17 Muss ich diese Kaktusfeige essen?
Pepita de Calahorras Hals ist zu kurz, um den Kopf zu drehen und die Wirkung, die Aquiles’ Charme auf sie ausübt, im richtigen Maß zum Ausdruck zu bringen. »Was für ein Mann!«, ruft sie, und: »Dieser Mann!«
Halb verborgen hinter seinem viel zu hohen Glas mit Ron Collins teilte Biscuter ihre Freude.
»Vorsicht!«, betonte er. »Ron Collins, nicht Tom Collins.«
Der Dicke zwinkerte ihm zu.
»Du verstehst was vom Trinken, Junge.«
Da fragte Pepita de Calahorra Aquiles:
»Wie konnten Sie bloß so dick werden, ohne zu platzen?«
»Als Kind war ich ein dürrer Hering, bis meine Oma anfing, mich zu füttern.«
»Und das geht bis heute so?«
»Meine Oma lebt noch, jeden Morgen wiegt sie mich, und wehe, wenn ich nicht wenigstens ein halbes Kilo abgenommen habe.«
Pepita de Calahorra bog sich vor Lachen, und auch Biscuter leistete seinen Beitrag zur allgemeinen Heiterkeit, wirklich klasse, der Mann hat Esprit!
Die Calahorra weinte, Aquiles weinte, und auf die Tränen folgte die Wehmut über das, was vom La Dolce Vita übriggeblieben war.
»Wenn ich zurückdenke, wie ich vor vierzig Jahren in diesem Laden gesessen habe, und wie du, Pepita, eine junge Dame, fast noch ein Mädchen, umhergeflattert bist und dabei Volare gesungen hast. Damals war ich jede Nacht der letzte Gast in den Kneipen Barcelonas.«
»Hier, trink, und ich in denen von Andorra«, schaltete sich Biscuter ein, ohne dass es ihm gelungen wäre, die Erinnerungen des weißgekleideten Dicken in andere Bahnen zu lenken.
»Das sind die besten Jahre deines Lebens, die Zeit, in der du noch keine Verantwortung tragen musst, wo du verrückt sein darfst, wie es so schön heißt. Deshalb besuche ich jedes Mal das La Dolce Vita, wenn ich nach Barcelona komme, und dass diese Ruine die Ruine des ehemals berühmtesten Nachtlokals von Barcelona ist, macht mich unendlich traurig. Was für ein Schmerz! Hätten wir magische Augen, könnten wir in den vier schattigen Ecken dieses Lokals die Gesichter der vielen Menschen sehen, die hier einst glücklich waren. Ich kann mich noch gut an ein Mädchen erinnern, eine Landsmännin, eine argentinische Schönheit, die man in Buenos Aires ziemlich protegiert hat, um aus ihr eine Emmanuelle zu machen, die argentinische Emmanuelle. Ich habe sie hier gesehen, auf diesem Sockel da vorne. Vor zehn Jahren? Oder waren es acht?«
»Gut und gerne zehn.«
Pepita ließ Aquiles noch tiefer in Melancholie versinken.
»Zehn Jahre, kaum zu glauben!«
Er hob sein Glas und forderte Biscuter auf, mit ihm anzustoßen. Pepita leistete ihm Beistand. Dann nahm Aquiles eine von Pepitas Händen und küsste sie. Er ließ sie nicht gleich wieder los, sondern sah die Frau mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen an.
»Geben Sie mir meine Hand zurück. Ich weiß, dass Sie alles essen, was Sie in die Finger kriegen, aber meine Hände sind keine botifarrons.«
Aquiles trällerte:
Ich muss diese Kaktusfeige essen
ich muss diese Kaktusfeige essen
ich muss diese Kaktusfeige essen
auch wenn es mich die Hand kostet.
Pepita de Calahorra zog ihre Hand zurück und tat beleidigt.
»Werden Sie nicht unverschämt. Ich weiß genau, was Sie mit ›Kaktusfeige‹ meinen.«
»Ich würde sie mit Stacheln und allem Drum und Dran verschlingen. Carpe diem!«
»Wie gebildet mein Kannibale doch ist.«
»Longa est vita si plena est.«
»Primum vivere, deinde philosophari«, mischte sich Biscuter ein und durchtrennte den Schleimfaden, der sich zwischen dem Dicken und dem früheren Chansonstar gebildet hatte.
»Übrigens, Don Aquiles, ich würde liebend gerne mehr über diese Frau erfahren, an die Sie sich erinnert haben, die argentinische Emmanuelle, obwohl wir sie lieber Helga Muchnik nennen sollten, wie sie in Wirklichkeit hieß, oder Helga Singer, wie ihr Künstlername lautete.«
»Lustig, wie viel Sie über meine Landsmännin wissen, mein lieber Plegamans.«
»Nicht genug, aber wenn wir schon einmal dabei sind, möchte ich Sie bitten, mir alles zu erzählen, was Sie über die besagte Person wissen.«
Aquiles zuckte mit den Achseln. Viel mehr könne er ihm nicht sagen, ob denn in letzter Zeit etwas geschehen sei, was Helga betreffe?
»Möglicherweise«, antwortete Biscuter geheimnisvoll, während er Pepita davor warnte, dem Mann zur Seite zu stehen. Aquiles würde sich schon eine Bresche durch das Dickicht seiner Erinnerungen schlagen.
»Jetzt erinnere ich mich. Emmanuelle oder wie ihr Name lautet, ich habe sie immer nur Emmanuelle genannt, war mit so einem bärtigen Kerl zusammen, einem von diesen argentinischen Professoren mit Bart und langen Haaren. Er hatte seine Mähne zu einem Pferdeschwanz gebunden. Was für ein Schauspiel. Mir ist das scheißegal, wenn Männer einen Zopf tragen, verzeihen Sie den Ausdruck, Señora Pepita. Jedenfalls hieß dieser Professor Roque oder so ähnlich.«
»Rocco«, korrigierte Biscuter und versetzte den Dicken erneut in Staunen. Aquiles bestellte eine weitere Runde Ron Collins bei Pepita de Calahorra, der Eigentümerin, Kellnerin und Putzfrau des La Dolce Vita, doch diesmal kam ihr Biscuter nicht zu Hilfe, und Pepita spielte die Rolle der Ohnmächtigen, die kurz davor war, zu Boden zu sinken. Aquiles zog fünf Zehntausend-Peseten-Scheine aus der Tasche und wedelte damit herum, laut zweifelnd, ob das reichen würde. Die Calahorra riss ihm zwei Scheine aus der Hand und zeigte sich großzügig.
»Der Rest geht aufs Haus.«
Der Dicke weigerte sich, das Angebot anzunehmen, und ließ einen weiteren Schein auf den rissigen Marmortresen fallen, doch noch bevor das Geld gelandet war, schnappte Pepita es im Flug. Aquiles hielt ihnen seine Visitenkarte hin.
»Ich bin neugierig, mehr über das Schicksal von Helga und diesem Kerl mit dem Pferdeschwanz zu erfahren. Falls Sie etwas hören, können Sie mich jederzeit im Hotel Juan Carlos erreichen.«
Er küsste der Gastgeberin ein paarmal die Hand, zog Biscuter an seine Brust und schüttelte ihn überschwänglich, warf einen letzten melancholischen Blick auf das La Dolce Vita, wischte sich die Tränen ab, die ihm in die Augen gestiegen waren, und verließ das Lokal. Auch Pepita de Calahorra war traurig. Sie nahm Biscuters kleinen Kopf zwischen die Hände und presste ihn gegen ihre Brust, doch dann drückte sie ihn plötzlich wieder von sich weg, während sie ihn weiter festhielt und anstarrte, als wäre es Yoriks Schädel.
»Dass ich dich an meine Brust drücke, ist das eine, dass du das sofort ausnutzt, etwas anderes, schließlich bin ich nicht aus Stein. Du hast deine Nase an meinen Brüsten gerieben.«
Biscuter verstand nicht, warum sie sich beklagte, aber da war Pepita bereits aufgestanden und zog ihn hinter sich her zum Zwischengeschoss, das früher einmal das Büro der Geschäftsführung beherbergt hatte und jetzt bloß noch als Katzenasyl diente. Oben angekommen, riss Pepita ihm auf einem von Ratten angenagten Empire-Canapé voller Katzenpisse mit stürmischen Bewegungen die Kleider vom Leib. Dabei trällerte sie fröhlich: »Ich muss diese Kaktusfeige essen, ich muss diese Kaktusfeige essen ...« Carvalhos Partner war zu keiner Reaktion fähig, und fast übergangslos sah er seine Kaktusfeige in Anspruch genommen und sich auf den drei Schinken von Pepita reiten, die zwar keinen Slip mehr, dafür aber noch immer ihren gutbestückten Büstenhalter anhatte, einen von denen mit gekreuzten Trägern, die auf magische Weise in der Lage waren, ihre gewaltigen Hängebrüste zu halten. Der blinde Biscuter – er hatte seine winzigen Augen geschlossen, um die Angst vor so viel Maßlosigkeit zu verlieren – überließ sich den sexuellen Zuckungen der erfahrenen Chansonsängerin, bis er irgendwann völlig ausgepumpt auf ihre Brüste sank, die mittlerweile von dem schrankgroßen BH befreit waren. Er versuchte seine Arme um die befriedigte Frau zu legen, aber sie waren nicht lang genug, um sie vollständig zu umfassen.
»Wie gut deine Kaktusfeige schmeckt, das kleine Kaktusfeigchen, Papitu.«
»Werd nicht ordinär. Ich denke nach, und man denkt nicht mit der Kaktusfeige.«
»Und der Rest, wie war’s? Gekonnt ist gekonnt, was? Du bist nicht gerade ein japanischer Sexathlet, aber für dein Alter und deine Größe war das nicht schlecht.«
»Mein Spitzname war Hurenbock aus der Pampa.«
»Das ist keine große Leistung, so unbewohnt, wie die Pampa ist, aber in meinem Alter schaut man einem geschenkten Fick nicht ins Maul. Worüber denkt mein kleiner Hurenbock aus der Pampa denn nach?«
Die gesamte Morphologie seines Gesichts verriet angestrengtes Denken.
»Ich dachte an den Dicken. Das sind mir ein bisschen zu viele Zufälle. Nach ewiger Zeit taucht er plötzlich wieder in der Bar seiner Jugend auf und beginnt sich zu erinnern. An Helga, sogar an Rocco. Hast du Rocco kennengelernt?«
Pepita behagte das Thema nicht. Verzweifelt versuchte sie, ihre straffe, gnadenlos geliftete Stirn zu runzeln.
»Ach!«, seufzte sie. »Ihr Männer habt aber auch nie ein Gefühl für die Situation. Findest du, das ist der geeignete Moment, um einen auf Sherlock Holmes zu machen?«
Biscuter erzählte ihr von Roccos Besuch in Carvalhos Büro und den schlechten Manieren, die er dabei an den Tag gelegt hatte, bekam jedoch keine Antworten, sondern stellte nur eine wachsende Unruhe bei Pepita fest, die wieder ihre schwerfällige Art angenommen hatte und den Wunsch verspürte, ihr Liebhaber für einen Tag möge wieder dahin verschwinden, woher er gekommen war.
»Merkwürdig, Pepita, aber neulich Abend bin ich vor der Tür auf den Dicken in dem weißen Anzug gestoßen, und kurz darauf bestellst du mich aus wer weiß welchen Gründen ins La Dolce Vita, und da treffe ich schon wieder auf dieses sentimentale Nilpferd. Was soll das, Pepita?«
Pepita de Calahorras Stimme wurde laut.
»Merk dir eins, man steckt seine Nase nicht in Dinge, die einen nichts angehen.«