ihrer Familie besucht hatte, als sie noch in Whiterock gelebt hatte. Der Trauergottesdienst hatte noch nicht begonnen, aber das Gebäude war bereits völlig überfüllt. Amys spektakulärer Tod hatte mehr Interesse hervorgerufen, als Sheridan erwartet hatte.
Sie musterte die Menschen, die dicht gedrängt an der hinteren Wand der Kirche standen.
„Suchst du Cain?“, fragte Skye.
Genau das hatte Sheridan getan, aber sie wollte es nicht zugeben. „Ich wünschte nur, ich könnte mich ebenfalls hinstellen. Dann könnte ich die anderen viel besser sehen.“
„Warum tust du es dann nicht?“
„Das fragst du noch?“ Sheridan deutete auf ihre Schuhe. „Das würde ich nie aushalten.“ Sie hatte nicht erwartet, in Whiterock an einer formellen Veranstaltung teilnehmen zu müssen, sodass Skye und sie sich erst noch die Kleidung besorgen mussten, die sie jetzt trugen. Skye hatte sich für einen schlichten schwarzen Rock, eine weiße Bluse mit hohen Manschetten und eine schwarze Weste entschieden, Sheridan hatte sich ein schwarzes Etuikleid gekauft, dazu eine Kette aus falschen Perlen und Riemchensandalen. Die Schuhe waren viel zu hoch, um bequem zu sein, aber es waren die besten gewesen, die sie hatte finden können.
„Und? Fällt dir irgendetwas Ungewöhnliches auf?“, fragte Skye jetzt.
„Nichts Besonderes.“
„Erzähl mir, wer die Leute sind. Die einzige Person, von der ich mit Sicherheit weiß, wer sie ist, ist die arme Frau im Sarg.“
„Siehst du den Mann mit dem Tweedjackett und der blauen Krawatte? Das ist Cains Stiefvater, John Wyatt. Tiger kennst du bereits, und Pastor Wayne hat uns vorhin schon begrüßt.“
„Ich erinnere mich. Er ist derjenige, der sagte, er hätte ein Gästezimmer für dich frei, falls du eines brauchst.“
Sheridan verdrehte die Augen. „Du hast dich mit meinen Eltern gegen mich verschworen.“
Lachend erwiderte Skye: „Freust du dich nicht, dass ich an ihrer statt bei Cain aufgetaucht bin?“
Sheridan knuffte sie. „Musst du das unbedingt erwähnen?“
„Das ist es doch, was Freunde tun. Ich werde dich für den Rest deines Lebens damit aufziehen.“
„Gut zu wissen.“
„Cains Stiefvater hat sich aber ziemlich gut gehalten.“
„Stimmt. Seine silbrigen Schläfen gefallen mir.“
„Wie alt ist er?“
„Vierundfünfzig oder so. Die Frau, die er heiraten will, ist eine ganze Ecke jünger.“
„Deine ehemalige Englischlehrerin?“
„Richtig.“
„Wo ist sie?“
Sheridan konnte Karen Stevens nirgends entdecken. „Ich weiß nicht. Aber sie sieht auch gut aus.“
Sie verfielen in Schweigen, während sie darauf warteten, dass der Gottesdienst begann. Die Tür öffnete und schloss sich mehrmals, aber Cain kam nicht. Sheridan erspähte Owen und seine Frau in der Menge. Marshall war bei ihm, und Robert saß in derselben Bank. Trotz seiner Krawatte, die nicht lang genug war, um über seinen vorgewölbten Bauch zu reichen, sah er schlampig aus. Der Polizeibeamte, der sie auf dem Polizeirevier befragt hatte, saß auf der anderen Seite des Ganges, und sie erkannte mehrere Leute, von denen sie die meisten mehr als ein Jahrzehnt nicht gesehen hatte. Viele von ihnen lächelten oder winkten, doch die Stimmung war so gedämpft, wie es einer Beerdigung angemessen war.
„Was für eine Tragödie!“, sagte die ältere Dame zu ihrer Rechten flüsternd zu dem Mann neben ihr. „Was ist nur aus der Welt geworden?“
„Es ist ziemlich heiß hier drin“, beklagte sich Skye und übertönte die Antwort des Mannes. „Wollen die nicht langsam mal anfangen? Wenn das in dem Tempo weitergeht, verpasse ich noch mein Flugzeug.“
Sheridan ließ den Blick über die Blumenarrangements gleiten, als die Dame an der Orgel eine weitere Hymne anstimmte. „Du fliegst doch erst in drei Stunden.“
„Eben!“
Fünfzehn Minuten später war der Duft der Nelken so drückend geworden, dass Sheridan unwillkürlich an Jasons Beerdigung denken musste. Damals hatte es genauso gerochen. Fünf Minuten später benutzten die Leute ihr Programme als Fächer, aber zumindest hatte der Gottesdienst angefangen. Pastor Wayne hatte ein angemessen kummervolles Gesicht aufgesetzt, als er das Mikrofon auf dem Podium justierte und darauf wartete, dass die Gemeinde zur Ruhe kam.
In dem Moment, in dem er die Gebete beendet hatte, wurde die Tür erneut geöffnet, und ehe Sheridan auch nur hingesehen hatte, wusste sie, dass es Cain war. Sie hörte das Stimmengemurmel und wusste, dass viele Leute darüber spekuliert hatten, ob er die Stirn haben würde, hier aufzukreuzen.
Wütend musterte Sheridan die Trauergäste, die sich umdrehten, um ihn anzustarren. Cain jedoch schien die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, nicht zu kümmern. Zweifelsohne hatte er so etwas erwartet. Sie hatte gehört, wie Ned gegen Cain hetzte, als sie mit Skye in die Kirche gekommen war. Cain solle besser aufpassen, denn eines Tages würde er ihn noch ins Gefängnis bringen.
Solches Gerede gab Ned das Gefühl, er würde etwas wegen des Todes seiner Schwester unternehmen, aber Sheridan verriet es vor allem, dass er keine brauchbaren Spuren hatte. Andernfalls würde er sich nicht mit leeren Drohungen begnügen müssen.
Sie fragte sich, was Ned davon halten würde, wenn Cain ihm erzählte, dass Tiger in der Nacht, in der sie angegriffen worden war, dreimal an ihrem Haus vorbeigefahren war. Tiger war vermutlich der einzige Mensch, der gewusst hatte, wo Amy steckte, als sie erschossen wurde – weil er ihr bereits zuvor dorthin gefolgt war. Und er hatte einen Grund, wütend zu sein, weil Sheridan sich vor zwölf Jahren mit Jason getroffen hatte. Sheridans Meinung nach war er verdächtiger als jeder andere.
Cain stellte sich in die entfernteste Ecke des Gebäudes, anstatt zu versuchen, einen Sitzplatz zu finden, aber wenn er gehofft hatte, in der Menge untertauchen zu können, dann hatte er keinen Erfolg damit. Er war mehrere Zentimeter größer als die meisten anderen Männer und wesentlich attraktiver. Er trug eine schwarze Anzughose und schwarze Schuhe, dazu eine schwarze Krawatte und ein strahlend weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Und anders als die anderen war er noch nicht lange genug in der Kirche eingesperrt, um zu schwitzen. Unwillkürlich kam Sheridan der Gedanke, dass Amy sich freuen würde, weil er sich nur für sie so schön gemacht hatte.
Er ist vielleicht nicht der Typ, der heiratet und eine Familie gründet, aber er ist ein wunderbarer Mann, dachte Sheridan. Ungeachtet dessen, was zwischen ihnen vorgefallen war, hoffte sie, dass sie Freunde sein könnten.
Sie merkte, dass Skye sie fragend ansah. „Was ist los?“
„Nichts“, flüsterte sie. „Ich finde auch, dass er gut aussieht.“
Wenn man bedachte, wie leidenschaftlich Skye ihren Mann liebte, war das ein ziemliches Eingeständnis.
Sheridan antwortete nicht, weil Pastor Wayne darüber sprach, wie schrecklich es sei, Amy schon in so jungen Jahren zu Grabe zu tragen. Ein paar Menschen um sie herum schluchzten bereits, und Ned war erneut zusammengebrochen. Seine Frau legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern. Dann war Cains Stiefvater an der Reihe, ein paar Worte zu sagen.
„Vor zwölf Jahren habe ich meinen Sohn beerdigt. Und jetzt habe ich eine Tochter verloren“, begann er. „Amy war liebenswürdig und selbstlos und hatte aus Whiterock einen besseren Ort zum Leben gemacht. Das Schwierigste für mich, für uns alle, ist die eine Frage, die zu diesem Zeitpunkt niemand beantworten kann. Warum?“
Seine Stimme klang erstickt, und Sheridan fühlte einen Kloß in ihrer eigenen Kehle. Allen hier ging die Geschichte nahe.
„Er scheint ein netter Kerl zu sein“, flüsterte Skye. „Warum kommen er und Cain nicht miteinander aus?“
Das hatte Sheridan sich auch schon oft gefragt. „Ich glaube, er gibt Cain die Schuld an Jasons Tod“, wisperte sie zurück, „aber das eigentliche Problem hat schon viel früher angefangen.“
Sheridan merkte, dass Tiger sie anstarrte. Sein Gesicht war verquollen, aber er weinte nicht wie fast alle anderen. Stoisch saß er da und schien sich in dem neuen Anzug, der etwas zu eng war, ziemlich unbehaglich zu fühlen. Er wartete darauf, dass er an die Reihe kam.
Als Cains Stiefvater fertig war, stand Tiger auf und sagte: „Ich habe Amy geliebt, und ich werde sie vermissen. Aber der einzige Mann, den sie wirklich geliebt hat, war Cain Granger.
Dieses offene Eingeständnis war kaum der Nachruf auf Amy, den jedermann erwartet hatte. Vielleicht war es auch ein wenig zu ehrlich. Die meisten Gemeindemitglieder begannen zu murmeln und sich auf ihren Plätzen umzudrehen, um Cains Reaktion zu beobachten.
Cain blieb, wo er war. Seine Augen funkelten entschlossen, als er ihren prüfenden Blicken standhielt.
Dann fuhr Tiger fort. „Vielleicht hatte er genug von ihr und hat sie erschossen. Darüber weiß ich nichts. Aber ich weiß, dass sie keinen Grund hatte, in jener Nacht dort zu sein. Und ich kann euch versichern, dass er Jason nicht erschossen hat.“
Die Unruhe und der Lärm wurden so laut, dass Tiger eine Hand hob, um sich Gehör zu verschaffen. „Sie erzählte mir zu verschiedenen Gelegenheiten, dass er es nicht getan hatte, dass er so etwas nie tun würde. Und ich glaube, sie kannte ihn besser als sonst jemand, vor allem damals.“
Ned war aufgesprungen. „Das hier ist keine Veranstaltung zu Cains Verteidigung! Um Gottes willen, das ist die Beerdigung meiner Schwester!“
„Darum habe ich gesagt, was ich gesagt habe“, erklärte Tiger. „Ich weiß, dass sie gewollt hätte, dass ihre wahren Gedanken über diese Angelegenheit bekannt werden.“
Damit setzte er sich wieder, und Skye beugte sich näher. „Es ist mir egal, wie oft er in der bewussten Nacht vorbeigefahren ist, und wenn es fünfzehn Mal war. Tiger war es nicht.“
Endlich stieß Sheridan den Atem aus, den sie bis jetzt angehalten hatte. „Ich weiß.“
Cain ignorierte die Spekulationen in der Kirche über seine Person und suchte den Blick seines Stiefvaters. Nach dem, was Tiger gesagt hatte, musste er doch einsehen, dass er unschuldig war. Aber das spielte keine Rolle. John hatte noch etwas anderes, das er ihm vorhalten konnte.
Er weiß Bescheid … Karens Worte von letzter Nacht kamen Cain in den Sinn. Zumindest war er dieses Mal tatsächlich des Vergehens schuldig, das John ihm vorwarf.
Cain wandte der gesamten Gemeinde den Rücken zu, ging hinaus und hängte seine Krawatte an einen Zweig, als er den Pfad zum Parkplatz hinunterging. Er brauchte John Wyatt nicht oder Owen oder Robert oder Marshall. Er brauchte niemanden. Nicht einmal Sheridan.
Sheridan schon gar nicht. Denn sie bedrohte ihn in einem Maße, in dem es niemand sonst vermochte.
Karen starrte sich im Spiegel an. Sie hasste es, Amys Beerdigung fernbleiben zu müssen, aber so wie sie aussah, konnte sie unmöglich hingehen. John hatte so kräftig zugeschlagen, dass ein blauer Fleck auf ihrer Wange prangte und ihre Augen rot und verquollen waren. Jeder, der sie sah, würde sofort wissen wollen, was los war. Und die bloße Frage schon würde sie zum Weinen bringen. Darum konnte sie auch nicht zur Schule gehen. Sie hatte sich krankgemeldet.
Sie nahm das letzte Taschentuch, putzte sich zum zigsten Mal die Nase und wandte sich von dem Anblick ihres fleckigen Gesichts ab. Was würde als Nächstes geschehen? Sie hatte Angst, es herauszufinden. Sie wollte zu gerne glauben, dass John wieder zu Sinnen kommen und ihr vergeben würde, aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das nicht passieren würde. Ihr Geständnis hatte das Band, das zwischen ihnen bestanden hatte, durchtrennt. Sie hatte eine Seite von ihm gesehen, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte, und war sich nicht mehr sicher, ob er wirklich der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Selbst wenn sie sich wieder zusammenraufen würden, würde es nicht lange gut gehen. Cain machte ihn einfach vollkommen verrückt. John würde aus der kleinsten Kleinigkeit etwas herauslesen und weit mehr in ihre Beziehung zu Cain hineininterpretieren, als drin war. Jedes Mal, wenn er sich über sie ärgerte, würde er ihr ihren alten Fehltritt vorhalten. Das Wissen darum würde ihn innerlich auffressen, bis die Geringschätzung, die er ihr gestern entgegengebracht hatte, erneut an die Oberfläche kommen würde.
Sie konnte nicht erwarten, dass sie einfach dort weitermachten, wo sie aufgehört hatten. Aber sie musste zumindest versuchen, mit ihm zu reden, bevor er ihren Ruf ruinierte. Sie bezweifelte, dass irgendein Staatsanwalt nach so vielen Jahren noch Anklage gegen sie erheben würde, aber wenn John irgendjemandem davon erzählte, würde sie nie wieder erhobenen Hauptes durch Whiterock gehen können. Der Schulausschuss würde sie nicht länger unterrichten lassen. Und sobald die Geschichte erst einmal heraus war, würde sie vermutlich auch an keiner anderen Schule je wieder einen Job bekommen. Die Uhr war fast zwei. Inzwischen müsste John von der Beerdigung zurück sein. Sie schnappte sich ihre Tasche, wischte sich ein letztes Mal übers Gesicht und verließ das Haus.
So ungehalten Sheridan auch über Skyes Reaktion auf Cain gewesen war, so schwer fiel es ihr jetzt, ihre Freundin ziehen zu lassen.
„Dir wird ohne mich in Whiterock nichts passieren, nicht wahr, Sher?“ Skye sah ihrer Freundin fest in die Augen, während sie ihre Taschen ausluden.
„Natürlich nicht!“, erwiderte Sheridan überzeugender, als ihr zumute war. Denn sie war sich nicht so sicher. Sie waren getrennt gefahren, damit Skye ihren Mietwagen am Flughafen zurückgeben konnte und Sheridan mit ihrem eigenen Wagen zurückfahren konnte. Auf dem Weg hatten sie einen Handyladen entdeckt, sodass sie jetzt auch ein neues Ladegerät besaß. Außerdem hatte sie die Pistole. Skye hatte darauf bestanden, dass sie sie behielt, und sie lag immer noch unter dem Sofakissen versteckt. Und was noch besser war, Sheridan war stärker und klüger geworden.
Trotzdem hatte sie jede Menge Bedenken. War es nicht naiv von ihr, noch länger zu bleiben? Glaubte sie tatsächlich, sie könnte ein Verbrechen aufklären, bei dem es keine echten Spuren gab?
„Sheridan?“ Skye neigte den Kopf, um ihr ins Gesicht zu schauen.
Sheridan blinzelte. „Was ist?“
„Überlegst du es dir gerade noch einmal anders? Wenn ja, komme ich gerne mit dir nach Whiterock zurück und helfe dir beim Packen.“
„Ich denke gerade noch einmal darüber nach“, gab sie zu.
„Aber … ich glaube nicht, dass ich vor dem davonlaufen kann, was geschehen ist. Sobald ich zu Hause wäre, würde ich wieder zurückwollen. Es wäre vielleicht etwas anderes, wenn ich Ned und seiner Truppe vertrauen könnte, aber so …“
„Aber leider hat der Mörder die Elitetruppe um ein Viertel reduziert.“
„Skye!“
Sie hob eine Hand. „Ich weiß, tut mir leid. Das war respektlos. Ich wollte nur sagen, dass Whiterock im Grunde keine Polizei hat.“
„Normalerweise gibt es dort auch nicht besonders viele Verbrechen. Ich möchte, dass meine Heimatstadt wieder sicher ist. Ich will denjenigen, der mich angegriffen und der Jason und Amy umgebracht hat, hinter Gittern sehen.“
Skye schob den Riemen ihrer Handtasche ein Stück höher. „Ich kann dir nicht versprechen, dass Jonathan nicht hier auftauchen wird. Sobald er den Fall abgeschlossen hat, wird er in den Flieger springen, da bin ich mir ziemlich sicher.“
„Er ist ein verdammt guter Ermittler. Ich könnte seine Hilfe brauchen, falls er Interesse hat.“
„Wir haben alle Interesse daran. Nur keine Zeit.“
„Ich schaff es schon!“
„Ich weiß, dass du es schaffst! Und ich schätze, das wird langsam auch Zeit. Ich habe lange genug zugesehen, wie du dir all Jahre wegen Jason Vorwürfe gemacht hast, um zu wissen, wie wichtig es für dich ist. Aber, um Himmels willen, Sher …“
„Ich weiß. Sei vorsichtig.“
„Mehr als das!“
„Ich bin schließlich auch mit diesem schrägen Exhibitionisten fertig geworden, der mir letztes Jahr nachgestiegen ist.“
Skyes Augenbrauen schössen in die Höhe. „Der Kerl ist in dein Haus eingebrochen, und du hast mit einer Dose Chili auf ihn eingeschlagen, weil du deine Pistole nicht benutzen wolltest. Bist du sicher, dass du diesen Vorfall als Beweis anführen willst, um mein Vertrauen in dich zu stärken?“
„Die Chilidose hat ihn tatsächlich verletzt! Du hättest die blauen Flecken sehen sollen. Außerdem war er eher seltsam als gefährlich. Er hat nicht versucht, mich umzubringen.“
„Vergiss nicht, dass der Kerl hier es sehr ernst meint.“
Blitzartig kamen Sheridan die Augen, die sie so intensiv angestarrt hatten, als sie darum gekämpft hatte, die kräftigen Hände von ihrer Kehle zu lösen, in den Sinn, und es lief ihr eiskalt über den Rücken. „Das werde ich nicht.“
„Benutz diesmal die Waffe!“
„Okay. Aber du musst dich beeilen“, erinnerte Sheridan sie. „Sonst verpasst du noch dein Flugzeug.“
„Stimmt.“ Skye umarmte sie zum Abschied und wandte sich zum Gehen. Sie drehte sich noch einmal um. „Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte hierbleiben. Du kannst einfach nicht abdrücken!“
Ein alter Mann, der gerade vorbeikam, blieb stehen und sah sie beide an.
„Sie redet von Bildern“, erklärte Sheridan. „Ich bin Fotografin.“
Der Mann schüttelte den Kopf und machte einen großen Bogen um die beiden Frauen.
„Du hast Kinder zu Hause, Skye!“, fuhr sie fort. „Sie brauchen dich.“
„Aber ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustoßen würde!“
„Wir gehen jeden Tag solche Risiken ein. Das ist unser Job. Es ist nichts Neues. Und wie du sagtest, Jonathan wird kommen, sobald er kann.“
Eine Durchsage, die die Reisenden aufforderte, ihr Gepäck die ganze Zeit bei sich zu behalten, ertönte über die Lautsprecher. Immer noch unentschlossen wartete Skye ab, bis sie vorbei war und Sheridan ihr einen kleinen Schubs gab. „Geh schon! In ein paar Wochen bin ich wieder zu Hause, wahrscheinlich ehe Jonathan seinen Fall überhaupt abgeschlossen hat.“ Sie wusste, dass das optimistisch war, aber es war alles, was sie sagen konnte, um Skye zu beschwichtigen.
„Ich hoffe wirklich, dass ich es nicht bereuen werde.“ Nach einer letzten Umarmung schob Skye ihren Gebäckwagen in den Terminal und war kurz darauf in der Menge verschwunden.
„Bitte sag mir, dass ich nicht verrückt bin!“, murmelte Sheridan, als sie zu ihrem Wagen zurückging.
Seit Sheridan angegriffen worden war, hatte Cain nicht viel Zeit bei der Arbeit verbracht. Aber er hatte keine Angst, seinen Job zu verlieren. Er hatte mehr Urlaubstage angesammelt, als er je brauchen würde. Und solange er die Campingplätze kontrollierte und seine Berichte schrieb, war alles in Ordnung. Es gab niemanden, der ihm über die Schulter schaute, dafür arbeitete er schon zu lange für die Behörde. Sein Boss wusste, dass er ihm vertrauen konnte und er sich um das Land kümmern würde, als wäre es sein eigenes.
Es fühlte sich gut an, wieder im Wald zu sein. Hier gehörte er her, hier empfand er die größte Klarheit und Freiheit. Wie hatte er sich nur so in diesen aussichtslosen Twist mit seinem Stiefvater, Amy und Ned verstricken können? Er hatte schon früh gelernt, solche emotionalen Verwicklungen zu vermeiden. Aber dieses verdammte Gewehr hatte ihn hineingerissen. Amy hätte ihm beistehen können. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass er Jason nicht erschossen hatte. Stattdessen hatte sie ihn am Haken zappeln lassen, was ihn allerdings nicht wirklich überraschte. Es war ihre Art, ihn zu bestrafen. Aber er fand es einen feinen Zug von Tiger, dass er mit ihrer tatsächlichen Meinung herausgerückt war und sich dafür so ein großes Publikum ausgesucht hatte. Niemand konnte Amys Ansicht noch länger ignorieren, nachdem die halbe Stadt gehört hatte, was Tiger sagte.
Einschließlich Sheridan.
Cain gestattete sich, sie sich kurz in dem schwarzen Kleid und mit den hochgesteckten Haaren vorzustellen. Für so ein Kaff wie Whiterock hatte sie viel zu elegant ausgesehen! Er malte sie sich in vertrauterer Kleidung aus, malte sich aus, wie sie die Augen schloss und die Lippen leicht öffnete, während er mit ihr verschmolz. Selbst jetzt spürte er, dass er hart wurde. Sie hatte ihn schon immer abgelenkt – das einzige Mädchen, das sich außerhalb seiner Reichweite befand. Das einzige Mädchen, von dem er die Finger hätte lassen sollen.
Und doch hatte er sie berührt. Und seit diesem Zeitpunkt sehnte er sich nach ihr.
Koda bellte ein Eichhörnchen an, und Quixote und Maximilian nahmen die Verfolgung auf. Cain machte sich nicht die Mühe, sie zurückzurufen. Sie würden es ohnehin nicht fangen. Es rannte einen Baum hinauf, klammerte sich an einen Zweig und schnatterte, als machte es sich über ihre Bemühungen lustig. Cain blieb stehen, um in seinen Rucksack zu schauen. Bevor er losgegangen war, hatte er seine extrastarke Taschenlampe aus dem Ladegerät genommen – aber hatte er sie eigentlich auch mit eingesteckt?
Er hoffte es. Noch war es nicht dunkel, aber er hatte vor, den Campingplatz für Wanderer ein paar Meilen weiter im Wald zu überprüfen, was bedeutete, dass er vermutlich die Nacht hier draußen verbringen würde. Das tat er gelegentlich, vor allem im Sommer. Nicht weit entfernt gab es einen See, und er hatte sich vorgenommen, dort zu schlafen. Solange Skye in der Stadt war, brauchte er sich um Sheridan schließlich keine Sorgen zu machen. Von seinem Haus aus konnte er ohnehin nichts für sie tun.
Die Taschenlampe fand sich direkt neben der Plastikplane, die er unter seinem Schlafsack ausrollen würde.
Perfekt. Er nahm das Gewehr wieder auf, das er auf dem Boden abgestellt hatte, pfiff nach den Hunden, stieg über einen umgestürzten Baumstamm und wanderte weiter den Berg hinauf.