21 Dorotea Samuelson und die Anthropologie des Terrors

Jemand musste über das Eisengitter geklettert sein und beim Runterspringen einen schweren Tonkrugsarg mit einem Ficus umgeschmissen haben, der seit dem ersten Golfkrieg oder vielleicht schon seit dem Einmarsch der Sandinisten in Managua tot war. Danach hatte er keine Kraft oder Lust mehr gehabt, die Leiche wieder aufzurichten. Es wurde bereits dunkel, und Carvalho zog seine Pistole aus dem Halfter. Entweder war der Eindringling längst über alle Berge, oder er versteckte sich noch irgendwo im Garten. Plötzlich hörte er die verängstigte Stimme der Anthropologin.

»Carvalho?«

»Ja.«

»Keine Sorge. Ich bin’s bloß, Dorotea Samuelson.«

Er steckte die Pistole weg, ging in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und dort hockte sie. Sie war nicht allein: Neben ihr kauerte Dieste und versuchte sich noch kleiner zu machen als die Frau.

»Wir dachten, hier wären wir am sichersten. Entschuldigen Sie den Hausfriedensbruch. Rocco wurde ermordet.«

Der Anthropologin versagte die Stimme, doch Carvalho sprach ihr nicht das Beileid aus, das sie vielleicht erwartet hatte. Stattdessen forderte der Detektiv sie auf, ihn ins Haus zu begleiten, das er als Erstes Raum für Raum inspizierte. Anschließend schloss er Fenster und Türen, schaltete das Licht an und öffnete eine Flasche Springbank.

»Der beste Whisky, den ich je besessen habe. Nicht der beste, den ich je getrunken habe, aber der beste, den ich je besessen habe. Er gehörte einem reichen Mann, der einen Literaturpreis verleihen wollte, und ich habe die Flasche aus seinem Privatflugzeug mitgenommen. Trinken Sie ihn ohne Eis. Einen mehr als zwanzig Jahre alten Springbank mit Eis zu trinken wäre dasselbe wie einen Bordeaux mit Kohlensäure.«

Kaum hatte Dieste die ersten Schlucke Springbank intus, begann sein Adamsapfel wie wild auf und ab zu hüpfen. Dorotea kam langsam wieder zu Atem, und nachdem sie sich ebenfalls ausgiebig dem Alkohol gewidmet hatte, brach sie in einen wahren Sturzbach von Tränen aus. »Man hat ihn mir genommen. Man hat ihn mir genommen.« »Er hat dir nicht mehr gehört«, versuchte Dieste sie zu trösten. Carvalho ließ sie weinen, viel mehr bedrückte ihn die Tatsache, dass die Flasche leer wäre, noch ehe die Nacht hereingebrochen war. Als die Tragödie kurz vor dem Höhepunkt war und sich Dieste und Dorotea heulend in den Armen lagen, ergriff Carvalho die Initiative.

»Sie haben den ganzen Whisky ausgetrunken, jetzt ist es an der Zeit, dass Sie mir etwas zurückgeben. Ich will alles wissen, was ich nicht weiß, aber Sie wissen. Welches Geheimnis hatten Helga und Rocco? Und warum haben sie es so schlecht gehütet, dass sie sterben mussten?«

Wenn Carvalho geglaubt hatte, Dorotea würde als Erste das Wort ergreifen, hatte er sich getäuscht. Es war Dieste, der in ein nur für ihn wahrnehmbares Rampenlicht trat, die Hände in die Hosentaschen steckte, die Schultern hochzog, sämtliche Innenräume seines Körpers mit Luft füllte, die Luft wieder ausströmen ließ und dann zuerst nach Westen, dann nach Osten blickte. Der Westen von Carvalhos Wohn- und Speisezimmer schien ihm besser zu gefallen, denn dorthin richtete er endgültig seinen Blick und begann zu erzählen.

»Im Grunde weiß Dorotea nur vom Hörensagen, was ich erlebt habe, ich und Emmanuelle und aus einer gewissen Distanz auch Rocco. Sie wissen ja, wir haben alles getan, um einen Star aus Helga zu machen. Wir sind jeden Abend ausgegangen, haben die Nächte durchgemacht, uns überall gezeigt, sind da hingegangen, wo wir die anderen sahen, vor allem aber, wo wir gesehen wurden, und das alles nur, um unser Ziel zu erreichen. Buenos Aires führt drei, vier Leben gleichzeitig, dieselbe Stadt, in der die Keller voller Leichen und Gefolterter waren, hat den Sieg der Fußballweltmeisterschaft gefeiert und das Nachtleben genossen, wie es nur in Buenos Aires möglich ist. Und dann hat ein gewisser Olavarría, Helgas zukünftiger Schwager, ihr einen Soloauftritt in einem Theater besorgt. Helgas Schwester hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie eines Tages das Pech haben sollte, diesen Olavarría zu heiraten. Helga hatte keine Lust mehr, Emmanuelle zu sein, sie hatte keine Lust mehr, einfach nur schön zu sein. Sie wäre gern eine Art Kabarettstar geworden, so wie Cecilia Rossetto, die heute zu den besten ihrer Zunft gehört und regelmäßig in Spanien, in Barcelona, auftritt. Helga bat mich, mit ihr zu proben und sie zur Premiere zu begleiten, weil es ein sehr schwieriges Stück war, lustig, aber auch sehr bissig. Ein Freund hatte es für sie geschrieben – Rocco Cavalcanti, auch Quino genannt. Seltsam, nicht? Der Auftritt fand in einer Villa am Tigre statt, in einem wunderschönen englischen Herrenhaus an einem der vielen Flussarme, ein Haus, das man nur mit dem Boot erreichen konnte und das Oberst Osorio gehörte, einem Typ aus dem militärischen Establishment, halb Militär, halb Geschäftsmann, aus guter Familie. Das Haus platzte aus allen Nähten, der Alkohol floss in Strömen, und natürlich fehlte auch das nicht, was die Italiener palpo e mano morta nennen, also Fummeln.

Es herrschte so viel Trubel, dass Helga sich bei ihrem Auftritt die Lunge aus dem Hals schreien musste. Sie gab ihr Bestes – und kein Arsch interessierte sich für sie. Wir haben uns dann unter die Gäste gemischt und mitgefeiert. Sie wimmelte die aufdringlichen Kerle ab, trank aber immer mehr von dem Punsch, einem Punsch, den man mit dem Streichholz hätte anzünden können. Später ging sie sich das Haus anschauen, verließ die Party, getrieben vom Alkohol. Bis sie auf einen Keller stieß, der sich unterhalb des Flusspegels befand und in den das Wasser sickerte. Er war mit einer schweren Eisentür versperrt, und außer einer kleinen Luke mit zwei Eisenstangen davor gab es keine Luftlöcher. Helga glaubte, zwei menschliche Bündel zu erkennen. Es roch nach Chloroform, so stark, dass sie fast ohnmächtig wurde, als sie die Nase durch das Gitter steckte. ›Ist dort jemand?‹, rief sie ein paarmal, als sich plötzlich eins der Bündel bewegte und jemand mit schwächlicher Stimme leise um Hilfe flehte. Helga rannte los, um mich zu suchen. Auf dem Weg in den Keller musste sie mich stützen, so betrunken war ich. Ich sollte bestätigen, was sie gesehen hatte. Eins der Bündel war nach wie vor reglos, aber das andere kroch auf uns zu, und wir erkannten das blasse, verängstigte Gesicht einer jungen Frau. ›Helfen Sie mir‹, sagte sie mit leiser Stimme. ›Ich bin Spanierin. Ich bin Spanierin. Man hat mich verschleppt.‹ Wir sollten besser gehen, sagte ich zu Helga, die Sache stinke nach Militär, und mit diesen Leuten wolle ich nichts zu tun haben. Und dann bin ich einfach gegangen. Ich gebe es zu. Ich hatte all meinen Mut verloren, für immer. Ich verließ das Fest, die Villa, Buenos Aires. Helga blieb und redete mit der armen Frau, sie erfuhr ihren Namen, Noemí Álvarez, aus Asturien. ›Rufen Sie den spanischen Botschafter an!‹, flehte die Frau. Helga war viel zu betrunken, sonst wäre sie vernünftiger gewesen. Aber so fiel ihr nichts Besseres ein, als den Hausherrn, diesen Typ, der die Party gab, zu suchen und ihn nach der halbtoten Frau in seinem Keller zu fragen. Osorio, Olavarría und seine Freunde lenkten sie irgendwie ab und hielten sie bei Laune, dann gingen sie zusammen in den Keller. Die beiden Bündel waren verschwunden, doch das Erlebnis hatte sich ihr für immer eingeprägt. Als Helga am nächsten Tag versuchte, zur spanischen Botschaft zu gehen, haben ihr zwei Autos den Weg versperrt. Sie ist zu Roccos Haus gerannt, hat ihm alles erzählt. Sie mussten handeln. Das war der Beginn ihrer Flucht, eine Flucht, die mit einem Doppelmord in Barcelona endete.«

Carvalho führte sich vor Augen, was er gerade gehört hatte, und in seinem Gehirn tauchten die Gesichter von Personen auf, die nicht recht in die Geschichte passten. Gilda. Gilda Muchnik. Ihre Ehe ausgerechnet mit Olavarría, die Beständigkeit der Verbindung Osorio & Olavarría, fast zwanzig Jahre später. Dorotea ahnte, welche Gedanken dem Detektiv durch den Kopf schossen, und versuchte, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

»Am Ende sorgte Olavarría mithilfe des Terrors für ihr Schweigen und für Roccos und Helgas Flucht aus Buenos Aires. Um sicherzugehen, nahm er Gilda als Geisel, indem er sie heiratete. Ein schmutziges Spiel, bei dem er sogar damit drohte, ihre Schwester zu verfolgen. Als das Militär stürzte, zogen sie nach Spanien, wo seine Erpressung weiterging, obwohl das kaum noch nötig war, schließlich war Helga am Ende und keine Gefahr mehr für ihn. Es wäre nichts geschehen, die Leichen wären vergessen worden, wenn die Straftaten, die von der argentinischen Militärjunta an spanischen Bürgern begangen worden waren, nicht plötzlich juristisch verfolgt worden wären. Rocco hat es nicht mehr ausgehalten, für ihn war der Moment gekommen, sich zu erinnern und auszusagen, was sie damals im Keller der Villa am Tigre passiert war. Er flog nach Barcelona und versuchte Helga zu bewegen, ebenfalls als Zeugin aufzutreten. Er machte seine Aussage vor dem Richter, der den Fall von Spanien aus führte, und Olavarría und Osorio fingen an zu zittern. Zwei terrorisierte Terroristen. Der terrorisierte Terror. Garantiert haben sie die argentinische Mafia um Hilfe gerufen. Die sind gut organisiert, heute für dich, morgen für mich. Viele der Militärs, die für das Foltern und Verschwindenlassen verantwortlich waren, haben später private Sicherheitsfirmen gegründet, und ich habe hier mitten auf der Straße, am selben Tag, als wir uns getroffen haben, einen finsteren Kerl gesehen, einen brutalen Schlächter, den man den Folterer von Rosario nannte und der dank seiner Verdienste befördert wurde, um den gleichen Posten in Buenos Aires zu bekleiden. Inzwischen wissen wir, zu was sie fähig sind, und weil wir das wissen, ist unser Leben in Gefahr. Und auch das Ihre, Carvalho. Und das Ihres Partners ebenfalls.«

Carvalho griff zum Telefon, um Biscuter in seinem Büro auf den Ramblas anzurufen, aber die Leitung war tot. Er zögerte nicht lange, forderte Dorotea und Dieste auf, in seinen Wagen zu steigen, und fuhr sie zwei Straßen weiter zu Fuster. Es war nicht das erste Mal, dass er Fusters Haus als Versteck benutzte. Der Anwalt, Geschäftsführer und Hobbylateiner legte die Ausgabe von L’Amant de la Chine du Nord von Marguerite Duras beiseite, um die Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, während er besorgt bemerkte: »Was habe ich bloß verbrochen, um ein Mensch ohne Probleme zu sein?«

Aber Carvalho war längst dabei, den Wagen anzuflehen, ihn so schnell wie möglich nach Barcelona zu bringen, auf einer Straße voll schleichender Lastwagen und rasender Vorahnungen.