Rave zum falschen Zeitpunkt

Ich schlafe wie ein Stein und wache von selbst auf, als die Sonne untergeht, gut ausgeruht, wenn auch mit einem Mordshunger. Ich öffne die Augen. Irgendwie hat Magnus sich im Laufe des Tages im Schlaf bewegt und mich an sich gezogen. Überrascht von seiner Nähe und mehr als ein wenig beklommen, winde ich aus dem Bett und wecke ihn dabei auf.

Er reibt sich verschlafen die Augen. »Ist es schon Abend?«, fragt er.

Ich blicke auf den Wecker auf dem Nachttisch. »Yup. Punkt acht Uhr.« Ich frage mich, ob er eine Ahnung hat, dass ich soben in seinen Armen gelegen habe. Hoffentlich nicht, da das trés peinlich wäre.

»Hervorragend.« Er steigt aus dem Bett, schnappt sich sein Hemd vom Boden und zieht es über den Kopf. »Zeit, nach Glastonbury zu fahren.« Da wir beide in unseren Kleidern geschlafen haben, brauchen wir nicht viel Zeit, um uns fertig zu machen, und wenige Sekunden später folge ich ihm aus dem Zimmer dieTreppe hinunter, »Wie ist Glastonbury denn so?«, frage ich, als wir das Haus verlassen. Die Limousine wartet immer noch auf uns, na so was. Ich frage mich, ob der Fahrer überhaupt geschlafen hat.

»Es ist ein sehr ruhiges Dorf, die Heimat vieler Künstler und Idealisten«, erklärt Magnus, während wir in den Wagen steigen. »Eigentlich aziemlich malerisch. Ein angenehmer Urlaubsort für die meisten Touristen.«

»Cool.« Ich wollte schon immer eine dieser stereotypen englischen Landstädte besuchen, mit steinernen Cottages und Antiquitätenläden.

»Einmal im Jahr wird dort ein großes Festival mit bekannten Musikern veranstaltet«, fährt er fort. »Die Menschen fallen in Scharen über die Stadt her. Im Allgemeinen tauchen hunderttausend Leute auf, wenn du das glauben kannst. Sie kampieren drei Tage auf einem Feld, hören Musik, tanzen und nehmen weiß Gott welche Drogen.«

»Und wann ist das Festival?«

»Oh, es findet erst gegen Ende Juni statt. Niemals im Mai.«

Ich runzele enttäuscht die Stirn. »Schade. Klingt nach einer tollen Show.«

»Glaub mir, es ist gut so. Wenn hunderttausend Menschen die Stadt bevölkern, macht der Druidenorden sich rar. Wir würden sie niemals finden und damit auch den Gral nicht.«

»Oh. Hm, dann ist es wohl gut, dass wir nicht Ende Juni haben.« Natürlich ist der Gral wichtiger als die Teilnahme an irgendeiner großen englischen Rave-Party. »In der Tat.«

»Trotzdem, es wäre irgendwie cool gewesen, das alles zu sehen. Hunderttausend Menschen auf einem Feld, alle eins mit der Musik. So was kriegt man in Amerika nicht.«

Magnus hält einen Moment lang inne, dann sagt er: »Wenn du es wirklich sehen willst, kann ich dich im Juli noch mal herbringen, falls du möchtest.«

Ich blicke zu ihm hinüber, vollkommen sprachlos. Hat er irgendwelche postvampirischen Pläne mit mir? Denkt er ehrlich, dass wir noch miteinander rumhängen werden, nachdem ich mich in einen Menschen zurückverwandelt habe? Ist es überhaupt möglich, eine solche Beziehung zu unterhalten … eine Freundschaft zwischen einem Vampir und einem Menschen? Und falls es möglich ist, ist es das, was ich will?

Will ich weiter mit Magnus rumhängen, nachdem ich wieder vermenschlicht worden bin? Ich kenne ihn erst seit ein paar Nächten, aber wenn ich hier ganz ehrlich bin, gefällt es mir irgendwie, ihn in der Nähe zu haben. Er ist witzig und interessant und loyal und ritterlich und schnuckelig wie nur was. Was gibt es daran auszusetzen?

Andererseits, was werde ich tun, wenn man ihm schließlich eine andere Blutsgefährtin zuweist? Wird er mich wie eine heiße Knoblauchknolle fallen lassen, sobald der Rat ihm eine richtige, willige Partnerin an die Seite stellt? Seine wahre Königin? Und wie werde ich damit fertig werden?

Nein, beschließe ich. Es ist besser, einen sauberen Schnitt zu machen. Das heißt, sobald ich wieder ein Mensch bin. Ich breche alle Brücken hinter mir ab. Vergesse, dass es so etwas wie Vampire überhaupt gibt, und setze mein normales, langweiliges Alltagsleben fort.

»Ähm, Sunny? Du weißt, was ich gerade über die Möglichkeit gesagt habe, dich zu dem Festival mitzunehmen?«, unterbricht Magnus meine sich überschlagenden Gedanken. Ich sehe zu ihm hinüber. Er starrt aus dem getönten Fenster.

Okay. Also los. Zeit, den Schnitt zu vollziehen. Ich schlucke heftig. »Weißt du, Mag, du brauchst mich wirklich nicht. ..«

»Ich denke, wir werden das Festival doch zu sehen bekommen.«

»He?«

Magnus lehnt sich zurück. »Schau mal aus dem Fenster.»

Ich rutsche zu ihm rüber und spähe hinaus. Mir bleibt die Luft weg. Das Festival ist, so scheint es, einen Monat vorverlegt worden. Wo immer ich hinsehe, sind Menschen. Alle möglichen Arten von Menschen. Junge Menschen. Alte Menschen. Menschen mit Rastalöckchen. Menschen mit Irokesenschnitt. Menschen in Designerklamotten und Menschen, die wie Gothics gekleidet sind. Hippies, Ravers, Stoners, Metalheads. Alle schwärmen mit klebrigen Plastikbechern voller Bier durch die Straßen.

»Donnerwetter«, rufe ich. »Das Festival ist . . . jetzt?«

Sobald ich die Frage ausgesprochen habe, wird mir klar, wie offenkundig die Antwort ist. Wir befinden uns mitten in einer Menschentraube.

Ich lasse mich in den ledernen Sitz zurücksinken. Na toll. Ich schaffe den weiten Weg bis nach England und es ist zufällig gerade der Tag im Jahr, an dem die Druiden, nach denen ich suche, sich vor aller Welt verstecken. Einmal mehr kann ich über meinen Mangel an Glück nur staunen.

»Wow. Das ist ein Hammer«, jammere ich.

»In der Tat«, pflichtet Magnus mir bei, wie immer nicht gerade der optimistischste aller Blutsgefährten.

»Was machen wir jetzt?«

»Nun, in diesem Durcheinander gibt es keine Möglichkeit, die Druiden zu finden«, sagt er und späht wieder aus dem Fenster.

»Sie haben sich alle verzogen. Wir werden einfach abwarten müssen.«

»Aber es ist Donnerstagabend. Und am Samstag verwandele ich mich in einen Vampir. Das lässt uns nicht viel Zeit.«

Magnus streckt die Hand aus und tätschelt mein Knie. Ich weiß, er will mich trösten, aber das geht total daneben. »Es ist eine absolute Katastrophe, Sun«, sagt er. »Es tut mir so leid.»

Ich blicke wieder aus dem Fenster und spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen und meine Wangen hinuntertropfen.

Von allen unglückseligen Missgeschicken muss dies das schlimmste sein. Meine einzige Chance auf Erlösung ist von einem gewaltigen Haufen englischer Raver Kids zunichte gemacht worden. Müssen die denn nicht in die Schule gehen? Haben sie kein eigenes Leben? Warum sind sie hier, entschlossen, meins zu ruinieren?

Ich versuche, mich mit einem Leben als Vampir abzufinden. So schlimm wird es schon nicht sein, oder? Ich meine, ich werde Reichtümer haben, die meine wildesten Fantasien übersteigen, und unvorstellbare Macht. Das wird Spaß machen, oder? Und he, wenn wir hier schon ehrlich sind, wird der Sonnenschein vollkommen überschätzt. Ebenso wie das College. Und das Heiraten und die Gründung einer Familie. Und ... Oh, was soll das? Ganz gleich, wie man die Sache betrachtet, ist das ein absoluter Hammer. Ich will kein Vampir sein. Es ist bestimmt für manche Leute eine gute Wahl. Aber für mich ist das einfach nichts.

Das Schluchzen kommt jetzt mit voller Wucht heraus. Es schüttelt mich förmlich. Schon bald weine ich so heftig, dass ich tatsächlich am ganzen Körper zittere. Während all dieser Zeit habe ich mich an die Hoffnung geklammert, dass sich der Prozess irgendwie umkehren ließe. Und jetzt, da ich weiß, dass ich verdammt bin, trifft mich die Ungeheuerlichkeit meiner Situation wie ein Amboss in einem Road-Runner-Cartoon.

Das nervt.

Das nervt voll.

Das nervt voll, total und unglaublich.

Plötzlich spüre ich Arme um meine Schultern, die mich aus dem dunklen Abgrund der Verzweiflung ziehen und mich warm und sicher festhalten. Ich drücke den Kopf an Magnus Schulter und lasse meinen Tränen einfach freien Lauf. Lasse ihn meinen Rücken streicheln, während ich mir die Seele aus dem Leib schluchze.

»Sch, sch«, besänftigt er mich. »Es wird alles wieder gut.

»Es wird nichts wieder gut«, weine ich. »Ich werde für alle Ewigkeit ein Vampir sein.«

»Nicht unbedingt«, flüstert er. »Wir können einen Weg finden. Oder warten, bis das Festival vorbei ist. Morgen wird hier gähnende Leere herrschen, was uns reichlich Zeit gibt, den Gral zu finden.«

Ich schniefe und wünschte, ich hätte ein Taschentuch, um mir die Nase zu putzen. Ich hasse es, eine Heulsuse zu sein. Ich löse mich aus Magnus' Umarmung, damit ich ihm in die Augen sehen kann. Er erwidert meinen Blick, ernst und besorgt.

»Glaubst du wirklich, wir haben eine Chance?«, frage ich und wische mir die Tränen mit dem Ärmel weg.

Er nickt langsam. »Das tue ich«, sagt er. »Und Sunny, ich möchte nicht negativ klingen, aber selbst wenn wir es nicht schaffen, wovon ich nicht ausgehe«, fügt er hinzu, wahrscheinlich als Reaktion auf mein niedergeschmettertes Gesicht, »aber im allerschlimmsten Fall...« Er umfasst mein Gesicht mit den Händen. Ich schnappe nach Luft. »Du sollst wissen, dass ich dich nicht im Stich lassen werde. Du wirst das nicht allein durchstehen müssen. Wenn du ein Vampir bleiben musst, verspreche ich dir jetzt, dass ich in jedem Sinne des Wortes dein Blutsgefährte sein werde.

Solange du mich brauchst, werde ich dich beschützen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich niemals verlassen.«

Dieses Geständnis, dieses Versprechen für alle Ewigkeit von dem schönen Geschöpf vor mir ist fast zu viel für mich. Mein Herz bricht und jubiliert gleichzeitig. Ich weiß nicht, ob ich mich übergeben oder die Arme um ihn schlingen soll.

»D... danke«, murmele ich. »Das bedeutet mir viel.«

Er antwortet nicht. Nun, zumindest nicht mit Worten. Er beugt sich einfach vor und küsst mich.