23 Ich hatte fast vergessen, wie Frauen sind
Seine Wunden taten ihm weh, und er rief Gilda Muchnik an.
»Ich bin verprügelt worden. Ich lade Sie zum Essen ein. Haben Sie heute Abend Ausgang?«
Ein Taxi würde eine Stunde brauchen, um die Frau nach Vallvidrera zu fahren. Sie hatte nichts versprochen. Sie hatte einfach aufgelegt, ohne ihm zu antworten. Gilda Muchnik konnte zwischen endlos vielen Möglichkeiten wählen, dachte Carvalho, die absehbarsten waren: dem Anruf keine weitere Beachtung schenken, schwanken, dem Anruf Beachtung schenken und, wenn die Entscheidung gefallen ist, ihm Beachtung zu schenken, ein Alibi schmieden, falls sie eines brauchte, oder sich körperlich und seelisch darauf vorbereiten, zu einer Blindverkostung zu gehen, einer Verkostung aus Mitleid oder weil sich Gegensätze nun mal anziehen. Die Frau, die seine heruntergekommene Villa betritt und alles betrachtet, als wäre nichts dort, wo es sein sollte, wirkt eher wie eine Versicherungsvertreterin, die nach einer Katastrophe den Schaden begutachtet. Sie wirft ihm denselben Blick zu wie zuvor der Einrichtung.
»Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt.«
»Mein Körper ist ein einziger Bluterguss.«
»Soll ich Sie verarzten?«
»Wir müssen uns entscheiden, ob Sie mich verarzten oder ob wir uns um das Essen kümmern. Können Sie kochen?«
»Nein!«, rief Gilda entrüstet.
»Wollen wir uns duzen?«
Sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte schöne, hohe Schultern, schmal, aber wohlgeformt, die Schultern einer Frau, die aus dem einzigen Grund Sport treibt, weil sie einen schönen Körper haben will. Carvalho ging in die Küche und hantierte mit den Zutaten für den Schmorbraten herum. Er nahm eine Nadel, fädelte einen dünnen Bindfaden ein und nähte die Ränder der vier Fleischstücke zusammen. Die Mitte, wo jeweils ein kleines Häufchen Füllung zu erkennen war, ließ er offen.
»So was hast du vermutlich noch nie gegessen, es ist schwer, den Namen aus dem Katalanischen zu übersetzen. Galtes, galtes de porc. Schweinebacken, gefüllt mit Leberpastete, Hackfleisch, Trüffeln, köstlich. Dein Name ist jüdisch, oder? Isst du überhaupt Schwein? Es wird dir schmecken.«
Weil sie nicht antwortet, vollendet Carvalho sein Werk, brät die galtes kurz in Öl an, gibt Weißwein dazu, verschiedene Gewürze, ein Glas Brühe. Das Ganze lässt er bei kleiner Flamme köcheln und geht in das Wohnzimmer zurück. Gilda ist verschwunden. Er entfacht den Kamin, wozu er den Roman Die Wahrheit über den Fall Savolta eines gewissen Eduardo Mendoza nimmt, eines Schriftstellers mit dem Namen eines Mittelstürmers. Er hatte ihn einmal im Fernsehen über die Privilegien des Alters reden hören. Der Schreiberling war kaum älter als fünfzig und besaß die Frechheit, über die Privilegien des Alters zu reden. Melancholisch sah Carvalho in die Flammen, in denen die Romanfiguren grillten, Lepprince, María Coral, Pajarito de Soto, Cabra Gómez, Kommissar Vázquez, Miranda, Cortabanyes. Wir sind nichts, Mendoza, ab fünfzig werden wir alles sein, das heißt, nichts. Privilegien des Alters. Zwei Frauenhände legten sich auf seine Schultern, Carvalho hielt sie fest und drehte sich um.
»Ich hatte fast vergessen, wie Frauen sind.«
Unter Carvalhos Bademantel roch Gilda nach nackter Frau. Carvalho folgte ihr, aber als sie es sich schon im Bett bequem machte, rannte er noch einmal in die Küche, um den Herd abzustellen. Bei seiner Rückkehr schaute die Hälfte des Körpers von Señora Olavarría, mit Mädchennamen Muchnik, aus dem Durcheinander aus Decken, Laken und Tagesdecke hervor. Carvalho streckte sich neben ihr aus, und sie strich ihm mit der Hand durch das Haar. Sie streichelte die vom Desinfektionsmittel eingefärbten Wunden, küsste und leckte sie. Carvalho spürte sämtliche Erhebungen ihres Körpers und antwortete mit den seinen, die Finger im Dialog, standhaft das nach Monaten der Lethargie zu neuem Leben erwachte Geschlecht. Sie geriet schnell in Ekstase, war bereits beim Öffnen der Beine in Ekstase geraten. Der Orgasmus war etwas anderes. Langsam. Langanhaltend. Carvalho sah sich gezwungen, die Gymnastik fortzusetzen, als befände sich sein bestes Stück noch immer im bestmöglichen Zustand. Ihr reichte der Wille, den Orgasmus vorzutäuschen. Gilda gehörte zu den Frauen, die einen Orgasmus haben, wann immer sie wollen, und vor allem, weil sie es wollen. Der Partner ist nur imaginär, und Gilda scheint der imaginäre Carvalho zu gefallen. Als sie wieder bei Atem und Syntax ist, küsst sie ihm noch einmal voller Leidenschaft die Wunden.
»Diese Wilden! Es ist nicht zu glauben. Von der Barbarei zur Schönheit der Liebe, zur Schönheit des Liebemachens. Ich bin ja so glücklich, dass wir es getan haben ... Ich fühle mich, als hätte ich in einer einzigen Nacht mehr als zwanzig Jahre widerlicher Achtbarkeit über Bord geworfen. Wie bist du auf die Idee gekommen, mich anzurufen? Hast du gehofft, dein Zustand würde meinen Beschützerinstinkt wecken? Und, bist du zufrieden?«
Carvalho betrachtet sie, offensichtlich zufrieden mit sich selbst.
»Was würde dein Mann sagen, wenn ...?«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und begann an ihnen herumzuspielen.
»Zum Glück hat er wenig Phantasie, so wie alle Ehemänner.«
»Dein Mann ist nicht allein, und du weißt sehr gut, was geschehen ist und was gerade geschieht. Wovor Helga geflohen ist, dass du Olavarría geheiratet hast, um deine Schwester zu schützen. Aber das alles nützt jetzt nichts mehr.«
»Höchstens um dieses Schwein zu erledigen. Ihn fertigzumachen. Mich von ihm zu befreien.«
»Vielleicht. Vielleicht, wenn du aussagst und das zu einer Anzeige führt, bei der es um die Verschwörung rund um den Mord an Rocco und Helga geht.«
»Ich soll aussagen?«
»Sie haben deine Schwester getötet. Du kennst als Einzige die Hintergründe.«
»Weißt du, um was du mich da bittest? Diese Leute gehen nie unter. Die sind wie Korken. Die gehen nicht unter. Die wissen, wo sie gebraucht werden. Meine Schwester wird auch nicht wieder lebendig, wenn ich mich mit diesen Typen anlege. Und meine Kinder? Was sollen sie von mir denken, wenn ich ihren Vater ins Verderben stürze?«
Kein Zweifel, sie sah Helga ähnlich, nur dass sie weniger schutzlos war. Man ahnte, dass sich hinter Helgas halbnackter Arroganz auf den Fotos viel Mitgefühl verbarg, für alles und jeden. Sie war zum Opfer geboren und begnügte sich damit, das, so gut sie konnte, zu verbergen. Sie hatte ihr Ende herausgefordert, indem sie versuchte, zwei Verschwundene zu retten, die sie nicht einmal kannte, und wurde ermordet, als sie Rocco helfen wollte, vor Richter Garzón auszusagen. Carvalhos Augen und Hände wanderten über Gildas schönen, gutgepflegten Körper. Sie ließ es zu, auch wenn ihr dabei ein Lachen entschlüpfte.
»Du wirkst wie ein Blinder. Du tastest mich ab, wie ein Blinder die erste nackte Frau seines Lebens abtastet.«
»Hat dich schon mal ein Blinder abgetastet?«
»Nein, aber ich weiß, dass du mich abtastest wie ein Blinder.«
»Warst du blind, als du zugestimmt hast, Bobby zu heiraten, den Mann, der deine Schwester bedrohte?«
»Heute bin ich klüger, aber damals konnte ich nicht einfach sagen: Er bedroht sie, er erpresst sie. Er schlich ständig um uns herum, tänzelte oder schlich, wie ein Tänzer und eine Schlange zugleich. Helga konnte ihn nicht leiden, das sah man, aber ich dachte immer, meine Schwester wäre einfach zu hochnäsig und ich würde diesen gebildeten, höflichen Herrn besser verstehen als sie. Dann ging Helga weg. Nach Spanien. Sie ließ mich allein mit dem Tänzer, mit der Schlange. In Spanien sah ich die Dinge klarer. Und dann noch die Vergewaltigung, das Kind.«
»Aber du hast dich nicht von ihm getrennt.«
»Ich hatte Angst. Es ist nicht so einfach, einer Schlange zu entkommen.«
Mit der ganzen Tiefe ihrer Haut im Dienst ihres dünnen, sich harmonisch bewegenden Körpers ist sie aus dem Bett gesprungen. Während sie sich anzieht, bemerkt sie:
»Also gut, wenn du ihn fertigmachst, wenn du es schaffst, ihn fertigzumachen, dann mach Brei aus ihm, und ich bin glücklich. Hältst du mich jetzt für eine Spinnenfrau? Eine perverse, egoistische Spinnenfrau? Eine Schwarze Witwe?«
»Ich glaube, in dem Fall wäre mein Auftritt nicht sehr lang. Statt jemanden fertigzumachen, sollte ich besser jemanden retten.«
»Mich?«
»Nein. Du rettest dich selbst. Du besiegst deine Ängste mit Massagen. Es gibt noch andere, die sich in Reichweite der Firma Osorio & Olavarría befinden.«
»Ich gefalle dir nicht mehr. Du bist befriedigt. Du willst, dass ich gehe.«
Er will, dass sie geht, aber ohne sie vor den Kopf zu stoßen.
»Wir haben noch das ganze Leben vor uns.«
Gilda betrachtet erneut die Gegenstände um sie herum, darunter den inzwischen benutzten Carvalho.
»Falls ich noch mal wiederkomme, räume ich als Erstes hier auf. Ich ertrage keine Unordnung. Was starrst du mich so an? Siehst du mich zum ersten Mal?«
Carvalho beschränkt sich darauf, sie anzuschauen, als wollte er es Lifante gleichtun und ihr Zeichensystem entschlüsseln. Er ist in mehrfacher Hinsicht aufrichtig, als er sagt:
»Ich hatte fast vergessen, wie Frauen sind.«