Der Zirkel - alias unterirdische Luxusvilla
Wir biegen auf den St.-Patricks-Friedhof ein und fahren zwischen zwei Statuen von toten Katholiken am Eingang hindurch und eine schmale, von Grabsteinen gesäumte Straße hinunter.
»Ein Treffen mit einem Vampir auf einem Friedhof kommt mir ziemlich abgeschmackt vor«, bemerke ich, während ich aus dem Fenster starre und versuche, mir die Grabsteine nicht allzu sehr unter die Haut gehen zu lassen.
Rayne zuckt die Achseln. »Wenn du meinen Blog gelesen hättest, würdest du wissen, warum, aber he, ich bin davon überzeugt, dass die Fanfiction absolut faszinierend war.«
»Würdest du bitte mit diesem >Wenn-du-meinen-Blog-gelesen-hättest< - Müll aufhören?«, flehe ich und verdrehe die Augen. »Ich meine, ehrlich, ich werde das Ding lesen.
Von Anfang bis Ende, versprochen. Aber ich hätte es wohl kaum zwischen dem Schauspielunterricht und unserem Trip zum Friedhof lesen können, oder?«
»Schön, schön.« Rayne dreht das Lenkrad und fährt an den Straßenrand. Dann würgt sie den Motor ab. »Wir sind sowieso da.«
Ich sehe mich um. Wir sind umringt von Grabsteinen, so weit das Auge reicht, was, wie ich vielleicht hinzufügen darf, unter gegebenen Umständen eine Spur beunruhigend ist.
»Wir sind da? Wo ist Magnus?«
Bong! Bong!
Als plötzlich jemand an mein Fenster klopft, fahre ich praktisch aus der Haut. Ich sehe, wie sich ein Kopf herunterbeugt und zwei Augen zu uns hereinspähen.
Wenn man vom Teufel spricht.
Ich kurbele das Fenster herunter. »Verdammt, Magnus«, knurre ich. »Ich hätte fast einen Herzinfarkt gekriegt.
Schleichst du dich oft so an?«
Er grinst und scheint keineswegs zerknirscht zu sein, dass er mich halb zu Tode erschreckt hat. »Wir Vampire verstehen uns recht gut darauf, unbemerkt zu kommen und zu gehen.«
Okay, fügen wir zu der Liste vampirischer Fähigkeiten noch übernatürliche Verstohlenheit hinzu. Das war wahrscheinlich sehr nützlich bei der Jagd auf Menschen, bevor sie diese Geschichte mit der Spenderblutbank ausgeknobelt haben. Wirklich, sie sollten als Attentäter bei der Regierung anheuern oder so was. Sich nach Afghanistan hineinschleichen und Bin Laden ausnuckeln.
Hm. Vielleicht haben sie das bereits getan und das ist der Grund, warum niemand den Typen aufspüren kann ...
»Ähm, bist du so weit oder möchtest du lieber noch ein Weilchen im Auto sitzen und Grimassen schneiden«, fragt Magnus honigsüß.
»Halt deine Reißzähne still, ja?« Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu, während ich die Autotür aufstoße, und empfinde eine leichte Befriedigung, als sie ihn am Schienbein trifft. (Obwohl es ihn wahrscheinlich gerade mal kitzelt, als Vampir und alles.)
Ich steige aus dem Wagen und drehe mich noch einmal zu Rayne um. »Kommst du mit?«
Sie runzelt die Stirn. »Ich bin nicht eingeladen.«
Was? Sie hat die Absicht, mich mit diesem irritierenden Blutsauger allein zu lassen? Lästige Zwillingsschwester hin oder her, ich werd die Sache auf gar keinen Fall allein durchziehen.
»Doch, bist du wohl«, sage ich. »Du bist so was von eingeladen Ich lade dich ein. Wenn's hilft, werde ich dir sogar eine Einladung drucken lassen.«
»Nein.« Dieser Einwurf kommt von dem oben erwähnten irritierenden Blutsauger, nicht von meiner armen, uneingeladenen Zwillingsschwester.
»Nein? Was soll das heißen, nein?«, sage ich und drehe mich, die Hände in die Hüften gestemmt, zu ihm um.
»Sunny, ich darf nicht mitkommen. Nur Vampire dürfen den heiligen Zirkel betreten.«
»Könnt ihr nicht mal eine Ausnahme machen? So eine Art Sonderdispens?« Ich setze meine schönste flehende Miene auf. Die, die mir an Abenden unter der Woche immer den Autoschlüssel einbringt, wenn meine Mom findet, dass ich eigentlich lernen sollte. »Bitte? Sie ist meine Zwillingsschwester. Und schließlich weiß sie viel mehr über Vampire als ich. Sie hat sogar einen Blog darüber.« Ich wende mich zu Rayne um und werfe ihr ein verstohlenes Lächeln zu. »Den ich so was von lesen werde, sobald ich nach Hause komme.«
»Nein.« Magnus schnauft laut. Als sei ich ein Dorn in seinem Fleisch und nicht umgekehrt. »Sie darf nicht mitkommen. Es gibt Regeln. Regeln, die schon seit Tausenden von Jahren gelten.«
»Scheißregeln«, murmele ich halbherzig. Ich weiß, dass ich verloren habe. Ich blicke zu Rayne hinüber, die ebenfalls leicht gekränkt und enttäuscht wirkt. Sie hat bestimmt gehofft, sich dieses Zirkel-Dingsbums mit ihrem vampirbesessenen Augen ansehen zu dürfen.
»Tut mir leid, Rayne«, sage ich und beuge mich über den Beifahrersitz. »Trotzdem, vielen Dank fürs Herbringen.«
»Soll ich auf dich warten?«
»Klar. ..«
»Nein.« Von Magnus natürlich. Er hat eine echte Vorliebe für dieses Wort, das kommt deutlich rüber. Er muss als Kleinkind der echte Brüller gewesen sein. »Ich weiß nicht, wie lange wir wegbleiben werden. Ich werde Sunshine nach Hause bringen, wenn wir fertig sind.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Okay, schön. Solange niemand von mir verlangt, dass ich mich in eine Fledermaus verwandle und nach Hause fliege.« Tatsächlich könnte das durchaus cool sein, aber das werde ich ihm gegenüber nicht zugeben.
»Ähm, nein. Das Mittel der Wahl wäre ein Jaguar XKR-Cabrio, falls Mylady sich damit abfinden könnten«, korrigiert er mich spöttisch.
Oh. »Ähm, ja. Ich schätze, das wäre okay«, sage ich, obwohl ich innerlich einen Indianertanz aufführe. Eine Fahrt in einem Jaguar-Cabrio? Wie cool ist das? Viel cooler als Fledermausflügel, IMO. Und um Längen besser als unser zerbeulter Käfer.
Solchermaßen aufgemuntert, verabschiede ich mich von meiner enttäuschten Schwester und folge Magnus in die Dunkelheit. Als wir über den mondbeschienenen Friedhof gehen, finde ich es zuerst ein bisschen unheimlich, aber dann wird mir klar, dass das einzige reale Monster hier bereits in meiner Mannschaft ist, daher dürfte ich also ziemlich sicher sein.
Wir kommen zu einer riesigen, kunstvollen Gruft in der Mitte des Friedhofs. Ich meine, dieses Ding ist groß genug, um hineinzugehen, und hat eine Tür und alles. Daneben wirkt der Rest des Friedhofs total winzig.
Ich beobachte Magnus, wie er vor der Gruft stehen bleibt und einen goldenen Schlüssel hervorholt, den er um den Hals trägt. Ich war vorher so sauer, dass ich ihn mir nicht genau angesehen hatte. Nicht dass mich das interessieren sollte, aber Loser hin oder her, er ist der reinste Augenschmaus. Heute Abend hat er sich für diesen totalen Euro-Look entschieden; er trägt eine lederne Jacke über einem schwarzen Armani-Rollkragenpullover der sich an seine perfekt geformte Brust schmiegt, und dazu eine arg gebeutelte Diesel-Jeans, die sich an, na ja, du weißt schon, an alles andere schmiegt. Sein glänzendes haselnussbraunes Haar hat er mit einem schwarzen Lederband zurück-gebunden, was ihm definitiv das Aussehen eines rebellischen Piraten verleiht.
Es ist wirklich ein Jammer, dass er der Fluch meiner Existenz ist und alles.
Magnus steckt den Schlüssel ins Schloss und die rostigen Angeln der schweren Marmortüren öffnen sich knarrend.
Wir treten in die Gruft und sofort überflutet der modrige Geruch meine Sinne. Ich fange an zu niesen.
Als ich das tue, sagt mein Vampirführer nicht Gesundheit und zuerst erwäge ich ernsthaft, ihn auf sein schlechtes Benehmen hinzuweisen, aber dann beschließe ich, es besser sein zu lassen.
Die Tür fällt hinter uns zu und einen Moment lang umhüllt uns tiefe Finsternis. Okay. Irgendwie schaurig. Ich stehe in pechschwarzer Dunkelheit in einer echten Gruft, nur mit einem Vampir zur Gesellschaft. Wenn du mir letzte Woche auf einen Stapel Bibeln geschworen hättest, dass ich mit alledem zurechtkommen würde, hätte ich dir nicht geglaubt.
Magnus tastet nach meiner Hand, und als er sie gefunden hat, führt er mich in die Dunkelheit hinein. Und ja, bedauerlicherweise muss ich zugeben, dass seine Berührung mir einen widerstrebenden Schauder über den Rücken jagt.
Herzlichen Dank, Körper. Fällst du deiner Besitzerin gern in den Rücken?
»Sei vorsichtig auf der Treppe«, sagt er, als wir hinabsteigen. Gehen wir in ein unterirdisches Geschoss? Es wird immer merkwürdiger und merkwürdiger, wie Alice im Wunderland sagen würde.
Wir steigen hinab. Stufe um Stufe um Stufe. Wie tief geht das runter? Es kommt mir so vor, als würde ich das Empire State Building runterlaufen oder so was. Die sollten hier wirklich Aufzüge einbauen lassen. Was ist, wenn sie einen Behinderten in einen Vampir verwandeln würden? Das schreit ja förmlich nach Gerichtsprozessen wegen Diskriminierung. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Magnus leise und sein heiserer britischer Akzent durchschneidet die Dunkelheit.
»Ja«, flüstere ich zurück. »Mir geht es gut.«
Okay, in Ordnung. Ich gebe es zu. Die Situation ist irgendwie intim und ich fühle mich irgendwie angeturnt.
Ich meine, ganz egal, wie nervig Magnus sein mag, er ist außerdem unbeschreiblich scharf. Und die Tatsache, dass mich ein unglaublich scharfer Typ an der Hand hält und mich blind durch die Dunkelheit führt, ist irgendwie sexy, auf eine sehr komische Art.
Bah! Ich kann nicht fassen, dass ich das gerade zugegeben habe! Wenn ich mit diesem Vampirunfug fertig bin, werde ich meinen Kopf mal ernsthaft untersuchen lassen.
Schließlich denke ich auf diese Art nicht an Magnus. So denke ich an Jake Wilder, mein Schulball-Date. Nur Jake Wilder. Nicht Magnus.
Definitiv nicht Magnus.
Nach einer halben Ewigkeit erreichen wir zu guter Letzt das Ende der endlosen Treppe und ich höre, wie Magnus auf irgendwelche Computerknöpfe drückt. Klingt wie ein Schlüsselcode oder so was. Dieses Vampir-Dingsbums ist echt gesichert.
Eine Tür gleitet lautlos auf und wir treten über die Schwelle.
Hinein in absoluten Luxus.
Als meine Augen sich an das fahle Licht gewöhnen und ich sehe in was wir da hineingeraten sind, keuche ich unwillkürlich auf. Es ist wie eine Villa. Eine Untergrundvilla. Mit Kathedralendecken, Böden aus Marmor und den elegantesten Möbeln, die ich je gesehen habe. Ich verstehe jetzt auch, warum sie hier unten Fort-Knox-mäßige Sicherheitsanlagen brauchen. Es ist der wahr gewordene Traum eines jeden Grabräubers.
Lara Croft wäre total aus dem Häuschen.
»Heiliger Bimbam, Batman«, flüstere ich.
Magnus grinst. »Beeindruckend, wie? Wir Vampire schätzen unsere kleinen kreatürlichen Annehmlichkeiten.«
Ich schaue mich in dem Raum um und registriere die antiken Samtsofas und goldverzierten Leuchter. Die Da-Vinci-Gemälde und die Kristalllüster. Es ist wie im Buckingham-Palast. Wenn nicht noch luxuriöser.
»Ich schätze, euresgleichen ist zumindest keine Belastung für das Sozialamt.«
»Wenn du Tausende von Jahren lebst, neigen deine Investitionen dazu, zu reifen und hübsche Gewinne abzuwerfen.«
»Offenkundig.« Rayne hat eindeutig keine Witze gemacht, als sie von Reichtümern sprach, größer, als du sie dir in deinen wildesten Träumen ausmalen kannst. Vielleicht ist diese Vampirgeschichte doch nicht so schlecht, wie ich gedacht habe. Erstens werfen sich einem lauter scharfe Typen an den Hals und dann hat man auch noch genug Geld, um jeden Schuh zu kaufen, den Marc Jacobs je gemacht hat.
Nicht schlecht. Zu schade, dass die Sache auch Nebenwirkungen hat wie diese ganze Bluttrinkerei und das Nicht-raus-in-die-Sonne-Gehen. Wenn das nicht wäre, würde ich die ganze Geschichte definitiv noch einmal überdenken.
»Komm«, unterbricht Magnus meine Überlegungen.
»Lucifent erwartet uns.«