10 Du sagtest, du wärst noch ein Mädchen
Im Mondschatten eines Ombús auf der Plaza Prim zählte Cayetano die Schätze, die er in seinem kleinen Bollerwagen mit den Gummireifen verstauen würde. Aus dem bereits geschlossenen Restaurant Els Pescadors drang ein schwacher Duft von sofritos, Fisch und Meeresfrüchten an seine Nase. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so etwas wie einen Kaiserhummer verspeist hatte. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich um und sperrte seinen zahnlosen Mund auf:
»Die Bullen! Ich habe nichts getan. Ich schlage mich durch, um zu überleben, aber ich habe doch nichts getan.«
»Es heißt, du hättest eine Geliebte, Cayetano«, entgegnete Lifante.
»Eine Geliebte, ich? Mit dieser Fresse?«
»Die Palita.«
»Ich hatte nichts mit der Palita am Hut.«
Lifante gab einem der ihn begleitenden Polizisten ein Zeichen, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie niemand auf dem Platz beobachtete, verpasste der Magister in Bettlerkunde Cayetanos Wagen einen solchen Tritt, dass er mitsamt dem Inhalt umkippte.
»Warum tun Sie das? Wollen Sie mich ruinieren? Das ist alles, was ich habe.«
»Der nächste Tritt ist für dich.«
Auf dem Kommissariat forderten sie ihn auf, sich auszuziehen, und da stand er, nackt und schmutzig, die Haut voller Flecken, und hielt sich die Hände schützend vor die Hoden.
»Was ist mit deinen Eiern, Cayetano?«
»Ein alter Ratschlag, den ich mal bekommen habe.«
»Und wie lautet der?«
»Im Gefängnis musst du deinen Arsch, auf dem Polizeirevier deine Eier schützen.«
Sie steckten ihn unter eine Dusche, die nach dem Schmutz der vielen Körper stank, die zuvor unter ihr hindurch gemusst hatten.
»Es ist wahr«, sagte Cayetano, als sie ihn wegen eines Schwindelanfalls, den der Geruch von Seife und Desinfektionsmitteln bei ihm ausgelöst hatte, auf einen Stuhl setzten. »Ich hatte was mit der Palita zu tun. Ich habe was anderes gesagt, weil man mir geraten hat, niemals etwas zuzugeben bei der Polizei. Ich habe sie kennengelernt, als sie bei Festen Gedichte aufsagte und Tangos sang. Zum Schluss hatte die Palita kaum noch eine Stimme von all dem Saufen, mich hat das nicht weiter gestört, obwohl wir ein Team waren, jawohl, ein Team. Jeden Sonntag haben wir vor den Kathedralen im Duett gesungen. Barcelona, Tortosa, Gerona, Vic. Am Ende habe ich auf nüchternen Magen Tangos gesungen, ich war gekleidet, wie Touristen sich einen Tangosänger vorstellen, und sie hat dazu in einem roten Kleid posiert, mit einem Schlitz im Rock, der ihr bis zur Leiste reichte. Sie lauschte meinen Tangos und sah mich böse an. Dann verpasste sie mir eine Ohrfeige und sang selbst. Den Touristen gefiel die Szene. Der singende Hahnrei und das Flittchen, das ihm zuhört, ohne ihm zu gehorchen.«
»Sing.«
»Wie bitte, Herr Inspektor?«
»Du sollst singen.«
Cayetano holt tief Luft und stößt sie mit den ersten Silben eines Liedes wieder aus:
Du sagtest, du wärst noch ein Mädchen
doch du warst das Mädchen einer Madame,
die eine Nutte aus dir machte, ohne dich zu fragen,
ob es aus Vergnügen oder Langeweile war.
Die Polizisten flehten Lifante an, dem grauenvollen Gesang ein Ende zu setzen.
»Du stinkst aus dem Maul wie ein Toter.«
Cayetano fühlte sich viel zu sauber, fast nackt. Er zitterte am ganzen Körper, vergaß jedoch nicht, seine Weichteile zu schützen.
»Sie hat ziemlich vulgär geredet, und sie war sehr undankbar. Ich habe ihr immer den Großteil unserer Einnahmen überlassen, was nicht viel war, und sie hat alles für Grappa ausgegeben. Ein Getränk ihres Landes, hat sie immer gesagt. Sie trank Grappa wie andere Wasser. Die Kathedralenbesucher waren nicht besonders großzügig, wir hatten kaum genug zum Essen, und trotzdem wurde sie täglich fetter. Der ganze Scheiß hat sie dick gemacht, und sie wurde jeden Tag schmutziger. Wir lebten auf der Straße, schlugen uns irgendwie durch. Sie verdiente sich ein paar Kröten dazu, indem sie sich von anderen Bettlern angrapschen ließ.«
»Und du hast dir schön brav die Hörner aufsetzen lassen«, bemerkte einer der Polizisten.
»Was ging mich das an? Ich mochte sie einfach, und sie tat mir leid. Sie wollte immer hoch hinaus und hat geprahlt, dass sie ein Kinostar hätte sein können, eine internationale Filmschauspielerin. Sie hat mir ein Foto gezeigt, auf dem sie jung war und mit nacktem Busen in einem Korbstuhl saß, wirklich schön.«
»Wo ist dieses Foto?«
»Nehmen Sie mir das bitte nicht weg. Es ist bei meinen Sachen, ich habe es zusammen mit etwas Geld unter meinen Wagen geklebt, damit es nicht geklaut wird.«
Eine Hand hielt ihm das Foto vor die Augen.
»Ist es das?«, fragte Lifante.
Cayetano nickte. Der Inspektor schien das Interesse an ihm zu verlieren, doch von einem Moment auf den anderen würde er ihn sich wieder vorknöpfen, mit Fingern, die wussten, wie man Schmerzen zufügt, ihn am Bart packen und seinen Kopf so oft hin und her schütteln, bis sein Hirn nur noch Brei wäre.
»Warum hast du Helga oder Palita, wie du sie nanntest, so gehasst? Warum hast du sie Palita genannt?«
»Sie wollte das so. Sie hat alles von einem Sänger aus ihrer Heimat gesungen, der Palito hieß, Palito Ortega, und da ließ sie sich die Palita nennen. Sie konnte ziemlich witzig sein. Ich habe sie nicht gehasst, im Gegenteil ...«
Inzwischen war ein junger Polizeibeamter mit Neuigkeiten hereingekommen, und niemand achtete mehr auf Cayetano. Alle umringten Lifante und stießen überraschte Rufe aus. Cayetano glaubte, den Namen Rocco zu verstehen, und spitzte Ohren, Augen und Nase, ohne dass er gewusst hätte, was er mit den Händen vor seinen mittlerweile sicheren Hoden anstellen sollte. Lifante war aus dem Kreis seiner Untergebenen getreten und drehte schweigend seine Runden im Zimmer. Plötzlich klatschte der Inspektor in die Hände.
»Kommen Sie, Abmarsch! Leichen soll man nicht kalt werden lassen.«
Ohne Cayetano eines Blickes zu würdigen, verließen sie den Raum. Der Obdachlose blieb in der Erwartung zurück, jemand würde kommen und ihm sagen, wie es in den nächsten Stunden weitergehen würde. Er hatte keine Uhr, aber es dämmerte bereits, als er beschloss, sich allmählich Sorgen zu machen und auf Zehenspitzen zu der Tür zu gehen, die den Raum, wo man ihn allein zurückgelassen hatte, vom Rest des Gebäudes trennte. Behutsam drückte er sie auf und war erschrocken, so viele Polizisten auf einmal zu sehen, so viele Verhöre, so viel geschäftiges, von monotonem Schreibmaschinengeklapper untermaltes Treiben. Er trat einen Schritt zurück und hatte bereits wieder den Ausgangspunkt seiner kurzen Exkursion erreicht, als sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breitmachte und er noch einmal denselben Weg zurücklegte, um das Hauptbüro zu betreten und, noch immer lächelnd, den Absatz der Treppe zu erreichen, die zum Ausgang führte. Niemand hielt ihn zurück, obschon die Unentschlossenheit des Ausbrechers geradezu danach zu betteln schien, nach einem lautem Halt!, das allem, was er gerade erlebt hatte, allem, was ein diskriminierter Mensch gewöhnlich auf einer Polizeiwache erlebte, einen Sinn verliehe. Nichts. Niemand hielt ihn auf, und Stufe um Stufe, die er hinabstieg, unterbrochen nur von der aggressiven Präsenz des Wachpostens, der die Vorhalle mit langen, gleichmäßigen Schritten durchquerte, wurde Cayetano immer zuversichtlicher, zugleich aber auch ängstlicher. Jeder sieht, dass du ein Penner bist, Cayetano. In dieser Aufmachung betritt man ein Polizeirevier, aber man verlässt es nicht, das kann nicht gutgehen. Die Wache blickte auf, musterte ihn mit einem flüchtigen Blick, der ihn möglicherweise gar nicht richtig wahrnahm, und setzte ihr monotones Hin und Her fort. Cayetano spielte mit dem Gedanken, eine höfliche Bemerkung fallenzulassen, ein Guten Tag oder ein Guten Abend. Doch es war längst nicht mehr Tag, und der Abend hatte noch nicht begonnen. Was sollte er also sagen? Jetzt war die Wache stehengeblieben und sah ihn verwundert an.
»Sind Sie immer noch hier? Bereitet Ihnen die Treppe vielleicht Probleme?«
»Nein. Nein, ich habe nur ...«
Der Polizist forderte ihn mit einer Kopfbewegung zum Weitergehen auf, und Cayetano erreichte das rettende Ufer der Straße. Im selben Moment begriff er, dass er barfuß war und dass es ihn einen kompletten Monat gekostet hatte, an derart hochwertige Schuhe wie die zu kommen, die er im Polizeirevier vergessen hatte. Ohne Schuhe die Vía Layetana zum Hafen hinunterzulaufen war ziemlich unbequem, aber er tat es trotzdem, ließ mehrere Straßen hinter sich und wünschte sich dabei so sehr, niemand würde sehen, dass er barfuß war, dass er sich tatsächlich wie der einzige Mensch auf dieser Prachtstraße fühlte, abgesehen von den Menschen in den Autos. Doch bei all den Autos hatte er keine Augen für das von Lifante, das ihm folgte wie bei einem Trauermarsch.
»Nur nicht schneller werden, sonst sieht uns der Pechvogel noch. Pechvogel und Schwachkopf. Da lassen wir ihn allein und alle Türen offen, und der Kerl braucht geschlagene zwei Stunden, bis er endlich abhaut. Es gibt Menschen, die werden als Sklave geboren. Ich bin mir sicher, der führt uns zu einem guten Hafen.«
»Er geht ja auch zum Hafen, Inspektor.«
»Das war eine Metapher, Cifuentes. Er sucht Rocco, da gehe ich jede Wette ein. Ich habe den Namen fallen lassen, um zu sehen, was für ein Gesicht der Penner macht. Er hat überhaupt keins gemacht, aber so große Ohren wie ein Elefant.«
»Er weiß nicht, dass Rocco tot ist.«
»Aber er weiß, dass ihm etwas zugestoßen ist.«