26 Das Höhlengleichnis
»Schon möglich, dass der Fall allmählich zu kompliziert wird für mich. Aber lassen Sie ihn mich kurz zusammenfassen, für Sie, Carvalho, und die Pflichtverteidigerin. Die unglückliche Frau, Helga, das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte, stolpert unversehens über ihre alte Liebe. Die besten Jahre ihres Lebens. Ihre Jugend. Sie ist ein Opfer des Alkohols und er der Metaphysik. Abstrakte und konkrete Ängste, und jetzt kehrt die Pennerin wieder in das Paradies der Jugend, der Reinheit, des Edelmuts zurück, sie entschließt sich, Rocco zu helfen, vielleicht überlegt sie, noch einmal ein neues Leben zu beginnen. Und dann ist sie tot, grausam und mit eiskalter Berechnung ermordet. Schön und gut. Jeder x-beliebige Penner hätte es gewesen sein können, Cayetano zum Beispiel, der so verbittert war, seit der andere aufgetaucht war.«
Rodríguez schüttelt den Kopf.
»Cayetano hat Rocco geholfen. An dem Nachmittag, als er ihn gesucht hat, war ich bei ihm.«
»Und was hast du da gesehen? Was hast du gehört? Das, was du sehen und hören solltest. Cayetano könnte alles inszeniert haben, um keinen Verdacht zu wecken. Auf jeden Fall ist er ein ernsthafter Kandidat, was die beiden Verbrechen angeht.«
»Und die Besitzerin des La Dolce Vita?«
Lifante wirft Carvalho einen kurzen Blick zu und antwortet, ohne ihm in die Augen zu sehen:
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Überdosis.«
»Die einzige Überdosis, für die Pepita de Calahorra bekannt war, war die an Thunfischbrötchen mit Mayonnaise, Málaga-Wein und alkoholischen Getränken im Allgemeinen, um sich in Stimmung zu bringen.«
Lifante ignoriert Pepita de Calahorras Leiche und Carvalho gleich mit.
»Aber welcher Obdachlose ist in der Lage, sie an einem Ort zu töten und an einem anderen abzulegen? Waren es mehrere? Eine Abrechnung? Cayetano hatte Komplizen, um die Leiche zu transportieren. Wir müssen ihn nur hart genug rannehmen. Das ist alles. Aus der Sache kommt er nicht mehr raus.«
Lifante wird gerufen, Celso Cifuentes deutet nach oben, als würde er auf den zweiten Wohnsitz eines Gottes zeigen. Kaum ist der Inspektor gegangen, konzentrieren sich die feindseligen Blicke der Polizisten auf Carvalho, was ihn gleichgültig lässt.
»Falls Sie auf etwas warten, dann tun Sie das besser draußen.«
Sie zeigen zum Flur, und Carvalho geht und überlässt die kleine Blondine sich selbst und ihrem Wunsch, beim Verhör dabei zu sein. Er zieht eine Zigarre aus der rechten Sakkotasche und zündet sie in aller Ruhe an, betrachtet prüfend die Glut, lässt sich von dem roten Glühen in dem dämmrigen, fast dunklen Flur, auf den die Bürozimmer gehen, hypnotisieren. Lifante ist bereits bei seinen Chefs. Es ist nicht der Chef allein, es sind die Chefs. Offensichtlich verlangt der Fall der obdachlosen Frau erneut nach einer Klausur.
»Ist er Ihnen noch nie gefaltet reingesteckt worden?«
»Wenn Sie darauf hinauswollen, ob man es mir schon mal in den Arsch besorgt hat: Nein, Señor.«
»Es gibt viele Möglichkeiten, es jemandem in den Arsch zu besorgen. Uns hat man ihn gefaltet reingesteckt, Lifante. Im Fall der ermordeten Pennerin und dieses Rocco Cavalcanti kennen wir nur die Schatten, die man uns hat sehen lassen. Wir müssen diese lästige Angelegenheit so schnell wie möglich zu den Akten legen. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Ermordung der Inhaberin des La Dolce Vita irgendwas mit der Sache zu tun hat?«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Ziehen Sie einen Schlussstrich.«
»Ich möchte nicht, dass noch mehr Leichen auftauchen.«
»Das können wir Ihnen garantieren, aber wir brauchen einen über jeden Zweifel erhabenen Mörder, einen von denen, bei dem keiner Fragen stellt. Haben Sie mich verstanden?«
»Ich tue, was ich kann.«
Im Vorzimmer des Polizeichefs erneut ein Dicker, der ihm bekannt vorkommt, als wäre der Dicke hier angestellt, angestellt, weil er dick ist. Lifante geht in sein Büro zurück, sein Eierkopf glüht von den erhaltenen Weisungen. Er sieht aus wie eine kugelförmige Lampe in nordischem Design. Es nervt ihn, dass Carvalho auf ihn wartet, dass er ihm den Weg versperrt.
»Ich bezweifle, dass dieses Sonderkommando existiert. Tatsachen sind Tatsachen. Menschen und Situationen senden Signale aus, und daraus ziehe ich meine Schlussfolgerungen.«
»Sie sehen nur, was Sie sehen sollen, Lifante. Sie und ich, wir sind nur zwei Schritte voneinander entfernt, wir befinden uns in derselben Situation. In derselben Höhle. Erinnern Sie sich an das Höhlengleichnis? Die Herren über die Wahrheit lassen uns nur einen kleinen Teil der Wahrheit sehen. Sie erhalten diese Wahrheitsreste in Form von Signalen, Signalen, die übriggeblieben sind. Ich in Form von Empfindungen, Gesten, Resten von Logik, Logikmüll. Sobald man der Macht zu nah kommt, wird die Sache kompliziert, und das gilt nicht nur für mich. Ich sehe, dass Sie nicht nur absolut nichts wissen, sondern dass Sie nicht mal wissen, dass Sie absolut nichts wissen. Sie haben mir etwas voraus.«
»Was?«
»Dass Sie den Scheiß schlucken können, ohne krank zu werden, weil Sie nur Befehle von oben befolgen. Ich dagegen muss meine Klientin schützen. Vielleicht ist sie das nächste Opfer.«
»Wer ist Ihre Klientin?«
»Dorotea Samuelson.«
»Es wird keine weiteren Opfer geben.«
»Dorotea Samuelson und Dieste, der Schauspieler.«
»Wenn Sie schweigen, die beiden und Sie, wird es keine weiteren Opfer geben. Sie haben Recht, ich weiß längst nicht alles, was ich gerne wissen würde, aber Sie werden nicht überall herumposaunen, was Sie nicht wissen. Haben wir uns verstanden?«
Er kehrt dem Detektiv den Rücken zu, aber bevor er sich wieder zu seiner Truppe gesellt, dreht er sich noch einmal zu Carvalho um, der entschlossen wirkt, seine Zigarre im Flur aufzurauchen. Der Inspektor betrachtet die Zigarre. Er betrachtet ihn.
»Das ist eine Partagás Gran Connaisseur, so etwas raucht man nicht auf der Straße. Auf der Straße riecht man Zigarren nicht.«
»Eines Tages unterhalten wir uns über das Höhlengleichnis. Sie haben mich nicht sonderlich beeindruckt. Ich suche mir die Fälle aus, die mich auf hundert bringen. Dieser hier ist es nicht wert, auf hundert zu kommen. Das Einzige, was ich brauche, ist ein Schuldiger. Alles kann man nie wissen.«
»Ich glaube, ich habe das schon mal einem anderen Polizisten erzählt. Wir sind wie Würmer, die über ein Blatt kriechen und neugierig sind, was sich wohl auf der anderen Seite befindet. Was befindet sich dort? Die Rückseite. Und wir kriechen weiter, um zu sehen, was sich hinter der Rückseite befindet. Und was sehen wir dort?«
»Die Vorderseite. Eine schöne Metapher. Von Ihnen?«
»Nein, von Kazantzakis oder von Alexis Sorbas. Egal.«
Lifante zuckt mit den Schultern und geht in sein Büro. Er tritt ans Fenster und sieht gerade noch, wie der Polizeichef mit schnellen Schritten das Präsidium verlässt, Schritten, mit denen der Dicke, der ihm folgt, kaum mithalten kann. Dem Polizeipräsidenten genügte eine leichte Bewegung mit dem Kopf, um die Wachposten am Eingreifen zu hindern. Er ging zu seinem Wagen. Der Dicke beeilte sich, ihm die Tür aufzuhalten, und bevor er sich zu ihm in den Wagen setzte, versuchte der Dicke ihm die Hand zu geben. Der Polizeipräsident erwiderte den Handschlag.
»Das ist das letzte Mal, dass wir uns sehen, und ich möchte, dass wir uns auf etwas einigen. Ich will nicht wissen, welche Rolle Sie bei alldem gespielt haben, aber ich will auch nicht, dass Sie von nun an irgendeine andere Rolle spielen. Das bleibt eine Straftat unter Obdachlosen, dafür gibt es ausreichend Indizien. Das ist alles. Nichts weiter. Es reicht. Haben Sie mich verstanden?«
»Sie haben das Ehrenwort eines Kadetten der argentinischen Marine.«
Aquiles hatte die Hand auf sein Herz gelegt. Lifante tritt vom Fenster zurück und komplettiert die Szene im Raum. Cayetano steht mit dem Gesicht eines enthaupteten Lamms da, die Pflichtverteidigerin sitzt auf der Stuhlkante, den Rock über die Knie gezogen, die Tasche schützend mit beiden Händen umklammert. Die Polizisten sind dabei, irgendetwas zu betrachten, etwas Eigenes oder Fremdes, die Fingernägel, einen Wandkalender, das Sonnenlicht auf einer Fassade in der Gasse hinter dem Präsidium.
»Ich diktiere dir jetzt ein Geständnis, Cayetano, ein hypothetisches Geständnis. Wenn es dir gefällt, unterschreibst du es, und wenn nicht, kannst du dich auf deine verfassungsmäßigen Rechte berufen und wir fangen noch mal von vorne an oder überlassen die Angelegenheit dem Richter. Zumindest für Palitas Tod bist du verantwortlich, darauf deutet alles hin, und die Logik der Situation lässt vermuten, dass du auch Rocco auf dem Gewissen hast. Ich verstehe, wir alle verstehen, dass du aus Leidenschaft, großer Wut und berechtigter Empörung heraus gehandelt hast. Spiel nicht den Starken, Cayetano, du bist alles andere als stark, nach allem, was geschehen ist, überlebst du keine zwei Tage auf der Straße.«
Die Anwältin sprang auf.
»Worauf wollen Sie hinaus, Señor Lifante? Was sind das für Gefahren, mit denen Sie meinen Mandanten unter Druck setzen wollen? Was wissen Sie?«
»Cayetano weiß besser als Sie und ich, dass es ihm auf der Straße schlecht ergehen wird nach allem, was passiert ist. Erklär es ihr, Cayetano.«
In den Augen des Bettlers blitzt Panik auf, er weint bitterlich und schreit:
»Ich geb alles zu! Ich war’s! Ich war’s!«