9 La Dolce Vita

Die Alte war so restauriert, dass ihre Haut jeden Moment abzuplatzen drohte. Auch der nicht mehr zu verbergende Haarausfall wirkte sich nicht gerade positiv auf ihr Erscheinungsbild aus. Alles im La Dolce Vita war alt und roch nach abgestandener Katzenpisse, vielleicht weil es im Lokal von alten Katzen wimmelte. Sie zeigte auf die Tiere.

»Das sind meine letzten Gäste. Der Laden hat schon bessere Zeiten gesehen. Das weißt du ja selbst am besten, Pep, das weißt du ja selbst am besten. Na klar erinnere ich mich an Helga, Helga Singer, wie sie genannt werden wollte, ihr Künstlername. War ganz schön eingebildet, als sie hier ankam. Als hätte sie mit Mirtha Legrand gearbeitet, als hätte Alberto Closas gesagt, die junge Dame wäre das größte Talent des argentinischen Theaters. Von wegen jung, Dame oder Closas. Hier arbeitet man, um was zwischen die Zähne zu bekommen, Mädchen, habe ich zu ihr gesagt, das ist hier nicht die Royal Opera, Maca. Sie hatte eine schöne Fotokollektion bei sich, das schon, aber sie tanzte nicht, sie sang nicht, an den Beinen sah man schon die Cellulite, und ihre Titten konnte sie nicht vorzeigen, weil die auch schon ihre besten Zeiten hinter sich hatten. Was sie machte? Sie sprach Tangos, denn Tangos werden gesprochen, nicht gesungen, wie sie behauptete. Sie rezitierte Tangos, und das machte sie gut, sie erinnerte mich ein wenig an die Singerman-Schwestern, auch wenn sie versicherte, ihr Vorbild sei Nacha Guevara. Aber sie war nicht so theatralisch wie Berta Singerman. Ich bin bei Tourneen der Singerman im Vorprogramm aufgetreten, als Helga nach Spanien kam. Ich soll dir erzählen, wie sie war? Ich zeig dir das Video einer Werbekampagne, die wir hier Ende der Achtziger gedreht haben und die überhaupt nichts gebracht hat, reiet? Das Lokal wird nächste Woche abgerissen oder umgebaut, damit hier eine Universität einzieht, was weiß ich. Pompeu Fabra, glaube ich, Universität Pompeu Fabra. Keine Ahnung, wer dieser anmaßende Typ war. Wenn man schon Pompeu heißt!«

Nach dem Auftritt eines Bauchredners und einer als Bäuerin gekleideten und beim Singen von Valencia, Land der Blumen ertappten Valencianerin tauchten aus der Vergangenheit die Bilder einer stark gealterten, schlechtgekleideten und durch Nachlässigkeit fett gewordenen Helga auf, die auf der Bühne steht und rezitiert:

»Sehr geehrtes Publikum, von der großen chilenischen Dichterin Gabriela Mistral das Gedicht ›Scham‹:

Wenn du mich anblickst, werd ich schön,

schön wie das Riedgras unterm Tau.

Wenn ich zum Fluss hinuntersteige,

erkennt das hohe Schilf mein seliges Angesicht

nicht mehr.

Ich schäme mich des tristen Munds,

der Stimme, der zerrissnen, meiner rauen Knie.

Jetzt, da du mich, herbeigeeilt, betrachtest,

fand ich mich arm, fühlt ich mich bloß.

Am Wege tratst du keinen Stein,

der nackter wäre in der Morgenröte

als ich, die Frau, auf die du deinen Blick geworfen,

da du sie singen hörtest.«

Biscuter gefielen die Kommentare aus dem Off von Pepita de Calahorra – der großen Erneuerin der Jota –, während Helga auf dem Bildschirm die Rezitatorin gab. Aber er konnte sich einfach nicht mit dieser vom Lauf der Zeit besiegten Emmanuelle abfinden und überblendete das Bild ihrer Niederlage mit dem eines Mädchens, das in einem philippinischen Korbsessel saß und drauf und dran war, die argentinische Emmanuelle zu werden. Er hörte, wie sie in dem Video weiter ihren Text aufsagte ... »Ich werde schweigen. Keiner soll mein Glück / erschauen, der durch das Flachland schreitet / den Glanz auf meiner plumpen Stirn nicht einer sehen / das Zittern nicht von meiner Hand ...«

Spärlicher Applaus setzte ein, und auf Zuruf hin begrüßte sie die Zuschauer.

»Und nun, mein hochverehrtes Publikum, singe – oder besser gesagt – spreche ich Ingenuidad für Sie, denn Tangos singt man nicht, man spricht sie. Maestro, das ist für Sie!«

Dem alten Pianisten schien die Huldigung der Frau, die in seinen Augen wahrscheinlich nicht mehr als eine dicke Coupletsängerin war, völlig gleichgültig zu sein.

»Du sagtest, du wärst noch ein Mädchen / doch du warst das Mädchen einer Madame / die eine Nutte aus dir machte, ohne dich zu fragen / ob es aus Vergnügen oder Langeweile war.«

Weil er sich immer trauriger fühlte, bat Biscuter die kahlköpfige Alte, den Videorekorder auszuschalten. Sie tat ihm den Gefallen, nur um sich im selben Moment von seiner Melancholie anstecken zu lassen. Biscuter und die Alte weinten bereits gute fünf Minuten, als sie endlich beschlossen, sich gegenseitig zu erklären, warum sie eigentlich weinten.

»Ich weine, weil das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte, so ein trauriges Leben hatte.«

»Und ich, weil das alles hier schon lange eine Ruine ist. Nächste Woche kommen die Spitzhacken und setzen allem ein Ende, dann wird das La Dolce Vita nur noch Geschichte sein. So wie alle, die hier arbeiten. Aber was heißt das schon, Geschichte? Ungefähr so viel wie Scheißdreck. Geschichte sein heißt toter als tot zu sein.«

»Die Calle de las Tapias ist bereits verschwunden.«

»Und mit ihr verliert die Stadt ein weiteres Stück Identität«, meinte die Alte und fuhr fort: »In der letzten Zeit kommen hier viele Intellektuelle vorbei, und ich höre ihnen gerne zu. Sie wohnen fast alle in besseren Gegenden, zeigen sich aber sehr solidarisch mit unserem Viertel; sie sagen, es sei ein Teil ihres historischen oder sentimentalen Gedächtnisses. Ich muss immer an die armen Mädchen denken, die sich in diesen Straßen mit ihrer Muschi den Lebensunterhalt verdient haben. Wo sind die alle gelandet, diese Muschis? Irgendwo, Señor. Denn solche Frauen finden keinen Platz in den vornehmen Bordellen der feinen Leute. Und die Freudenmädchen aus dem La Dolce Vita, was ist mit denen? Die können sich nicht mal arbeitslos melden oder in Rente gehen, denn welche Animierdame hat schon in die Krankenkasse eingezahlt? Und die, die sich noch immer durch das La Dolce Vita schleppen, müssen ihre Hernien mit Stahlbeton im Zaum halten.«

»Ist Helga Singer auf den Strich gegangen?«

»Sie war Animierdame.«

»Hat sie dir gegenüber mal ein Kind erwähnt?«

»Das war seltsam. Wenn sie nüchtern war, hat sie erzählt, dass sie ein Kind gehabt hätte, das aber tot zur Welt gekommen sei. Wenn sie betrunken war, hat sie losgekläfft wie eine trauernde Hündin und das Kind zurückverlangt, das man ihr angeblich genommen hatte.«

Sie schloss Biscuter in die Arme, er könne sie jederzeit besuchen, wenn ihm nach Weinen zumute wäre. Er brauche sich keine Sorgen zu machen, selbst wenn das La Dolce Vita abgerissen werden sollte, würde sie jeden Abend ihres Lebens an diesen Ort zurückkehren, hierhin, wo sie jetzt stehe, was immer hier eines Tages hinkomme, was immer hier eines Tages errichtet würde.

»Ich hatte nie einen Herrn, Pep, genau wie die Katzen, aber das hier war mein Haus, ich hatte ein Haus.«

Biscuter machte sich auf den Weg und stieß um ein Haar mit einem dicken Mann zusammen, der gerade einen prüfenden Blick auf die Fassade des Nachtlokals warf, als überlegte er, es zu kaufen.

»Entschuldigen Sie, Señor. Das ist doch das La Dolce Vita, oder?«

Noch ein Argentinier! Biscuter trat einen Schritt zurück, um den Dicken in seiner ganzen Fülle in Augenschein zu nehmen, dann deutete er auf das Schild.

»Das habe ich natürlich gelesen, ich frage nur, weil ich hier keinen einzigen Menschen sehe, weil in der Gegend überhaupt nichts los ist. Das chinesische Viertel sieht ja fast so aus wie Dresden – entweder wird es gerade bombardiert, oder man trägt es ab, um es woanders wieder aufzubauen ... Ich kann mich noch gut an die vierziger Jahre erinnern, als ich hier mit Manolo Caracol und Lola Flores einen draufgemacht habe! Ich war zum Studieren in Spanien und blutjung, aber nachts haben wir so richtig die Sau rausgelassen. Ich war ein berühmter Frauenheld, mit dem Gemüt eines Luden. Lude heißt so viel wie Zuhälter, Herr ...?«

»Plegamans, Josep Plegamans Betriu.«

Mit seiner winzigen Hand konnte Biscuter kaum die Fingerspitzen des Mannes umfassen, die so dick waren wie die Havannas, die Carvalho gelegentlich rauchte.

»Aquiles Canetti, Diplomat.«