11 Der Schwager des Mädchens, das Emmanuelle sein sollte

Der Bungalow war so perfekt, dass er Carvalho wie die Materialisierung der platonischen Idee eines Bungalows erschien, vorausgesetzt, unter den platonischen Ideen Platons gab es einen Bungalow. Während sich das Gartentor wie von selbst öffnete, tat dies bei der Tür der platonischen Idee eine Frau, die auch hätte Emmanuelle sein können. Gesichtszüge und Statur erinnerten an Helga Singer oder Muchnik, ihre Schwester, zwanzig Jahre nachdem sie die Fotos von sich hatte machen lassen. In ihrem Gesicht einer großen, sorgfältig platingefärbten Frau fanden sich weder Freude noch Selbstgefälligkeit.

»Vielleicht war das ihr letzter Zufluchtsort vor ihrem Verschwinden. Sie war ein sehr stolzer Mensch, und eine Zeitlang schrieb sie uns Briefe, rief an oder besuchte uns gelegentlich, um uns zu berichten, wie gut es bei ihr lief. Immer mit dem Fotoalbum unterm Arm, und ich tat so, als würde ich ihr alles glauben. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass es ganz und gar nicht gut lief. Nicht mal äußerlich war sie mehr dieselbe. Sie hatte auf eine unnatürliche Weise zugenommen. Ich achte auf mein Äußeres. Meine Familie war immer sehr sportlich, drüben in Argentinien. Mein Vater ist mittlerweile achtzig und immer noch Mitglied im Yachtclub von San Isidro. Helga selbst war eine meisterhafte Sportgymnastin.«

»Sie sagten, Ihre Schwester hätte hier Zuflucht gesucht?«

»Zuflucht?«, entgegnete Gilda sarkastisch. »Das Wort gehörte nicht zu ihrem Wortschatz. Sie tat uns einen Gefallen. Verstehen Sie? Den Gefallen, etwas Zeit mit uns zu verbringen. Fünf unvergessliche Monate, die ich keinem wünsche. Helga war wie ein verletztes Tier.«

Während Helga Singers Schwester redete, saß Dorotea die ganze Zeit neben Carvalho, doch im Gegensatz zu ihm, der dem Monolog der blonden Frau aufmerksam folgte, hatte sie das Gefühl, abwesend und irgendwie fehl am Platz zu sein. Sie stand auf und trat ans Fenster. Die Schönheit der Landschaft mit der Vegetation eines englischen Cottages und der große, teichähnliche Swimmingpool, über dem die schönsten Weiden, die sie je gesehen hatte, ihre Äste hängen ließen, rührten sie zutiefst. Sie hatte Tränen in den Augen, vielleicht von den Worten, die aus Gilda Muchniks rosa geschminktem Mund zu ihr herüberdrangen.

»Mein Mann stellte mir ein Ultimatum, entweder sie oder ich. Sie war hysterisch, und alles, was unser Leben ausmachte, kam ihr kleinbürgerlich und schäbig vor, ohne jegliche Größe. Im Gegensatz dazu kam sie aus der Welt der Kunst. Nur die Kunst bewahrt uns vor dem Tod, pflegte sie zu sagen, um dann hinzuzufügen: ›Und das ist kein Paradox.‹ «

Dorotea lächelte wissend, und wenn sie nicht so traurig gewesen wäre, hätte sie laut aufgelacht.

»Eines Tages, als sie wie so oft betrunken war, kam sie wieder auf die Zeit zu sprechen, als sie die argentinische Emmanuelle sein wollte, und ihr fiel nichts Besseres ein, als den Kindern die Fotos von der Werbekampagne unter die Nase zu halten, die mit dem berühmten Akt. Ich konnte sie nicht davon abhalten. Mein Mann warf sie raus, und ich half ihr, die wenigen Sachen zu packen, die ihr geblieben waren. Ich war am Boden zerstört.«

Vor Gildas Augen ziehen die Bilder der Szene vorüber, als sie gezwungen war, ihrer weinenden, aber standhaften Schwester den Rücken zuzukehren, einer Schwester, die wild auf ihre Habseligkeiten einschlug, während sie sie in ihre letzte verbliebene Tasche steckte.

»Ich habe zu ihr gesagt: Helga, mach dir keine Sorgen. Egal was passiert, du hast immer eine Schwester, die dir aus der Patsche hilft. Die dich liebt. Helga, versteh doch, mein Mann und meine Kinder bedeuten mir alles, das ist meine Welt … Du bist glücklich in der deinen. ›Wer sagt, dass ich in meiner Welt glücklich bin?‹, hat sie geantwortet, bevor sie mir zweimal den Stinkefinger zeigte. ›Der ist für dich, du Spießerin, und der für deinen Mann, diesen bigotten Wichser.‹ «

Dorotea sah die Situation vor sich, bis sie ein Reflex auf der Fensterscheibe in die Wirklichkeit zurückholte. Auf dem Glas spiegelte sich das Gesicht von Helgas Schwester. Dorotea drehte sich zur Seite und betrachtete das Profil der Frau, die geistesabwesend in den Garten starrte. Er war so alltäglich für sie, dass sie ihn gar nicht mehr wahrzunehmen schien. Carvalho hielt sich zurück, er saß einfach nur da und beobachtete sie. Gilda verströmte einen Duft nach Must de Cartier und hatte ein wunderschönes Profil. Wie hatte es diese dumme Gans bloß geschafft, keine einzige Falte zu bekommen? Weder Dorotea noch Gilda, die weiterhin unerbittlich alte Erinnerungen heraufbeschwor, hatten eine Antwort darauf.

»Sie war todtraurig, als sie uns verließ, aber auch liebevoll. So war Helga. Ihre Laune wechselte ständig. Sie hat nie wieder angerufen, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Wie gesagt, sie war sehr stolz. Ich habe sie immer beneidet, ihre Unabhängigkeit bewundert, während ich mein bequemes, geregeltes Leben immer mehr verabscheute. Aber als ich sie sah und begriff, was die Freiheit mit ihr angerichtet hatte …« Sie drehte sich um und blickte Dorotea und Carvalho an. »Denn Freiheit ist eine Sache, Zügellosigkeit eine andere, habe ich Recht?«

Ohne aufzuschauen, fragte Carvalho plötzlich:

»Wer war der Vater des Kindes, das sie erwartet hat?«

In Gildas Profil, ganz nah bei Dorotea, bewegten sich nur die Lippen:

»Was sagen Sie da?«

»War Ihre Schwester nicht schwanger, als sie von hier wegging?«

»Das ist eine bodenlose Frechheit.«

Carvalho stieß einen tiefen Seufzer aus und blickte die beiden, vom selben Fenster eingerahmten Frauen an, die darauf warteten, was er als Nächstes sagen oder ob er nur einen weiteren Seufzer folgen lassen würde. Was war hier los? Woher kamen auf einmal die vielen sich ergänzenden Mosaiksteinchen im Leben einer Immigrantin, von der er nicht einmal wusste, warum sie Argentinien verlassen hatte und warum ihre Schwester, ihr Schwager, ihr Beschützer Rocco und Dieste, ihr nicht an sie glaubender Entdecker, dasselbe getan hatten.

»Warum musste Ihre Schwester Argentinien verlassen?«

»Sie musste Argentinien nicht verlassen. Sie wollte hier Karriere machen. Es war die Zeit der großen Krise, die auf die Niederlage im Falkland-Krieg gefolgt war, die Zeit der Auslandsschulden.«

»Und Sie? Warum sind Sie hierhergekommen?«

»Weil ich hierher gekommen bin, ihr Mann.«

Die Stimme war in einer Ecke des Wohnzimmers erklungen, wohin sich jetzt alle umdrehten, Gilda erschrocken, Dorotea überrascht und Carvalho vorsichtig. Vor ihnen stand der Prototyp des geborenen Siegers, Guinnessrekordhalter als zahlungsfähigster Mann der Welt, der aussah, als würde er jeden Morgen in Gold und den Katechismen der wichtigsten Religionen aufgewogen. Gilda wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber schon durchbohrte sie der eisige Blick ihres Mannes. Die hochgezogenen Brauen des Hausherrn verlangten nach einer Erklärung von den ungebetenen Gästen, nicht von seiner Frau, die sich in eine unanständige Haushälterin verwandelt hatte, die schon früh genug ihre gerechte Strafe erhalten würde.

»Sind Sie wegen einer offiziellen Angelegenheit hier? Suchen Sie jemanden?«

Carvalho antwortete nicht. Stattdessen wandte er sich an Gilda:

»Ich wollte es Ihnen auf andere Art mitteilen, aber Ihre Schwester ist tot. Die Polizei wird bald hier sein. Sie weiß noch nicht, dass die ermordete Obdachlose mit so illustren Leuten verwandt war.«

Das menschliche Designerstück hielt sich die Hand vor die Augen, um seinen Kummer zu verbergen, mit der anderen forderte er seine Frau auf, näher zu kommen, damit er sie in die Arme schließen konnte. Doch Gilda rührte sich nicht. Sie starrte Dorotea an und wartete auf eine Bestätigung der Nachricht, und als diese nickte, wich sie langsam zurück. Ihr Mann trat auf sie zu, die Arme bereits geöffnet, aber als er versuchte, sie wie ein Krake an sich zu reißen, hielt Gilda ihn mit ausgestreckten Händen davon ab. Es war wie ein Schutzwall, gegen den der solvente Mann mit aller Wucht prallte, bis er zurücktaumelte. Gilda stürzte davon, fand aber noch die Zeit, ihren Ehemann einen Schuft zu nennen. Der fuchtelte wild mit den Armen herum, eine Geste, die bedeuten sollte, dass er die Anwesenden um etwas mehr Verständnis, Zurückhaltung und Respekt in einem derart heiklen Moment bat. Nachdem er seine Botschaft auf diese Weise übermittelt hatte, wiederholte er sie noch einmal mit Worten:

»Ich bitte Sie um etwas mehr Verständnis, Zurückhaltung und Respekt in einem derart heiklen Moment. Bitte kommen Sie in mein Büro, hier ist meine Visitenkarte, dort können wir uns in Ruhe über diesen erschütternden Umstand unterhalten.«

Carvalho ging auf ihn zu, um einen winzigen Teil der großen Distanz zu überwinden, die sie voneinander trennte:

»Ich hoffe, Sie sind ein wenig netter zu uns, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Mein aufrichtiges Beileid.«

Zurück auf der Straße, fasste Dorotea das Geschehen zusammen:

»Erinnern Sie sich, was Helgas Schwester gesagt hat? Alles, was unser Leben ausmacht, kam ihr kleinbürgerlich und schäbig vor. Dieste hat sich getäuscht. Das Mädchen hatte Charakter. Man braucht viel Charakter, um einer aalglatten Führungskraft wie ihrem Schwager die Stirn zu bieten.«

»Sie lebte ihren eigenen Film, aber es gelang ihr nie, ihre Rolle zu spielen.«

»Manche Schriftsteller leben in einer literarischen Welt. Die reinsten Nervensägen. Sie sagen, Helga lebte ihren eigenen Film. Vielleicht war es wirklich nicht einfach, mit ihr zusammenzuleben.«

Carvalho blieb stehen und zwang Dorotea, ihren Wunsch zu fliehen im Zaum zu halten.

»Eine Frage bleibt. Welche Rolle spielt Rocco bei dem Ganzen?«