6. KAPITEL
„Was ist das für ein Theater?“, wollte Marshall wissen.
Cain stützte den Ellenbogen auf das Münztelefon in der Krankenhauslobby und wünschte wieder einmal, er hätte ein Handy. Er hatte sich vergewissert, dass Levi Matherley sich um seine Hunde kümmerte, und beschlossen, bei seinem Großvater anzurufen, solange Sheridans Arzt bei ihr war. Das Verhältnis zu John, seinem Stiefvater, war zwar vom ersten Tag an angespannt gewesen, doch mit Marshall war es das genaue Gegenteil. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden, von dem Moment an, als Cains Mutter ihren zwölfjährigen Sohn in Wyatts Eisenwarenladen mitgenommen hatte, um ihn vorzustellen. „Du hast also von der Aufregung gehört“, sagte Cain jetzt und versuchte, sich die Müdigkeit aus den Augen zu reiben.
„Meinst du etwa, ich bekäme hier nichts mit?“
Marshall lebte in einem Pflegeheim. Seit er unter Alzheimer litt, war das der beste Ort für ihn. Aber es war nicht leicht für Cain, seinen früher selbstständigen Großvater in einer Situation zu sehen, die keinem von beiden gefiel. Die meiste Zeit über war Marshall klar, es ging nur um die gelegentlichen Momente, in denen er die Orientierung verlor und völlig hilflos war.
„Ich glaube, du schaffst es, alles zu bekommen, was du haben willst“, sagte Cain lachend. „Einschließlich einer Reihe Freundinnen, wenn ich an die Karten denke, die ich letztes Mal auf deinem Tisch gesehen habe.“
„Freundinnen!“ Seine Stimme dröhnte durch die Leitung. „Du weißt, dass ich Mildred nie betrügen würde. Ich bin dieser Frau seit mehr als fünfzig Jahren treu.“
Cain versuchte, Marshalls Antwort zu ignorieren. Mildred war gestorben, noch bevor Cain auf die Highschool gekommen war. Diese Tatsache vergaß Marshall öfter als alles andere. Wahrscheinlich weil er sie – mehr als alle anderen – nicht wahrhaben wollte.
„Wie geht’s ihr eigentlich?“, fragte sein Großvater. „Warum kommt sie mich nie besuchen?“
Cain verfluchte die Krankheit, die Marshall langsam seiner Erinnerungen beraubte, und zog eine Grimasse. Gott, warum stößt das ausgerechnet dem Menschen zu, den ich am meisten liebe? Er wusste nie, was er sagen sollte, wenn Marshall den Kontakt zur Realität verlor, aber im Allgemeinen führte er die Unterhaltung lieber weiter, als zu riskieren, so einen stolzen Mann in Verlegenheit zu bringen. „Es geht ihr gut. Ich bin sicher, sie kommt bald vorbei.“
„Ich vermisse sie“, erwiderte der alte Mann. „Das Leben ist ohne sie nicht dasselbe.“
Cain vermisste seine Großmutter ebenfalls. Sie war genauso liebevoll gewesen, und sie hatte ihn genauso sehr unterstützt wie Marshall. Wenn sie doch noch leben würde … Es wäre ein gewaltiger Unterschied, sowohl für Marshall als auch für ihn.
„Aber sie ist tot, nicht wahr?“, sagte Marshall nach einer Weile. „Ich weiß das, ich weiß das“, murmelte er, als brauchte er die Wiederholung, um sich selbst zu überzeugen.
Er war wieder klar. Manchmal rutschte er so schnell aus der Realität heraus und wieder hinein, dass Cain sich beinahe einreden konnte, sein Zustand würde sich nicht weiter verschlechtern. „Ja, sie ist gestorben.“
Sein Großvater räusperte sich, und Cain vermutete, dass er seine Tränen herunterschluckte. „Aber Sheridan Kohl ist nicht gestorben, oder? Ich erinnere mich an ihre Eltern, weißt du. Sie sind andauernd in den Laden gekommen. Ein Neffe von ihnen hat meinen Laden in Nashville geführt, bis ich alles verkauft habe. Sie waren gute Leute. Ein bisschen zu bieder vielleicht. Aber trotzdem, gute Leute. Sie werden erleichtert sein, dass ihr kleines Mädchen wieder gesund wird. Und das liegt allein an dir.“
Bei diesen Worten musste Cain lächeln. Andere mögen an ihm gezweifelt haben, aber Marshall nie. „Sie wissen es noch nicht. Sie machen irgendeine Kreuzfahrt. Und vielleicht ist es noch etwas verfrüht, sich in Sicherheit zu wiegen.“
„Wieso?“
„Letzte Nacht ist hier im Krankenhaus etwas passiert. Ein Mann ist direkt vor ihrem Zimmer aufgetaucht, mit einer Perücke und einem Arztkittel. Als ein richtiger Arzt ihn ansprach, suchte er das Weite.“
„Du meinst, er wollte ihr etwas antun?“
„Ich denke, er ist gekommen, um es zu Ende zu bringen.“
„Und was willst du in der Sache unternehmen?“
Genau das fragte Cain sich seit dem Vorfall letzte Nacht auch. An so einem öffentlichen Ort konnte er sie nicht beschützen, außerdem konnte er nicht ewig im Krankenhaus bei ihr bleiben. „Ich werde sie mit zu mir nach Hause nehmen.“
„Das wird interessant werden“, sagte Marshall.
Cain hatte noch nie eine Frau gesund gepflegt. Aber im Laufe der Jahre hatte er mit vielen kranken und verletzten Tieren zu tun gehabt, und er nahm an, dass der Unterschied nicht allzu groß sein würde. Wenn er sie bei sich hätte, könnte er auf sie aufpassen und sich um sie kümmern, bis sie das wieder selbst tun konnte. „Das wird es bestimmt. Vorausgesetzt, ich kann sie dazu überreden.“
„Meine Lieblingssendung fängt jetzt an“, verkündete Marshall plötzlich.
Cain lachte. Marshall plante seinen Tagesablauf passend zum Fernsehprogramm. „Okay, dann will ich nicht länger stören.“
„Ruf mich später noch mal an.“
„Mach ich.“ Dann legte Cain auf und eilte zurück in Sheridans Zimmer, damit er den Arzt noch erwischte.
Als Sheridan aufwachte, war es heller Tag, und Cain saß neben ihrem Bett. Seine Hände baumelten zwischen den Knien, das Haar stand zu einer Seite ab, als hätte er keine Möglichkeit gehabt, sich zu kämmen. Auch der Bartschatten an seinem Kinn war merklich dunkler geworden.
„Wie lange bist du schon ohne Unterbrechung hier?“, fragte sie.
„Fast zwei Tage.“
„Tut mir leid, ich hätte dich gestern Abend nach Hause schicken sollen.“ Sie fühlte sich immer noch benommen, aber es ging ihr besser. Das Sonnenlicht, das durchs Fenster hereinfiel, vertrieb ihre letzten verbliebenen Zweifel. Das Essen, das neben ihr auf einem zugedeckten Teller auf dem Nachttisch stand, duftete verführerisch. Zum ersten Mal seit dem Überfall verspürte sie Hunger. „Möchtest du etwas von meinem Lunch abhaben?“
„Nein.“
Er wirkte zerstreut. „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie zögernd.
„Ich möchte dich hier rausholen.“
Sie vergaß ihren Lunch. „Wie bitte?“
„Wer immer dir das angetan hat, wird keine Ruhe geben.“
Das kurze Gefühl von Wohlbehagen, das sich bei dem Sonnenschein eingestellt hatte, verschwand. „Was willst du damit sagen?“
„Jemand, der weder Arzt noch Pfleger war, hat letzte Nacht versucht, ins Zimmer zu kommen, als wir beide geschlafen haben.“
„ Versucht?“
„Er sah verdächtig aus, also hat ihn jemand zur Rede gestellt. Daraufhin ist er abgehauen.“
Tiefes Unbehagen überkam sie, und sie bekam Gänsehaut an den Armen. „Du meinst also, dass derjenige, der mir das angetan hat, nicht aufgeben wird?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht besteht gar kein Zusammenhang, aber ich möchte es nicht darauf ankommen lassen.“
Sie merkte, dass er sie nur ungern ängstigen wollte, und spürte, dass er sehr wohl glaubte, dass es einen Zusammenhang gab. „Dieser Killer ist wild entschlossen.“
„Man muss schon ziemlich unverfroren sein, um so etwas an einem öffentlichen Ort zu versuchen.“
„Oder verzweifelt genug. Darum …“
Stimmen an der Tür unterbrachen sie. Ned kam herein, gefolgt von einer Frau, die nicht ganz so sehr einem Schwergewicht ähnelte wie er, aber immer noch weit davon entfernt war, als zierlich gelten zu können. Ohne dass man sie ihr vorstellen musste, wusste Sheridan, dass das Amy war. Sie sah sofort ihre Ähnlichkeit mit Ned, aber sie hätte Amy auch unabhängig von ihrem Bruder wiedererkannt – trotz des zusätzlichen Gewichts, dem praktischen Zopf, der ihr langes rotes Haar bändigte, und der blauen Uniform.
In der Hoffnung, seine Reaktion auf seine Exfrau zu sehen, musterte Sheridan Cain, doch innerhalb eines Wimpernschlags wurde sein Gesichtsausdruck so neutral, dass nichts seine Gedanken verriet.
„Was geht hier vor?“, wollte Ned wissen.
„Wie du weißt, hatten wir letzte Nacht hier Besuch“, sagte Cain.
„Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten? Am Telefon hast du geklungen, als hätte schon wieder jemand versucht, Sheridan umzubringen.“
„Ich denke, genau das ist passiert. Zum Glück war draußen im Flur ein Arzt, dem es merkwürdig vorkam, einen Mann mit Perücke im Krankenhaus zu sehen.“
Amy trat näher an das Bett heran und verschränkte die Arme vor der Brust, die in der Highschool noch nicht da gewesen war, zumindest nicht in ihrer jetzigen Größe. Zum fünften Mal, seit sie hereingekommen war, huschte ihr Blick zu Cain hinüber. Offensichtlich war Amy noch genauso verknallt in ihn wie eh und je, aber als sie schließlich sprach, wirkte sie zumindest recht professionell. „Hat man ihn erwischt?“
„Nein. Ein paar Pfleger haben ihn verfolgt, aber er ist entkommen.“
Fluchend schüttelte Ned den Kopf. „Ich glaub es nicht!“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Amy.
Cain fuhr sich mit der Hand durchs zerzauste Haar. „Ich würde sie gerne mit zu mir nach Hause nehmen.“
Sheridan blieb der Mund offen stehen. Das hatte Cain ihr vermutlich sagen wollen, bevor Ned und Amy hereingekommen waren.
Ned antwortete, ehe sie etwas sagen konnte. „Auf gar keinen Fall!“
Cain stand auf und ging um das Bett herum. „Warum nicht?“
„Weil ich hoffe, dass sie mir helfen kann, den Mord an Jason aufzuklären! Ich kann es nicht gebrauchen, dass du dich bei ihr einschmeichelst.“
„Ich werde alles tun, was ich kann, um Jasons Tod aufzuklären“, mischte Sheridan sich ein. „Aber das hat nichts mit Cain zu tun. Wo ich unterkomme, spielt überhaupt keine Rolle. Bestimmt gibt es noch andere Möglichkeiten.“
„Du willst also zu ihm nach Hause?“, fragte Amy.
„Nein, natürlich nicht! Ich möchte weder ihm noch sonst jemandem Unannehmlichkeiten bereiten.“
„Warum glaubst du, dass sie bei dir sicher wäre?“, fragte Ned.
„Es ist besser als das Krankenhaus“, nickte Cain. „Hier gehen zu viele Menschen ein und aus. Es ist laut und hektisch, und ich kann nicht einschätzen, ob irgendjemand hierhergehört oder nicht.“
„Ich bin sicher, dass derjenige nicht zurückkehren wird“, warf Amy ein.
„Davon dürfen wir nicht ausgehen“, widersprach Cain. „Die Tatsache, dass er hierhergekommen ist, zeigt doch, dass er unverfroren genug ist und nichts unversucht lässt.“
Amys Blick sprang zwischen ihnen hin und her. „Dann werden wir eben einen Wachposten aufstellen.“
„Und wer soll das bezahlen?“, brummte Ned.
Sheridan fühlte sich verpflichtet, anzubieten, die Rechnung zu zahlen, aber von ihren persönlichen Einnahmen konnte sie es sich nicht leisten. Skye, ihre neue Partnerin Ava Brixby und sie selbst zahlten sich nur Gehälter aus, die gerade eben so zum Leben reichten. „Meine Organisation kann vermutlich die Kosten dafür übernehmen. Das ist schließlich unsere Aufgabe, in Fällen wie diesen die Sicherheitslücken zu schließen. In Anbetracht der Situation schätze ich, dass ich in dieses Raster falle. Opfer ist Opfer.“
„Es ist nicht nötig, Geld dafür auszugeben“, sagte Cain. „Wenn ich dich mit zu mir nach Hause nehme, ist es ganz umsonst.“
„Aber ihr Arzt wird niemals mitspielen“, protestierte Ned.
„Ich habe bereits mit ihm gesprochen.“ Cain lehnte sich seitlich an ihr Bett. „Er stimmt mir zu. Er glaubt, dass sie sich in einer privaten Umgebung, die mehr einem Zuhause ähnelt, schneller erholt. Er ist einverstanden, dass Owen regelmäßig nach ihr sieht und ihm dann Bericht erstattet.“
Amy hatte sichtlich damit zu kämpfen, sich ihre Besorgnis angesichts dieses Vorschlags nicht anmerken zu lassen. Anscheinend wollte Cains Exfrau Sheridan nicht in seiner Nähe wissen. „Wenn sie schon transportfähig ist, warum kann sie dann nicht nach Hause nach Kalifornien?“
„Sie darf nicht so weit reisen“, sagte Cain. „Noch nicht.“
„Und ich werde Whiterock nicht verlassen“, erklärte Sheridan ihr. „Nicht bevor der Mann, der mich überfallen hat, hinter Gittern ist.“
„Du wirst also bei Cain bleiben?“, fragte Ned.
Sie zog die Decke ein Stück höher, auf der Suche nach tröstlicher Wärme. Cains Einwand, dass sich dadurch eine unnötige Geldausgabe vermeiden ließe, ließ sich nicht von der Hand weisen. „Es scheint die beste Möglichkeit zu sein, die ich habe.“
Ned warf Cain einen hinterhältigen Blick zu. „Warum bist du eigentlich so interessiert daran, dass sie zu dir kommt?“
„Ich will die Sache aufklären, genau wie sie“, sagte er. „Ich will wissen, wer versucht hat, mich zu verleumden, indem er das Gewehr in meiner Hütte versteckt hat!“
„Es besteht die Möglichkeit, dass ihre Erinnerungen nicht wiederkehren“, wandte Amy ein. „Sie wird für die Ermittlungen nicht sehr nützlich sein, bis sie sich daran erinnert, was passiert ist.“
„Wie bitte?“ Sheridan wollte gerade erklären, dass sie während der letzten fünf Jahre an über fünfhundert Ermittlungen beteiligt gewesen war und dass sie sehr wohl etwas zur Klärung der Vorgänge beitragen könnte, unabhängig davon, an was sie sich erinnerte. Im Umgang mit Gewaltverbrechen hatte sie wahrscheinlich mehr Erfahrung als alle Polizeikräfte von Whiterock zusammen. Aber Cain hatte bereits das Wort ergriffen, und Sheridan wusste, dass Amy sich nicht darum scherte, was sie zu sagen hatte. Sie achtete nur auf Cain.
„Zumindest wäre sie nicht so leicht verwundbar“, sagte er. „Sie wird an einem sicheren Ort sein, an dem sie gesund werden kann.“
„Und wer wird sie vor dir beschützen?“, fragte Amy schnippisch.
Cain verdrehte die Augen. „Ich bin keine Bedrohung für sie, und das weißt du auch.“
Sie funkelte ihn an. „Du bist eine Bedrohung im jede Frau, Cain.“
Er ignorierte die Bemerkung. „Ich lebe ruhig und abgeschieden, und ich habe drei Hunde. Sie werden mich warnen, falls sich jemand nähert.“
Ned wechselte einen Blick mit seiner Schwester. „Mir gefällt das nicht“, sagte er. Aber sein Ton hatte sich verändert, und Sheridan ahnte, dass er nur versuchte, seine Schwester zu unterstützen. Seine beruflichen Einwände hatte Cain geschickt abgewehrt.
„Jemand könnte deine Hunde erschießen. Was machst du dann?“, wollte Amy von Cain wissen.
„Jeder, der meine Hunde erschießt, sollte besser beten, dass ich ihn nicht erwische.“
Ned berührte Sheridan am Arm. „Mit einem Wachmann wärst du sicherer.“
„Dein Arzt ist bereit, dich zu entlassen. Du brauchst Neds Erlaubnis nicht“, sagte Cain.
„Mein Bruder weiß, wovon er spricht.“ Die Verzweiflung in Amys Zügen erweckte beinahe Sheridans Mitleid. Diese Frau wollte Cain so sehr, dass sie nicht einmal ertrug, wenn er ihr, Sheridan, aus Mitleid half.
Doch solange Sheridan nicht zurück nach Sacramento konnte, war Cain alles, was sie hatte. Sie kannte niemanden, der besser für ihre Sicherheit sorgen konnte als er. Er war derjenige, der sie aus dem Wald geholt und ihr das Leben gerettet hatte. Außerdem hatte sie zu viele Kämpfe ausgefochten, seit sie Whiterock verlassen hatte, als dass sie vor diesem davonlaufen könnte.
„Ich habe keine Angst vor Cain“, sagte sie. Doch selbst nachdem ihre Entscheidung gefallen war, fragte sie sich, ob sie sich nicht gerade denselben Liebeskummer aufhalste, unter dem Amy seit der Highschool litt. Sie hatte nie aufgehört, an Cain zu denken – nicht einmal, wenn sie mit dem Mann im Bett gewesen war, den sie fast geheiratet hätte.
War sie womöglich nie über ihre eigene Schwärmerei für ihn hinweggekommen?
Cain stand in der Eingangstür des Hauses, das Sheridans längst verstorbenem Onkel gehört hatte. Die Einrichtung sah noch genau so aus wie an dem Tag, an dem er gestorben war, obwohl es zwischenzeitlich vermietet gewesen war. Die Tür war verschlossen gewesen, aber der Schlüssel hatte unter der Fußmatte gelegen, sodass jeder hätte hereinkommen können. Er sah keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens. Wer immer sich Sheridan geschnappt hatte, hatte sie entweder überfallen, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte, oder er hatte so wie Cain einfach den Schlüssel benutzt. Oder sie hatte ihn selbst hereingelassen.
Als Sheridan im Krankenhaus gelegen hatte, hatten Ned und Amy oder einer der anderen beiden Polizisten von Whiterock dem Haus einen Besuch abgestattet und es eingestaubt, um Fingerabdrücke zu nehmen. Puder in den unterschiedlichsten Farben bedeckte beinahe jede Oberfläche, aber sie hatten nichts Brauchbares gefunden. Das hatte Ned ihm erzählt, als Cain ihn angerufen hatte, um sich nach Sheridans Handtasche zu erkundigen. Sie hatten sie gefunden, doch der Inhalt war über den ganzen Küchenboden verstreut gewesen.
Jetzt, wo die Polizei fertig war, wollte Cain ihre Besitztümer zusammensuchen und zu seinem Haus bringen, wo Owen während seiner Abwesenheit auf sie aufpasste.
Im Schlafzimmer lief ein Radio. Cain nahm an, dass es seit Sheridans Ankunft eingeschaltet war. Vielleicht hatte sie gehofft, das Haus würde dadurch nicht so leer wirken. R’n’B-Musik durchbrach die Stille, doch in Anbetracht der abgestandenen Luft und der bedrückenden Atmosphäre des Hauses wirkte die Musik eher verloren als tröstlich.
Mehrere Fliegen entwischten, als er die Tür öffnete. Bienen schwirrten über dem Kudzu, der inzwischen den gesamten Vorgarten überwucherte, und es roch nach warmer Erde. Von der Küche hingegen ging ein wesentlich unangenehmerer Geruch aus. Dort entdeckte er eine braune Papiertüte auf dem Tresen. Ihr Boden war blutgetränkt.
Nach dem, was er in der Nacht, als er Sheridan gerettet hatte, gesehen hatte, bereitete der Anblick ihm Unbehagen. Sicherlich hatte derjenige, der sie hier herausgeschleppt hatte, keine wie auch immer gearteten widerlichen Geschenke hinterlassen …
Nein, die Polizei hätte es inzwischen gefunden. Anscheinend hatte er zu viele Horrorvideos gesehen.
Eine rasche Untersuchung des Inhalts förderte nichts Schlimmeres als ein Pfund verdorbenes Hackfleisch zu Tage. Der Angreifer hatte Sheridan überrascht, als sie gerade vom Einkaufen zurückgekommen war. Vielleicht war er ihr bis nach Hause gefolgt.
Als er die Blutspritzer am Küchenfenster entdeckte, runzelte er die Stirn. Er wusste sofort, dass das nichts mit dem fauligen Fleisch zu tun hatte. Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Ein Stuhl war umgefallen, und der gesamte Inhalt von Sheridans Tasche war über den Küchenboden verstreut. Der Kühlschrank stand sperrangelweit offen. Der ratternde überarbeitete Motor schaffte es tatsächlich, noch einen kühlen Lufthauch im ansonsten stickigen Raum zu erzeugen, doch die Eiscreme im Gefrierfach war geschmolzen. Unter dem Gerät hatte sich eine Wasserpfütze gebildet. Die Polizei hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Radio auszuschalten und den Kühlschrank zu schließen.
„Herzlose Arschlöcher!“, murmelte Cain. Amy hätte wahrscheinlich absichtlich alles so gelassen. Sie war nicht glücklich damit, dass Sheridan zu Cain zog. Aber das Haus genauso vorzufinden, wie es in der Nacht ausgesehen hatte, als Sheridan angegriffen worden war, gab ihm einen klareren Eindruck davon, was passiert war. Zumindest wusste er jetzt, wo der Ärger seinen Anfang genommen hatte.
Cain faltete eine der Papiertüten auseinander, die Sheridan geleert hatte, bevor sie unterbrochen worden war, und begann die Kosmetika, Stifte und andere Dinge zusammenzusuchen, die sich in ihrer Tasche befunden hatten. Die Puderdose war zerbrochen, der Lippenstift geschmolzen und der Akku ihres Handys leer. Ob ihre Freunde und Familie wohl versucht hatten, sie zu erreichen? Was mochten sie denken, nachdem sie so lange nichts von ihr gehört hatten?
Als er sich wieder aufrichtete und gerade nach ihrem Gepäck und dem Ladegerät fürs Handy suchen wollte, entdeckte er das Portemonnaie, das er schon vermisst hatte. Nachdem er es unter dem Tisch hervorgeholt hatte, stellte er fest, dass es Fotos enthielt – Fotos, die ihn nichts angingen. Eigentlich. Aber er war einfach zu neugierig.
Es gab ein Bild von ihrer jüngeren Schwester im Hochzeitskleid, eines, das ihre Eltern vor einem Weihnachtsbaum zeigte, und ein weiteres, auf dem drei Frauen vor einer Glastür mit der Aufschrift The Last Stand standen. Als er ein Foto entdeckte, auf dem Sheridan in formeller Kleidung neben einem Mann stand, der den Arm um ihre Schulter gelegt hatte, nahm er sich einen Moment Zeit, um ihre Körpersprache zu studieren. War dieser Mann ihr wichtig? Machte er sich Sorgen, weil sie sich nicht meldete? Hatte er mit ihr geschlafen, so wie Cain vor zwölf Jahren?
Er verbannte die letzte Frage sowie die beharrliche Erinnerung, die damit verknüpft war, in den hintersten Winkel seines Bewusstseins und wandte sich dem nächsten Bild zu. Und erstarrte. Es war ein Bild von Jason als Zehntklässler.
Warum trug sie ein Foto mit sich herum, das sie permanent an das erinnerte, was sie durchgemacht hatte?
Die Trauer über den Tod seines Stiefbruders traf Cain so hart wie an dem Tag, an dem es geschehen war. Als sei seitdem keine Zeit verstrichen. Jason war der beste Junge gewesen, den Cain kannte. Er war lebensbejahender und praktischer als Robert und im Umgang mit anderen Menschen geschickter als Owen. Er war der typische amerikanische Gewinner, einer von denen, denen der Erfolg in die Wiege gelegt zu sein schien – wenn er lange genug gelebt hätte.
Cain konnte sich noch gut daran erinnern, wie aufgeregt Jason gewesen war, weil er ein Date mit Sheridan hatte. Auch seine eigene nagende Eifersucht hatte er nicht vergessen.
„Hey, irgendjemand zu Hause?“, ertönte die Stimme eines Mannes.
Cain schob das Foto zurück ins Portemonnaie. „Herein!“
Schritte ertönten im Flur, dann duckte Tiger Chandler sich und betrat die Küche. „Wusste ich’s doch, dass das dein Truck ist. Das war’s dann wohl mit der angenehmen Nachbarschaft.“
Cain erwiderte sein Lächeln. „Die ist schon zum Teufel gewesen, bevor ich gekommen bin.“
„Wem sagst du das!“ Obwohl Tiger nicht gerade der Typ war, der ein Fitnessstudio besuchte, hatte er eine stämmige Statur und war von Natur aus kräftig. Cain hatte ihn einmal in der Kneipe kämpfen sehen und wusste, dass er ziemlich beeindruckend sein konnte. „Bist du der Reinigungsdienst?“
„Mehr oder weniger.“
Tiger rümpfte die Nase, die zu klein für sein Gesicht war. „Riecht so, als hättest du die Arbeit ein wenig schleifen lassen.“
„Bevor du gekommen bist, war mit dem Geruch alles in Ordnung.“ Cain grinste, während er sich den geschmolzenen Lippenstift mit einem Papiertuch von den Händen wischte.
Tiger strich sich über die blondierten Haarspitzen, die er mit Gel zu Stacheln aufgerichtet hatte. „Ich hätte nie gedacht, dass du auf Make-up stehst.“
Cain richtete den umgefallenen Stuhl wieder auf. „Keine Sorge, die Höschen und High Heels überlasse ich dir.“
Tiger lachte, aber sein Blick wurde ernst, als er sich umsah. „Hier ist es also passiert?“
„Sieht ganz so aus.“
„Sie war erst einen Tag und eine Nacht in der Stadt. Was ist das denn für eine Willkommensparty?“
Cain nahm einen Putzlappen aus der Schublade neben der Spüle und begann, den Tisch abzuwischen. „Woher weißt du,
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wie lange sie schon in der Stadt ist? Hast du mit ihr gesprochen?“
„Nein. Amy hat das Datum auf Sheridans Vertrag mit der Mietwagenfirma gesehen.“
„Wer immer es war, er hat schnell gehandelt.“
Tigers Miene wurde grimmig. „Er ist eindeutig mit einer bestimmten Absicht hierhergekommen.“
„Die Frage ist warum? Warum Sheridan? Und warum jetzt?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich meine, wir waren nicht gerade die dicksten Freunde.“ Als ihm bewusst wurde, was er da gerade eingeräumt hatte, schob er eilig nach: „Aber ich hätte sie nie überfallen.“
Cain stellte die Tüte mit ihren Habseligkeiten auf den Tisch, den er gerade sauber gemacht hatte, und wischte die Stühle ab. „Hattest du in den letzten Jahren überhaupt Kontakt zu ihr?“
„Nee. Ich glaube, niemand hatte Kontakt zu ihr. Sie war ziemlich durchgeknallt, als sie weggezogen ist. Die ganze Familie war durchgedreht. Sie haben gepackt und sind verschwunden und haben nie zurückgeblickt.“
Cain warf den Lappen in die Spüle. „Sie ist ohne jeden Grund angeschossen worden, und sie hat meinen Stiefbruder sterben sehen. Das würde jeden traumatisieren.“ Er wappnete sich gegen den stechenden Gestank, nahm eine weitere Tüte, stopfte das verdorbene Fleisch hinein und trug es hinaus zum Müll.
„Und wie ist sie so?“, fragte Tiger, als er wieder hereinkam. „Hat sie sich sehr verändert?“
Sie war noch schöner geworden. Und wahrscheinlich war sie sexuell nicht mehr ganz unerfahren. Aber Cain hatte nicht vor, diese Gedanken laut auszusprechen. Im Besenschrank neben der Tür fand er einen Besen und begann zu fegen. „Ich weiß nicht. Sie ist ziemlich durcheinander, seit das passiert ist.“
„Interessant, dass sie jetzt bei dir wohnt.“
„Warum?“ Cain hielt inne und blickte zu ihm hoch.
„Ich hatte schon immer das Gefühl, dass sie dich mag.“
Nein. Sie hatte versucht, es ihren strengen Eltern heimzuzahlen, indem sie genau das getan hatte, wovor sie solche Angst hatten. Zumindest redete Cain sich das ein. Es war die einzige Erklärung, bei der er sich besser fühlte, weil er sie nach dieser einen Begegnung ignoriert hatte. „Wie kommst du denn darauf?“
„Als sie mit mir Schluss gemacht hat, sagte sie mir, es gäbe einen anderen, aber sie ist nie mit jemandem ausgegangen. Jeder andere Kerl hätte sie sich sofort geschnappt.“
Cain widmete sich wieder dem Besen. „Das war doch nur eine Ausrede, um dich loszuwerden.“
Tiger ging nicht auf den Witz ein. „Vielleicht, aber ihre kleine Schwester hat einmal eine interessante Bemerkung gemacht.“
Cain war nicht sicher, ob er hören wollte, was Leanne gesagt hatte. Das Vertrauen, das Sheridan ihm in jener Nacht vor langer Zeit entgegengebracht hatte, hatte ihn erschreckt. Es wäre ihm lieber, wenn er keinen Beweis dafür hätte, dass tiefere Gefühle dahintergestanden hatten. Dann würde es ihm nur noch schwerer fallen, sich einzureden, dass es für sie nur ein Akt der Rebellion gewesen war. „Kleine Schwestern erzählen viel, wenn der Tag lang ist.“
Tiger zögerte, doch dann schien er es so hinzunehmen. „Stimmt. Ihr beide wart auf der Highschool so verschieden, dass ich mir euch ohnehin nicht zusammen vorstellen konnte.“
Das war Cain genauso gegangen. Und trotzdem …
„Nett von dir, dass du das für sie machst“, sagte Tiger.
Warum tat er das eigentlich? Warum ließ er sich immer tiefer in die Sache hineinziehen? Er hörte die unausgesprochene Frage in Tigers Worten mitschwingen, aber er begriff es selbst nicht ganz. Vielleicht lag es daran, dass das Mädchen, das alles hatte, zum ersten Mal in ihrem Leben jemanden brauchte -ihn brauchte. „Es wäre nicht sehr schön, wenn sie das alles sehen müsste, wenn sie nach Hause kommt – nach allem, was sie durchgemacht hat.“
„Sie kommt also hierher zurück?“
„Ich nehme es an – sobald sie wieder fit genug ist.“
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich bei Gelegenheit mal bei dir vorbeischaue, um sie zu besuchen?“
Cain wollte nicht, dass irgendjemand sie belästigte. Nicht in den nächsten Tagen. Aber er wusste, dass Tiger in ein Nein mehr hineininterpretieren würde als schlichte Sorge um ihr Wohlergehen. „Nein, natürlich nicht.“
„Okay. Ich komme demnächst mal vorbei.“
Nachdem Tiger verschwunden war, fegte, saugte und wischte Cain, bis alles sauber war. Dann packte er ihre Sachen, schleppte den Koffer aus dem Schlafzimmer und schloss ab. Das Ladegerät für ihr Handy hatte er nicht gefunden, und er fragte sich, ob sie es womöglich in Kalifornien vergessen hatte. Er öffnete die Tür zu seinem Truck und entdeckte eine Riesenschachtel Kondome auf dem Sitz.
Obenauf lag ein Zettel. Er war ziemlich sicher, dass Amy ihn geschrieben hatte. Warte wenigstens, bis sie wieder laufen kann …