Gralssuche

Etwa fünfzehn Minuten später gehen wir eine dunkle steinerne Wendeltreppe tief unter der Erde hinunter, mit Llewellyn als unserem Führer. Er hält immer noch an diesem falschen Naturimage fest und besteht darauf, eine Fackel zu benutzen, um unseren Weg zu erhellen. Aber egal. Solange wir nur ans Ziel kommen.

»Dieser Gang führt hinab zum mächtigen Tor«, erklärt unser Druidenreiseleiter. »Er wurde vor tausend Jahren von den Vorfahren unseres Ordens ausgehoben.«

Wow. Echt faszinierend. Dieser Typ könnte sich einen Job als Führer im Tower von London suchen, sobald er seine Million für Schnaps und Bräute verpulvert hat.

Wir erreichen das untere Ende der Treppe und gelangen an ein schmiedeeisernes Tor. Llewellyn greift in seine Robe, um einen antik aussehenden goldenen Schlüssel hervorzuholen. Hightech-Schlüsselcodes sind für diese Leute wohl nicht genug. Er steckt den Schlüssel ins Schloss und das Tor öffnet sich mit einem Knarren. Dahinter wird eine niedrige Decke über einem mit Spinnweben überzogenen Gang sichtbar, der in die Dunkelheit führt.

Mit anderen Worten, mein schlimmster Albtraum ist wahr geworden.

»Hier entlang«, kommandiert Llewellyn und deutet mit seinen langen Fingernägeln nach vorn.

Ich starre in den Gang und versuche, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Irgendwie hatte ich vergessen, dass ich an Klaustrophobie leide. Das Herz hämmert mir in der Brust, während ich beobachte, wie das Licht der Fackel über die tiefen Mauern tanzt. Ich würde meinen linken Arm geben, mein Erstgeborenes - alles-, wenn ich dafür nur eine Halogenstirnlampe bekommen konnte.

»Es ist alles in Ordnung«, flüstert Magnus mir ins Ohr. Er greift nach meiner zitternden Hand. »Entspann dich.«

Er hat gut reden. Für mich ist es viel schwieriger, da die Wände sich um mich herum zu schließen scheinen. In Gedanken sehe ich Szenarien von Erdbeben und Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen, die dazu führen könnten, dass der Tunnel einstürzt und uns bei lebendigem Leibe begräbt.

Mir wird bewusst, dass ich die Nägel in Magnus' Handfläche bohre, und ich lockere meinen Griff. »Tut mir leid«, flüstere ich.

»Es heißt, Joseph von Arimathäa sei einst in diesen Gängen gewandelt«, fährt Tourenführer Llewellyn, der meinen Stress überhaupt nicht mitkriegt, fort. »Er war auf der Suche nach einem sicheren Ort für den Kelch seines Vetters Jesus Christus, dessen Blut er aufgefangen hatte, als dieser am Kreuz starb. Er hatte das Gefühl, dass dieses Blut rein und heilig sei und eines Tages zu einem guten Zweck benutzt werden könnte.«

»Gut mitgedacht, Joey, mein Junge«, murmele ich.

»Angesichts der Verfolgung der Christen in den östlichen Ländern glaubte er, dass der Heilige Gral dort nicht sicher sein würde. Also vertraute er ihn unserem Orden an. Und wir haben ihn seither gehütet.«

Yeah, bis heute, als du den armen Joey für eine Million Mäuse verkauft hast.

»Der Kelch selbst ist mit einem gewaltigen Stein verbunden und lässt sich nicht bewegen. Aber ich habe für Euch zwei Phiolen, die aus reinstem Kristall gemacht sind und die ihr füllen könnt.«

»Du musst bis Samstagabend warten, bevor du es tatsächlich trinkst«, flüstert Magnus mir zu. »Jedenfalls nach dem, was ich gelesen habe.«

Verdammt. Es wird also keine Instantumkehrung geben. Na so was. Aber trotzdem, endlich habe ich Hoffnung. Und das ist alles, was zählt.

Wir erreichen eine massive steinerne Tür. Llewellyn schließt sie mit einem weiteren altertümlich wirkenden Schlüssel auf und die Tür öffnet sich lautlos.

Wir treten hindurch und ich schnappe nach Luft. Alle Gedanken an Klaustrophobie lösen sich von einer Sekunde auf die andere in Luft auf. Ich weiß nicht, ob du Indiana Jones und der letzte Kreuzzug gesehen hast, aber in diesem Film gelangt Indiana in den Raum, in dem der Heilige Gral aufbewahrt wird. Dort stehen eine Million verschiedene kunstvolle Kelche und er muss herausfinden, welches der richtige ist, denn wenn er aus dem falschen trinkt, wird er sterben. Und am Ende stellt sich raus, dass der Gral der schlichteste aller Kelche ist.

Nun, lasst es euch von mir gesagt sein, das ist ein weiterer klassischer Hollywoodirrtum. Zum einen scheint der Raum, in dem wir uns jetzt befinden, ganz und gar aus Gold gemacht zu sein. Goldener Boden. Goldene Decke. Goldene Wände. Und da steht nur ein einziger Kelch. Ein einziger Heiliger Gral. Und so sehr man seine Fantasie auch strapaziert, schlicht könnte man ihn auf keinen Fall nennen. Er ist an einem massiven Stein befestigt, wie Llewellyn es erzählt hat, und es ist der kunstvollste Kelch, der mir je unter die Augen gekommen ist. Er ist aus Gold. Mit Juwelen drauf. Ein verdammt fantastisches Teil, dieser Heilige Gral.

»Der Gral«, sagt Llewellyn mit einer schwungvollen Gebärde. Ich blicke zu Magnus hinüber, um meiner Aufregung Luft zu machen. Ich stelle fest, dass er plötzlich kübelweise schwitzt. Er schwitzt buchstäblich Blut, wenn du es einmal so wörtlich nehmen willst. Außerdem geht sein Atem stoßweise und sein Gesicht ist leichenblass.

»Ist alles okay mit dir?«, frage ich. So erregt habe ich ihn nicht mehr gesehen, seit ich ihn an jenem ersten Abend mit dem Kreuz aufgezogen habe ... Das ist es! Die Nähe eines so starken religiösen Objekts muss ihn in den Wahnsinn treiben. Armer Kerl.

»Mir geht es . .. gut«, sagt er mit gepresster Stimme. »Hol ... einfach ... das Blut.«

Llewellyn zieht zwei durchsichtige Phiolen aus einer Tasche in seinem Gewand und tritt vor den Gral hin. Magnus gibt ein leises, ersticktes Geräusch von sich und ich drücke seine Hand. Wenn ich gewusst hätte, wie sehr ihm das hier zu schaffen machen würde, hätte ich vorgeschlagen, allein hinzugehen.

Ich wende mich wieder zu Llewellyn um und beobachte, wie er die Phiolen in den Kelch taucht und mit einer dunklen roten Flüssigkeit füllt. Dann versiegelt er jede Phiole und gibt eine davon mir und die andere Magnus.

»Moment mal, Magnus kann nicht...«, beginne ich. Ich möchte nicht, dass die Phiole seine Hand verbrennt oder so. »Mit mir ist alles in Ordnung, Sunny«, sagt Magnus und nimmt die Phiole entgegen. »Sie ist versiegelt.«

Oh. Hm, wer konnte das wissen? Ich drehe die Phiole in der Hand um. »Dieses Ding ist nicht besonders zerbrechlich, oder?«, frage ich. »Denn es würde total nerven, wenn ich es den ganzen Weg bis nach Hause schaffen würde und dann irgendeinen Unfall damit hätte.«

Llewellyn schüttelt den Kopf. »Sie ist aus Kristall gemacht und sehr dick und stark. Und ich habe jedem von euch eine Phiole gegeben, für den Fall, dass es zu einem unglückseligen Missgeschick kommen sollte.« Nun, es war nett von ihm, an einen Notfallplan zu denken. Aber hey, wir haben dem Burschen gerade eine Million Pfund gegeben, daher können wir wohl einen guten Service erwarten.

»Klasse.« Ich stopfe die Phiole in meine Blusentasche. »Dann wären wir hier also fertig?« Ich werfe einen letzten Blick auf den Gral und wünsche mir, ich hätte mein Fotohandy mitgenommen. Ich hätte das Foto an ein Museum verkaufen und damit die Million zurückgewinnen können, die wir gerade ausgegeben haben. Ähm, das heißt, die Million, die Magnus ausgegeben hat.

»Kommt, lasst uns den heiligen Ort verlassen«, sagt Llewellyn und steuert auf die Tür zu. »Es sieht so aus, als bereite er deinem Freund große Schmerzen.«

Er hat recht. Armer Magnus. Wir sollten hier verschwinden.

und zwar pronto, bevor er einen Schlaganfall kriegt oder so was. Also folge ich Llewellyn hinaus und wir gehen durch den Flur zurück. Ich stelle fest, dass mein Herz abermals hämmert. Diesmal hat es jedoch nichts mit Klaustrophobie zu tun. Diesmal hämmert es vor Freude.

»Wir haben es geschafft!«, flüstere ich Magnus zu und ziehe ihn kurz an mich. »Ich werde wieder ein Mensch!«

Also, warum wirkt der Vampir nicht besonders glücklich?