80
Das neue Ich. Kraftstrotzend. Unabhängig. Wiedergeboren. Zurück im Leben. Zum Kampf gerüstet. Fester Händedruck. Gesellschaftliche Interaktion. Lernt andere Menschen kennen. Flirtet. Eine starke Frau. Weiß, was sie will.
Großer Gott, es war die reinste Strapaze. Und sterbenslangweilig. Soweit ich sehen konnte, war Lernen Wieder Zu Leben gleichbedeutend damit, daß ich mich von Daniel fernhalten oder zumindest die Zeit, die ich mit ihm verbrachte, deutlich einschränken mußte. Dabei fehlte er mir so furchtbar. Niemand war so lustig wie er. Aber es war zu meinem eigenen Besten, das konnte sogar ich sehen, und Spielregeln sind dazu da, daß man sich an sie hält. Immerhin waren die Auswirkungen des Entzugs nicht ganz so entsetzlich, wie ich befürchtet hatte, denn er rief mich nach wie vor täglich an. Außerdem wußte ich, daß ich ihn am folgenden Sonntag sehen würde, weil ich ihn an seinem Geburtstag zum Mittagessen in ein Restaurant eingeladen hatte.
Dieses Lernen Wieder Zu Leben war leichter gesagt als getan. Zu lange war ich nicht unter Menschen gewesen, und ich hatte niemanden, der sich um mich kümmerte. Einmal war ich nach Feierabend uneingeladen mitgegangen, als Jed und Meredia etwas trinken wollten. Das hatte sich als großer Fehler herausgestellt – die beiden hatten mich behandelt, als wäre ich unsichtbar.
Am nächsten Abend war ich mit Dennis ausgegangen, der mir einen ereignisreichen Abend versprochen hatte. Auch das hatte sich als Katastrophe erwiesen. Zuerst hatte er sich geweigert, in andere als in Schwulen-Kneipen zu gehen – und dann hatte ich den ganzen Abend mit dem verzweifelten Versuch verbracht, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, während er auf seinem Stuhl herumgerutscht war und über meine Schulter hinweg junge Männer in enganliegenden weißen T-Shirts beobachtet hatte. Ich hatte kaum ein Wort aus ihm herausbekommen. Als er sich dann doch dazu herabgelassen hatte, mit mir zu sprechen, hatte sich das Gespräch ausschließlich um Daniel gedreht. Das war äußerst verantwortungslos von Dennis – er förderte meine Sucht, statt mich von ihr zu entwöhnen.
Megan litt nach wie vor an ihrer jahreszeitlich bedingten Gemütsstörung, und als ich vorschlug, wir könnten gemeinsam ausgehen, uns betrinken und Kerle anquatschen, seufzte sie lediglich und sagte, sie sei zu müde.
Damit blieben nur noch Charlotte und Karen. Aber Mitbewohnerinnen kommen ehrlich gesagt nur in Frage, wenn alle Stricke reißen, denn mit denen kann man sich ja jederzeit betrinken.
»Fällt dir nichts Besseres ein, als ins Dog’s Bollix zu gehen, wo uns schottische Bauarbeiter Bier über die Klamotten schütten?« klagte ich. »Nicht, daß du glaubst, ich hätte was gegen schottische Bauarbeiter«, fügte ich rasch hinzu, als ich sah, wie sich Karens Gesicht verfinsterte.
»Überlaß das nur mir.« Geheimnisvoll klopfte Charlotte mit dem Finger auf ihren Nasenflügel. Mit der Fertigkeit eines Zauberers, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht, zauberte sie eine Party am Samstag abend hervor, die der Cousin des Kollegen eines Bruders des Freundes einer Mitbewohnerin von einer ihrer Kolleginnen gab, weil er schon ewig keine Frau aufgerissen hatte. Genau aus diesem Grund waren Charlotte, Karen und ich dort hoch willkommen.
Am Samstag abend verliefen die Vorbereitungen ganz wie in alten Zeiten. Charlotte und ich machten eine Flasche Wein auf und richteten uns gemeinsam in meinem Zimmer her. »Ob es da irgendwelche netten Jungs gibt?« sagte Charlotte, während sie sich mit leicht zitternder Hand bemühte, Wimperntusche aufzutragen.
»Ich frage mich, ob da überhaupt Jungs sein werden«, sagte ich zweifelnd. »Vor allem, wenn der Heini die Party nur gibt, damit er sich ’ne Tussi an Land ziehen kann.«
»Keine Sorge«, sagte Charlotte und machte eine unsichere Handbewegung. »Da müssen welche sein, und bestimmt ist der eine oder andere von denen nett.«
»Mir egal, solange sie nicht wie Gus sind«, sagte ich.
Karen kam herein und öffnete meinen Kleiderschrank.
»Soll das heißen, daß die Tage vorbei sind, an denen du betrunkene, mittellose Verrückte mit nach Hause gebracht hast, die unsere Tequila-Flaschen klauen?« fragte sie, während sie suchend einen meiner Kleiderbügel nach dem anderen beiseite schob.
»Ja.«
»Ach Scheiße!« rief Charlotte aus. »Gib mir mal jemand ’n Tempo, ich hab mir das ganze Gesicht beschmiert.«
»Und alles nur wegen der Sache mit deinem Vater?« fragte Karen, ohne auf Charlotte zu achten.
»Wer weiß? Vielleicht wäre ich eines Tages auch so über mittellose Musiker hinausgewachsen«, sagte ich.
»Das halte ich für unwahrscheinlich«, sagte Charlotte, während sie ein Papiertaschentuch beleckte und damit die Wimperntuschestreifen von ihren Wangenknochen wegtupfte. Sie war nicht ohne weiteres bereit, ihre Theorie aufzugeben. »Sei doch ehrlich, Lucy, du wirst auch nicht jünger. Sigmund Freud sagt...«
»Halt bloß die Klappe«, blaffte Karen sie an, »und lies wieder Enid Blyton. Lucy, wo ist deine Wildlederjacke? Ich würde sie heute abend gern anziehen.« Widerwillig gab ich sie ihr.
Irgendwann wurden wir fertig. »Lucy, du siehst wunderschön aus«, sagte Charlotte.
»Ach was.«
»Doch. Seh ich aus, als hätte ich graues Rouge aufgelegt?«
»Eigentlich nicht. Und du siehst großartig aus.«
Tatsächlich ließ sich an einigen Stellen noch undeutlich erkennen, wo sie sich die Wimperntusche ins Gesicht gerieben hatte, aber das Taxi war schon unterwegs, und die Zeit reichte nicht für ein neues Make-up. Ich konnte Charlotte immer noch ins Badezimmer schicken, wenn wir auf der Party waren.
»Karen, wir müssen Lucy heute abend unbedingt zusehen«, sagte sie. »Bestimmt schnappt sie sich den am besten aussehenden und reichsten Mann, der da ist, und zieht mit ihm los.«
»Bestimmt nicht.« Ich wollte Charlotte nicht enttäuschen. Meine Verwandlung konnte nicht so schlagartig und wunderbar sein, wie sie das erwartete. »Es gibt sowieso kaum Männer, mit denen man was Vernünftiges anfangen kann – wieso sollte ich da auf einmal den Traummann kennenlernen, der den Boden anbetet, über den ich gehe, nur, weil ich gemerkt hab, daß mein Vater säuft?«
»Du wirst schon sehen.« Sie ließ sich nicht von ihrer Meinung abbringen.
»Hör mal«, sagte Karen. »Wenn es da ’nen reichen und gutaussehenden Mann gibt, gehört der mir.«
Unausgesprochen hing der Name »Daniel« zwischen uns in der Luft. Dann sprach die furchtlose Karen ihn aus. »Weißt du noch, wie ich geglaubt hab, zwischen dir und Daniel wär was?« fragte sie mit drohendem Lachen. »Übrigens bin ich immer noch nicht überzeugt, daß du nicht doch hinter ihm her bist. Allerdings würde ich dir das nicht raten«, fuhr sie fort. Abschätzend ließ sie ihren blonden Blick über meine kleine und flachbrüstige Gestalt gleiten. Sogleich schämte ich mich und fühlte mich wertlos. »Dir ist ja hoffentlich klar, daß du nicht sein Typ bist, oder?«
Da er mir das selbst gesagt hatte, war es sozusagen amtlich. Die Erinnerung an den Abend, an dem er mich verschmäht hatte, hatte sich mir unauslöschlich ins Bewußtsein gebrannt.