Goth Me Up -
Bay-Bee
»Nenn mir nur einen Grund, warum ich heute Abend mitgehen sollte.«
Es ist Sonntagnachmittag, fünf Uhr, und ich versuche verzweifelt, irgendwie aus diesem großen Club-Fang-Event rauszukommen, das meine Schwester für uns geplant hat.
Allerdings habe ich nicht viel Hoffnung. Schließlich ist es eine unumstößliche Tatsache, dass Rayne bekommt, was Rayne will. Punkt. Aus. Ende.
Rayne rollt sich auf ihrem Himmelbett herum, stützt den Kopf auf die Ellbogen und schmollt mich gekonnt an.
»Hör auf zu jammern. Es wird ein irrer Spaß werden, das weißt du. Außerdem bin ich mit dir in das Konzert von Dave Mathews gegangen und du kannst dir nicht vorstellen, wie qualvoll das für mich war. Meine Ohren haben sich immer noch nicht davon erholt.«
Mein theatralisches Ebenbild reibt sich mit zwei Fingern die Ohrläppchen, als täten sie ihr immer noch weh. Oh Jammer. »Na egal.« Ich versetze ihr einen spielerischen Stoß und sie lässt sich auf die Matratze fallen. »Als wäre es eine Zumutung, diese traumhafte Stimme zu hören.«
»Eine Zumutung, nein. Eine grausame und ungewöhnliche Strafe, schlimmer als der Tod? Jetzt wird es langsam wärmer.« Rayne springt vom Bett auf und stürzt schnurstracks auf ihren Schrank zu. »Also, du kommst mit.
Die Sache ist entschieden.« Sie durchstöbert mit konzentrierter Miene die Kleider. »Jetzt müssen wir dir nur noch etwas zum Anziehen aussuchen.«
Alarmstufe Rot!
»Oh nein, das wirst du nicht!«, heule ich auf. »Selbst wenn ich gezwungenermaßen mit in diesen blöden Club gehe - ich werde mich auf gar keinen Fall von dir auf Gothic trimmen lassen. Was ich anhabe, ist total okay.« Ich stehe auf und stolziere in meiner bewährten Standardkombi - Tanktop, Jeans und Flip-flops - durch den Raum.
Rayne sieht mich genau eine Sekunde lang an - lange genug, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern und die Augen zu verdrehen -, dann wendet sie sich wieder ihrem Schrank zu. Sie zieht einen langen schwarzen Rock und einen schwarzen Pulli heraus.
»Ich gehe ganz bestimmt nicht in einem Pulli in eine Disco«, protestiere ich. »Ich werde mich zu Tode schwitzen!«
»In Ordnung. Meine Güte. Es war doch bloß eine Idee.« Sie stopft das Ganze wieder in den überquellenden Schrank zurück und tauscht es gegen ein schwarzes (so eine Überraschung) Tanktop. Obwohl ich im Normalfall absolut der Tanktop-Typ bin, müssen sie für mich nicht unbedingt aus Lack sein.
»Vergiss es.« Ich schüttele den Kopf. »Die Leute werden denken, ich stehe auf SM, und versuchen, mich auszupeitschen oder mich mit Handschellen auf der Bühne anzuketten.«
Rayne stößt daraufhin ihren patentierten Frustseufzer aus, hängt das Bondage-Outfit aber glücklicherweise in den Schrank zurück. Während ich mich aufs Bett setze und mich frage, ob ich mir Sorgen darüber machen sollte, dass meine Zwillingsschwester so etwas überhaupt besitzt.
»Wie wär's damit?«, fragt sie. Sie zieht ein wirklich süßes Top mit Spaghettiträgern heraus, auf dem vorne die Worte Fashion Victim geschrieben stehen. »Das scheint mir ziemlich passend zu sein.«
Ich werfe ein Kissen nach ihr.
»Ist natürlich pure Ironie«, räumt sie mit einem Kichern ein.
»Oh das würde selbstverständlich auch infrage kommen.«
Sie tauscht das Top gegen ein anderes ein - ein pinkfarbenes mit weißer Aufschrift: Beiß mich!
»Wo hast du das denn her?«, frage ich neugierig. »Auf so was stehst du doch eigentlich gar nicht. Es ist nicht mal schwarz.« Sie zuckt die Achseln. »Irgendein Vampir hat es mir vor einer Weile mal geborgt. Ich vergesse dauernd, es zurückzugeben.«
»Ein Vampir?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Ich wusste zwar, dass Rayne mit etwas ungewöhnlichen Leuten abhängt, aber mir war nicht klar, dass diese Typen sich für Geschöpfe der Nacht halten. »Tauschen wir jetzt Klamotten mit den Untoten?« Ich nehme an, das würde all das schwarze Zeug erklären.
Rayne schnaubt. »Es ist bloß ein geliehenes T-Shirt, Besserwisser. Aber im Prinzip, ja. In Nashua gibt es eine ganze Gruppe davon. Sie sehen aus wie Gothics, sind in Wirklichkeit aber Mitglieder eines uralten Vampirzirkels.«
»Du nimmst mich auf den Arm«, stöhne ich. »Warum sollte überhaupt jemand so tun, als sei er ein Vampir? Ich meine, warum ist das so cool? Trinken sie ständig gegenseitig ihr Blut oder was?«
Rayne antwortet mit einem unverbindlichen Achselzucken, was nur sagt, dass sie diese Sache tatsächlich cool findet, ohne es mir gegenüber jemals zugeben zu wollen. Ich erwäge, sie aufzuziehen, komme dann jedoch zu dem Schluss, dass die »Leben-und-leben-lassen«-Theorie schwesterlichen Verhaltens hier der beste Schlachtplan ist, und lasse das Thema fallen. Schließlich muss ich den ganzen Abend mit ihr rumhängen. Wenn sie sauer auf mich ist, wird diese blöde Geschichte nur umso qualvoller.
»Okay, ich zieh das Beiß-mich-Shirt an«, sage ich, um sie zu beschwichtigen. »Wenigstens ist es nicht schwarz.«
Rayne wirft mir mit einem anerkennenden Grinsen das Tanktop zu. »Allerdings könnte es jemanden auf die Idee bringen, du wolltest damit sagen: 'Sieht das nicht lecker aus? Komm, greif zu, heute ist Selbstbedienung!'«
»Uh!« Daran habe ich natürlich noch nicht gedacht.
Aber bevor ich protestieren kann, sagt meine Schwester:
»Keine Sorge. Die meisten Jungs da werden schwul sein, da bin ich mir sicher. Das sind die guten immer, vor allem in der Gothicszene. Man findet nicht viele Heterotypen, die Eyeliner tragen.« Währenddessen hat sie bereits ihr T-Shirt gegen ein langes schwarzes Prinzessinnenkleid getauscht, das mit einer Tonne Spitze verziert ist. Wo treibt sie dieses Zeug bloß auf? Sie schnaubt. »Also, mein kleiner engelsgleicher Zwilling, ich bin recht zuversichtlich, dass deine Tugend unversehrt bleiben wird, ganz gleich, welches T-Shirt du anziehst.«
Jetzt fängt sie schon wieder an. Ich wusste, dass wir unmöglich ein ganzes Gespräch führen konnten ohne Raynes berüchtigte Seitenhiebe a la »Sunny, das Unschuldslamm«. Meine geliebte kleine Schwester hat letztes Jahr ihre Jungfräulichkeit verloren und gibt seitdem pausenlos damit an. Man sollte meinen, sie hätte eine olympische Sexmedaille gewonnen oder so was.
Aber entschuldige mal. Sich im Ferienlager mit einem schmuddeligen Skatertypen nach draußen zu schleichen, um es auf dem Boden des Bootshauses zu treiben! Das ist jedenfalls nicht meine Vorstellung von einer erfüllenden ersten Erfahrung. Nenn mich ruhig mädchenhaft - ich möchte einfach, dass es bei mir beim ersten Mal Kerzen und Rosen gibt, nicht Holzsplitter und aufgeschürfte Knie.
Jeder das Ihre, würde ich sagen.
»Wie dem auch sei«, fährt Rayne fort, die mein Schweigen als Erlaubnis auffasst, mich weiter aufzuziehen, »du kannst versichert sein, dass deine Unschuld im Club Fang keinerlei Gefahr ausgesetzt sein wird.«
Obwohl ich es eigentlich gar nicht will, muss ich kichern.
Sie klingt wie eine Verkäuferin. »Steht das in dem Flyer?«
»Absolut«, erklärt Rayne selbstbewusst. »Mit Geld-zurück-Garantie.«