Zwillingsschwestern nerven
»Also, hast du's gekriegt?«
Ich wirbele herum, und beim Klang der Stimme hinter mir fährt mir das Herz in die Kehle. Ich war so beschäftigt mit meinen gequälten Gedanken und meinen Tränen, dass ich Rayne nicht habe näher kommen hören.
»Sunny?«, fragt sie besorgt. »Ist alles okay bei dir?«
Ich nicke, außerstande zu sprechen, ohne an dem Schluchzen zu ersticken, dass mir in der Kehle sitzt.
»Du hast den Gral nicht bekommen, ja?«, schlussfolgert Rayne. »Oh, Sunny, es tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr du darauf gehofft hattest.« Sie tritt mit weit ausgebreiteten Armen vor mich hin. »Aber wirklich, das Leben als Vampir wird gar nicht so schlimm sein, wie du denkst. Und ich werde dir auf jedem Schritt des Weges helfen.«
Ich schüttele den Kopf. »Du . . . verstehst nicht«, bringe ich schließlich heraus. »Ich habe das Blut aus dem Gral.«
Rayne lässt die Arme sinken und sieht mich fragend an.
»Du hast es?«, wiederholt sie. »Du hast es wirklich?«
Ich ziehe die Phiole aus meiner Tasche und halte sie ihr hin.
»Ich habe es wirklich.«
»Das ist toll! Ich freue mich so für dich! Du musst überglücklich sein.« Sie betrachtet mein Gesicht. »Du siehst aber nicht überglücklich aus. Du siehst aus ... Ich weiß es nicht, als hättest du deinen besten Freund verloren oder so etwas.»
Ich zucke die Achseln. »Mir geht es gut.«
»Und du weinst.«
»Tu ich nicht.»
»Sunny, du bist ein Vampir. Du weinst Blutstränen. Nicht gerade subtil.»
Ich streiche mir mit der Hand übers Gesicht und sehe sie mir dann an. Und tatsächlich, es sind rote Flecken drauf.
Iih.
»Okay, ich weine also. Freudentränen wahrscheinlich.«
» Ja klar. Für wie naiv hältst du mich eigentlich? Du bist meine Schwester, erinnerst du dich? Hellseherische
Verbindung und all das. Also los, spuck's aus. Was ist passiert?«
»Du wirst mich für total blöd halten.«
»Das hat dich noch nie daran gehindert, mir irgendwas zu erzählen«, bemerkt Rayne. Ich funkele sie an. »Tut mir leid.
Also los, stell mich auf die Probe. Ich verspreche, dass ich dich nicht für blöd halten werde.«
»Nun ...« Ich blicke wieder aus dem Fenster zu der leeren Einfahrt hinüber, auf der noch vor wenigen Sekunden Magnus' Wagen gestanden hat. »Versteh mich nicht falsch.
Ich möchte mich wirklich wieder in einen Menschen verwandeln ...«
»Aber?«, hakt Rayne nach.
»Aber ...«, beginne ich und breche dann schon wieder in Tränen aus.
»Aber du hast dich in Magnus verliebt«, erklärt Rayne düster.
Ich starre sie an. »Woher weißt du . . .?«
Man könnte es wohl Intuition nennen. Oder diese hellseherische Zwillingsgeschichte, die ich gerade erwähnt habe. Oder vielleicht liegt es auch nur daran, dass du so verdammt durchschaubar bist. Tatsächlich denke ich, dass sogar ein trainierter Affe deinen Liebeskummer bemerken würde. Vielleicht sogar ein untrainierter.«
»Oh, Rayne, es ist schrecklich«, rufe ich, vollauf bereit, alles rauszulassen. »Ich liebe ihn. Das tu ich wirklich. Er ist süß und nett und ritterlich und sexy und witzig und ich lieb ihn einfach zu Tode.« Ich schlucke mein Schluchzen herunter. »Ähm, das sollte nicht komisch sein.«
»Geht klar.« Rayne nickt. »Und alles ist zutreffend. Also wo liegt das Problem?«
»Dass er ein Vampir ist, du Dummkopf. Und nach morgen Nacht werde ich ein Mensch sein.« Ich reibe mir mit den Fäusten die Augen und wünschte, ich hätte ein paar Papiertaschentücher zur Hand.
»Sunny, versteh mich nicht falsch oder so, aber...« Rayne hält einen Moment lang inne, als wolle sie ihre Worte sehr sorgfältig wählen. »Hast du je daran gedacht ... die Verwandlung nicht zu vollziehen? Ein Vampir zu bleiben, damit du mit Magnus zusammen sein kannst?«
»Nein. Auf keinen Fall. Ich will kein Vampir sein.«
Selbst wenn das bedeutet, dass du die Ewigkeit mit dem Mann verbringen könntest, den du liebst?, fragt eine Stimme in meinem Kopf. Ich schüttele sie ab.
»Bist du dir sicher?«, dringt Rayne in mich. Leider kann ich sie im Gegensatz zu der Stimme in meinem Kopf nicht genauso leicht zum Schweigen bringen.
»Ja. Ich bin mir sicher. Sehr sicher.«
Ich bin mir überhaupt nicht sicher.
»Weißt du, das Dasein als Vampir hat eine Menge Vorteile«, spult Rayne weiter ihre Sprüche ab, ohne sich von meinen halbherzigen Beteuerungen abschrecken zu lassen. Einen Moment lang frage ich, warum ihr das Thema so wichtig ist. Ich meine, seit wann interessiert es sie, ob ich untot oder lebendig bin? Normalerweise interessiert sich Rayne für nichts anderes als für sich selbst. Und ich weiß, dass sie Magnus als Blutsgefährten will, welchen Nutzen hätte sie also davon, wenn wir zusammenblieben? Komisch.
»Unvorstellbare Reichtümer ...«, labert sie weiter.
Vielleicht rechnet sie sich aus, dass sie, wenn ich ein Vampir bleibe, quasi einen Fuß in der Vampirwelt haben wird. Vor allem, wo doch mein Blutsgefährte der neue König ist und alles. Vielleicht rechnet sie sich aus, dass sie selbst so schneller wieder einen Blutsgefährten zugeteilt bekommt. An der Warteliste vorbei. Ja. Das muss es sein.
Es gibt keinen anderen Grund, warum sie versuchen sollte, mich zu überreden, ein Vampir zu bleiben.
Tief in meinem Magen steigt Wut auf und bewegt sich zu meiner Kehle hinauf. Sie ist so egoistisch. Sie interessiert sich überhaupt nicht für mich und meine Wünsche. Für meine Träume und Hoffnungen, für meine Ängste und meine Zukunft. Sie denkt einfach nur an sich und an ihre eigenen Vorteile.
»Magische Kräfte . . .«, fügt sie ihrer Top-Ten-Liste guter Gründe hinzu, aus denen Sunny ein Vampir bleiben sollte.
Miststück.
Absolutes Miststück.
»Die Freiheit, überallhin zu reisen, wo du hinwillst. Sogar nach Australien ...«
Ich fasse es nicht. Nicht jetzt. Nicht so. Als Nächstes wird sie ihren Blog zur Sprache bringen. Wehe, wenn sie wieder von ihrem Blog anfängt und von der Tatsache, dass ich ihn nicht gelesen habe...
»Wenn du meinen Blog gelesen hättest, wüsstest du, dass ...«
AH!
»Zum Teufel mit deinem verdammten Blog, Rayne!«, explodiere ich, zu wütend, um mir noch länger Sorgen zu machen, Mom zu wecken. »Und weißt du, was? Du kannst gleich auch zum Teufel gehen. Du hast keine Ahnung, was ich durchmache. Du hast da irgendeine verrückte Vorstellung im Kopf, dass es hierbei nur um Spaß und Spiele geht. Nun, das tut es nicht.«
»Sunny . . .«, versucht Rayne, mich zu unterbrechen.
Aber ich bin voll in Fahrt und stelle fest, dass ich nicht aufhören kann zu schreien. »Es macht keinen Spaß, ein Vampir zu sein. Du kriegst die Sonne nicht mehr zu sehen.
Du kannst keine Knoblauchpizza essen. Deine Mom gibt dir Hausarrest, weil sie glaubt, du nähmest Drogen, und du fühlst dich unvorstellbar erbärmlich, wenn du das verrückte Verlangen hast, dein altes Leben zurückzubekommen. Nun, ich weigere mich, Schuldgefühle zu haben, weil ich ein Mensch sein will. Weil ich mein menschliches Ich mag und nicht alles, was ich bin, opfern will, um mich in ein verrücktes, unsterbliches, allmächtiges Wesen zu verwandeln.«
Ich tobe jetzt förmlich. Ich weiß, ich sollte den Mund halten, aber ich kann nicht. »Hör mal, Rayne. Ich will ein Mensch sein. Ich will ein normales Leben haben. Ich will mit Jake Wilder zum Schulball gehen und mich mit ihm amüsieren! Ich möchte die Nacht durchtanzen wie eine normale Highschool-Schülerin und vergessen, dass es diesen Schlamassel je gegeben hat.
Es tut mir leid, wenn meine Wünsche für mein Leben nicht mit deinen übereinstimmen. Es tut mir leid, wenn meine Rückverwandlung in einen Menschen dir ungelegen kommt. Aber weißt du, was? Das ist eben Pech. Dies ist mein Leben und ich werde damit anfangen, was zur Hölle mir gefällt. Also, warum schwirrst du nicht einfach ab und lässt mich in Ruhe!«
Rayne starrt mich einen Moment lang an, als könne sie nicht fassen, dass ich gerade so explodiert bin. Was keine Überraschung ist, da ich es selbst nicht fassen kann. Ich hatte nicht die Absicht, so hochzugehen. Es ist einfach ... passiert.
»Hast du eine Ahnung, was ich durchgemacht habe, als ich versucht habe, dich zu decken?«, fragt sie mit gepresster Stimme. »Mom hat praktisch nach der US-Army geschrien, als ich bei Spider war und drei Tage lang nicht nach Hause gekommen bin. Aber habe ich gebeichtet? Nein. Ich habe die Nummer bis zum bitteren Ende durchgezogen. Jetzt bin ich diejenige, die Hausarrest hat.« Sie stampft davon, immer noch vor sich hin murmelnd. »Das ist das letzte Mal, dass ich versuche, dir zu helfen, du undankbares kleines Biest.«
Schuldgefühle schlagen wie eine Flutwelle über mir zusammen. So viel zum Thema fehlgeleitete Aggression. Ich habe sie gerade ohne den geringsten Anlass angemotzt.
Denn ich bin nicht sauer auf sie, begreife ich plötzlich. Ich bin sauer auf mich selbst. Und auf all die blöden Entscheidungen, die ich getroffen habe.
»Rayne. Es tut mir leid .. .«, versuche ich es.
Sie wirbelt herum und sieht mich mit mörderisch blitzenden Augen an. »Das braucht es nicht«, sagt sie mit kalter, giftiger Stimme. » Mir tut es nicht leid.« Sie wendet sich wieder ab und geht die Treppe hinauf. »Oh, noch etwas«, fügt sie auf halbem Weg nach oben hinzu. »Da du dich dafür entschieden hast, nicht Magnus' Blutgefährtin zu bleiben, macht es dir doch sicher nichts aus, wenn ich es mal versuche. Schließlich hat er zuerst mir gehört.«
Mein Herz sinkt in meine Zehen. Konnte es noch schlimmer werden? »Klar«, murmele ich und starre zu Boden. »Wie du willst.« Was kann ich sonst sagen? Ich habe beschlossen, alle Bande zu Magnus zu durchtrennen, aber ich möchte nicht, dass er sich mit jemand anderem trifft? Das wäre absolut unfair. Und wie sie sagte, sie hatte ihn tatsächlich zuerst.
»Wunderbar«, erwidert Rayne mit triumphierender Stimme, während sie weiter die Treppe hinaufgeht. »Danke, Sun. Ich kann es gar nicht erwarten, ihm die guten Neuigkeiten mitzuteilen. Ich würde ihn gleich jetzt anrufen, aber ich denke, es wäre viel, viel besser, von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu sprechen.« Sie grinst boshaft, dann biegt sie um die Ecke und verschwindet aus meinem Blickfeld.
Ich lasse mich schluchzend in einen Sessel sinken. Ich versuche, daran zu denken, wie großartig es sein wird, wieder ins normale Leben zurückzukehren. Wie wunderbar der Schulball sein wird, auf dem ich Wange an Wange mit Traumtyp Jake Wilder tanzen werde. Vielleicht bittet er mich in sein Hotelzimmer. Vielleicht kann ich ein und für alle Mal den Sunny-das-Unschuldslamm-Mantel abstreifen.
Vielleicht wird er sich in mich verlieben und wir werden heiraten und Babys kriegen und glücklich bis ans Ende unserer Tage leben.
Aber die Fantasie ist bittersüß. Denn wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann die neuen Visionen, die in meinem Kopf tanzen, nicht abschütteln. Rayne, wie sie sich mit Magnus verbandelt. Er, wie er sie mit Küssen bedeckt und ihr ins Ohr wie sehr er sie liebe. Und sie werden noch Jahrtausende miteinander herumhängen, Blut trinken und von den alten Tagen reden. Ab und zu wird ihr Gespräch auf jene Woche vor langer Zeit kommen, als er versehentlich ihre jämmerliche Zwillingsschwester gebissen hat. Bis dahin werde ich natürlich lange tot sein. Würmer werden an meinem verwesenden Körper nagen.
Oh, was soll ich nur tun?