Aber ich bin ein Vampir, kein Junkie!
Ich komme nur drei Minuten nach der vorgeschrieben zu Hause an. Wahrscheinlich habe ich jedes Tempolimit auf Erden durchbrochen, um es zu schaffen, aber ich dachte fallsmir irgendwelche Cops Strafzettel ausschreiben wollen, nebele ich sie mit meinem Vampirduft ein. Eins steht fest, das ist eindeutig eine nützliche übernatürliche Gabe.
(Natürlich ausgenommen die Fälle, in denen sie lesbische Sekretärinnen und perverse Lehrer anturnt. Darauf könnte ich verzichten.)
Ich schließe die Tür zu meinem Haus auf und trete ein. Es ist vollkommen dunkel. Ich frage mich, ob alle bereits im Bett liegen. Obwohl ich annehme, dass Rayne wahrscheinlich noch wach ist und wie üblich auf ihren Computer einhämmert. Was gut ist, weil ich mit ihr zusammen einen Plan schmieden muss. Ich kann Mom wohl kaum erzählen, dass ich für ein paar Tage die Stadt verlassen werde, um mal kurz nach England zu düsen, weil ich hoffe, den verlorenen Kelch Christi zu finden, mein Blut reinigen und mich von dem Makel befreien wird, auf ewig ein Vampir zu sein. Deshalb wird meine liebe
Schwester mich also decken müssen.
Ich schleiche in den Flur und versuche, auf den Zehenspitzen zu gehen. Es ist nicht nötig, alle aufzuwecken. Aber mein Plan geht sofort zunichte, als ich versehentlich auf eine lose, knarrende Fliese trete.
Verdammt. In der Küche geht ein Licht an und ich springe überrascht zurück, das Herz im Hals.
»Sunny? Bist du das?«
Ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus. Nur Mom.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, die Jägerin sei vielleicht dahintergekommen, wo ich wohne, und habe sich einen Mitternachtsimbiss gegönnt, wahrend sie darauf wartet, mich zu pulverisieren.
Andererseits ist es sehr gut möglich, dass eine Sperrstundenerörterung mit Mom noch schmerzharter sein könnte.
»Mom Ich bin's.« Ich blicke sehnsüchtig zu der Treppe, die in mein dunkles, behagliches Zimmer hinaufführt. Von der Leuchtstoffröhre in der Küche bekomme ich Kopfschmerzen, selbst von hier aus. Aber ich weiß, dass ich nicht die leiseste Hoffnung habe, an diesem Punkt einer Standpauke zu entgehen.
»Möchtest du eine Portion Tofutti?«, fragt sie. »Ich mache mir etwas zurecht.«
»Nein, danke«, sage ich und gehe widerstrebend in die Küche. Nur meine Mom würde auf die Idee kommen, Soja-Eis für einen besonderen Leckerbissen zu halten.
Ich lasse mich auf einen Hocker an der Frühstückstheke fallen und reibe mir mit den Fäusten die Augen. Ich bin so müde. Seit diese ganze Sache angefangen hat, habe ich keine Nacht mehr richtig geschlafen. Gleichzeitig fühle ich mich total aufgedreht und befürchte, dass ich auch in dieser Nacht keinen Schlaf bekommen werde. Zumindest nicht bis zum Sonnenaufgang und dann wird Rayne mich aus dem Bett zerren müssen. Ich frage mich, ob ich mich krank stellen und die Schule schwänzen kann … Ich muss wirklich mal einen Tag lang ordentlich schlafen.
»Bist du dir sicher, dass du nichts willst? Ich habe zuckerfreien Carosirup dazu«, sagt Mom und hält das Glas hoch. Ich winde mich. Ich mochte dieses nachgemachte Schokoladenzeug, auf das die Hippies so stehen, schon vor meiner Verwandlung in einen Vampir nicht. Und ich werde jetzt bestimmt nicht auf den Geschmack kommen.
Meine Mom gibt einen letzten Spritzer Caro auf ihre Tofutti und stellt die Flasche und den Eisbehälter in den Kühlschrank beziehungsweise die Kühltruhe. Dann setzt sie sich mir gegenüber an die Frühstückstheke und löffelt sich eine große Portion in den Mund.
»Hmmm«, sagt sie und leckt sich die Lippen. »Du weißt nicht, was dir entgeht.«
Ich lache. »Oh doch, das weiß ich. Vergiss nicht, als Kinder hast du uns gezwungen, dieses Zeug zu essen. Richtiges Eis habe ich vor der vierten Klasse überhaupt nicht kennengelernt.«
»Ja, und das auch nur, weil die böse Tante Edna dich verdorben hat. Ein Bissen, und du bist zu einem hoffnungslosen Junkfood-Junkie geworden«, sagt Mom mit einem Seufzen, bevor sie sich den nächsten Löffel in den Mund schiebt. »Und du wolltest keine gesunden Sachen mehr essen.«
Ich lächele. Ich weiß, dass es ihr nicht wirklich etwas ausmacht. Sie hat Rayne und mich dazu erzogen, unsere eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Unsere eigenen Gedanken, Träume und Ideen. Und Diäten. Sie hat uns beigebracht, wie sie mit den Dingen umgeht, aber nie darauf bestanden, es genauso zu machen. So cool ist unsere Mom.
»Also, wie ist deine Prüfung heute gelaufen?«, fragt sie und sieht mich mit Augen an, die oberflächlich betrachtet vollkommen arglos wirken. Aber ich weiß, dass sie eine schwerwiegende Frage stellt.
»Ähm, gut. Gut«, murmele ich. Ich bin ein echt schlechter Lügner. Im Gegensatz zu Rayne, die bei der Lügenolympiade mitmachen und mühelos die Goldmedaille gewinnen könnte. Ich meine, angeblich haben Zwillinge doch eine identische DNA, aber irgendwie hat Rayne das Guter-Lügner-Gen abbekommen und ich das Gesicht-verrät-alles-Gen.
»Hm-hm«, sagt meine Mom mit unüberhörbarer Skepsis.
»Und dein Abend heute? Hattest du einen schönen Abend?«
»Ja, es war okay«, antworte ich und bete, dass keine Nachfragen kommen. Aber es sieht so aus, als hätten die Verhörgötter nicht die Absicht, mir Gnade zu erweisen.
»Wo bist du denn gewesen?«
»Ähm, in einem Kaffeehaus in Nashua.« Ich schätze, ich kann genauso gut so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben, ohne natürlich diese ganze Vampirgeschichte zu erwähnen.
»Verstehe.« Meine Mom presst für einen Moment die Lippen zusammen. »Und was hast du da gemacht?«
»Kaffee getrunken . . .?« Hm, na ja.
»Und mit wem hast du diesen Kaffee getrunken?«
Ich winde mich auf meinem Hocker. »Ähm, mit ein paar Freunden.«
Bitte, frag nicht, mit wem, bitte, frag nicht, mit wem, bitte, frag nicht mit wem.
»Mit wem?«
Verdammt.
»Ähm, da waren Rachel und Charity ...« Die mir ein Glas mit ihrem eigenen Blut gegeben haben, bevor sie verschwunden sind, stelle ich mir vor zu sagen. War das nicht furchtbar nett von ihnen? Und dann ist Jareth aufgetaucht. Ein Vampirgeneral, musst du wissen. Unterwegs, um Magnus zu beschützen, den König der Vampire und mein Blutsgefährte für die Ewigkeit, es sei denn, ich kann morgen nach England düsen, um mir den Heiligen Gral zu greifen. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich deswegen die Schule schwänze, oder?
Ich überlege, wie viele Millisekunden sie brauchen würde, um die Männer mit den weißen Mänteln anzurufen.
»Rachel und Charity?«, wiederholt Mom und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Ich glaube nicht, dass du sie schon mal erwähnt hast. Gehen sie mit dir zur Schule?«
»Mann, soll das ein Verhör sein, Mom?«, gebe ich zurück, außerstande, meinen vom schlechten Gewissen verursachten Ärger auch nur einen Moment länger zu bezähmen. »Ich meine, seit wann kümmert es dich, mit wem ich rumhänge oder was ich tue?«
Himmel. Ich nehme all dieses Gerede von wegen coole Mom zurück. Jeden einzelnen Coolnesspunkt, den ich ihr über die Jahre zugeschrieben habe. Futsch. Heute Nacht ist sie genauso eine Nervensäge wie die Moms meiner Freundinnen.
»Seit wann mich das kümmert?«, wiederholt sie und zieht dieAugenbrauen hoch. Uh-oh. Diese Sache mit den hochgezogenen Augenbrauen gefällt mir so was von gar nicht. Das geht nie gut aus. »Du willst wissen, seit wann?
Ich schätze, seit deine Schwester mir erzählt hat, dass du den ganzen Abend in der Bibliothek lernst. Allein.«
Oh.
Verdammt, ich wusste, dass ich Rayne auf dem Heimweg auf ihrem Handy hätte anrufen sollen, um herauszufinden, ob sie irgendeine Geschichte für mich erfunden hat.
»Oh. Klar«, sage ich. Ich muss diese Situation retten oder ich werde Hausarrest kriegen und dann wird es erheblich schwieriger, mit Magnus nach England zu kommen.
»Wir haben gelernt. Kaffee getrunken und gelernt. Dieses Lokal ist eigentlich so eine Art Mischung aus Bibliothek und Kaffeehaus. Das ist im Moment total in. Alle sagen, die Kaffeehäuser seien die neuen Bibliotheken. Man kriegt sozusagen sein Koffein und dann lernt man. Es ist klasse und . ..«
»Sunny, bist du auf Drogen?«, fragt Mom mich plötzlich auf den Kopf zu.
Ich höre sofort auf zu reden, aber ich glaube, mein Mund steht immer noch offen vor Schreck.
»Bin ich auf ... Drogen?«, wiederhole ich ungläubig. Sie nimmt mich auf den Arm, stimmt's?
»Das ist eine einfache Frage.«
Sie nimmt mich nicht auf den Arm. Das sehe ich an ihrer ach so ernsten Miene. Ich kann es nicht fassen!
»Ich weiß, dass es eine einfache Frage ist, aber warum stellst du sie?«, verlange ich zu erfahren, tief gekränkt inzwischen. »Mache ich den Eindruck, als sei ich auf Drogen?«
Meine Mom zuckt die Achseln. »Wenn du es genau wissen willst, ja, das tust du. Du bleibst bis in die Puppen weg und du lügst, wenn man dich fragt, wo du gewesen bist.
Morgens übergibst du dich. Deine Augen sind vollkommen blutunterlaufen und deine Pupillen geweitet. Deine Hände zittern und du bist noch blasser als Rayne mit ihrem Kleister-Make-up. Also, ja, ich muss sagen, du machst den Eindruck, als seist du auf Drogen.«
Okay, schön. Sie hat nicht ganz unrecht. Aber trotzdem …
»Aber ich nehme keine Drogen«, beteuere ich, wohl wissend, dass ich total lahm klinge. Aber wie kann ich mich verteidigen, ohne mit der verrückten Wahrheit rauszurücken, die sie mir ohnehin niemals glauben würde?
»Sunny, du kannst es mir sagen, wenn es so ist«, erwidert Mom und legt ihren Tofutti-Löffel beiseite. »Ich weiß, dass viele Teenager experimentieren. Ich selbst habe in den Siebzigern eine Menge ausprobiert. Haschisch, LSD, was du willst, ich habes es wahrscheinlich irgendwann mal genommen. Aber wenn du da mitmachen willst, musst du es in einem geschützten Raum tun. Und ich möchte sicherstellen, dass du nichts Gefährliches machst. Ich liebe dich und ich will dich nicht verlieren.«
Ich habe den ernsthaften Wunsch, vor lauter Frust mit dem Kopf auf den Tisch zu hauen. Ich kann nicht fassen, dass Mom glaubt, ich nehme Drogen. Und ich habe keine Ahnung, wie ich sie vom Gegenteil überzeugen soll. Ich meine, alles, was sie aufgeführt hat, sind im Wesentlichen Symptome meiner Verwandlung in einen Vampir, aber genau das kann ich ihr wohl kaum erzählen.
»Ich kann dich beruhigen, Mom«, sage ich und schlucke meinen Ärger herunter. Ich weiß, sie versucht nur zu helfen, aber ich bin müde und genervt und will einfach ins Bett.
»Ich nehme keine wie auch immer gearteten Drogen und habe auch nicht die Absicht, das in der näheren oder entfernteren Zukunft zu tun.«
Meine Mom stößt einen tiefen Seufzer aus und fährt sich mit der Hand durch ihr langes, ergrauendes Haar. Sie witzelt immer, dass Rayne der Grund für ihre vorzeitig grau gewordenen Strähnen sei. Heute Nacht denke ich, dass sie auch mir die Schuld daran zuweist.
»Weißt du, ich hatte gehofft, wir hätten die Art Mutter-Tochter-Beziehung, die es dir ermöglichen würde, über solche Dinge mit mir zu reden«, sagt sie traurig. »Ich weiß, es klingt klischeehaft, aber ich wollte nicht nur deine Mutter sein, sondern auch deine Freundin. Jemand, mit dem du Dinge teilen und sicher sein kannst, dass er dich nicht dafür verurteilen würde. Ich wollte mit dir und Rayne eine andere Art von Beziehung haben, als ich sie mit meiner eigenen Mutter hatte.«
»Das hast du auch. Wir sind Freundinnen«, rufe ich und lege eine Hand auf ihren Unterarm, während eine üble Welle von Schuldgefühlen über mir zusammenschwappt.
»Ich erzähle dir alles. Ich liebe dich, Mom. Aber ehrlich, diesmal gibt es nichts zu erzählen. Ich bin einfach nicht auf Drogen. Punkt. Aus. Ende.«
Meine Mutter nickt langsam. Ich kann eine Träne aus ihrem Augenwinkel rinnen sehen. Na toll. Jetzt habe ich sie wirklich aufgeregt. Aber was soll ich tun? Ich kann ihr diesmal nicht die Wahrheit sagen. Das ist unmöglich. Aber indem ich schweige, sieht es für sie so aus, als würde ich ihr nicht vertrauen.
Mann, das ist so schwer.
»Sunny, es ist schrecklich für mich, dir das anzutun«, sagt Mom und wischt sich mit dem Ärmel die launische Träne ab. »Aber ich habe das Gefühl, es ist zu deinem eigenen Besten.«
Uh-oh.
»Wenn du nicht auf Drogen bist, dann bist du offensichtlich krank oder irgendetwas. Denn du siehst nicht gut aus. Also muss ich von dir verlangen, zu Hause zu bleiben, bis du anfängst, wieder besser auszusehen.«
»Du gibst mir Hausarrest?« Mist. Ich darf keinen Hausarrest kriegen. Ich muss mich morgen nach England davonstehlen. Wie soll ich mich morgen nach England davonstehlen, wenn ich Hausarrest habe?
»Nein, nicht direkt Hausarrest.«
»Aber ich darf nicht ausgehen.«
»Richtig.«
»Überhaupt nicht.«
»Du darfst zur Schule gehen ...«
»Also, inwiefern unterscheidet sich das von Hausarrest?«, begehre ich zu wissen.
Sie zuckt die Achseln. »Ich nehme an, es ist Hausarrest. Ich habe diesen Ausdruck immer gehasst. Er klingt so . . . totalitär.«
»Warum führst du dich dann wie ein faschistischer Diktator auf?«, versuche ich es noch einmal.
»Sunny, bitte.« Meine Mutter reibt sich die Schläfen. »Es ist spät. Ich bin müde. Du hast morgen Schule. Geh ins Bett.«
»Schön. Wie auch immer«, gebe ich zurück. Ich springe vondem Barhocker, auf dem ich gesessen habe, und marschiere in Richtung Flur. »Eine schöne coole Mom bist du«, murmele ich vor mich hin und hoffe insgeheim, dass sie mich hören kann.