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Und dann kam das dritte Mal.
So unbedarft Charlotte für gewöhnlich war, diesmal hatte ihr Instinkt sie nicht getrogen. Simon rief sie am Dienstag nicht im Büro an, was er sonst täglich tat, manchmal sogar zweimal.
Als sie ihn am Dienstag abend in seiner Wohnung anrief, war er nicht da, und sein im allgemeinen umgänglicher Mitbewohner gab sich maulfaul, als sie ihn fragte, wo Simon sein könnte. Er schien sich in seiner Haut nicht recht wohl zu fühlen.
»Ich hab ein sehr schlechtes Gefühl«, sagte Charlotte zu mir.
Sie rief Simon am Mittwoch im Büro an, aber er ging nicht an den Apparat. Statt dessen meldete sich eine Frau und erkundigte sich, mit wem sie spreche. Als Charlotte ihren Namen nannte, sagte die Frau: »Simon ist in einer Sitzung.«
Bei einem erneuten Anruf etwa eine Stunde später bekam sie dieselbe Antwort.
Daraufhin bat sie ihre Freundin Jennifer anzurufen, und mit einem Mal war Simon erreichbar. In dem Augenblick, in dem Simon »Hallo« sagte, gab Jennifer den Hörer an Charlotte weiter, und diese fragte: »Simon, was ist los? Gehst du mir aus dem Weg?«
Daraufhin lachte Simon nervös und sagte voll falscher Herzlichkeit: »Keineswegs, keineswegs!«
Charlotte sagte, in dem Augenblick sei ihr klar gewesen, daß etwas nicht stimmte, denn normalerweise hätte Simon das Wort ›keineswegs‹ nie und nimmer in den Mund genommen.
»Wir könnten uns doch zum Mittagessen treffen«, schlug Charlotte vor.
»Liebend gern«, sagte Simon. »Es ist aber leider völlig ausgeschlossen.«
»Warum redest du so?« fragte Charlotte.
»Wie?« fragte Simon.
»Wie einer von den blöden Säcken, die mit ’nem Handy durch die Gegend laufen«, sagte Charlotte.
(Das fand ich ziemlich lustig, weil ich mir Simon schon immer als einen von den blöden Säcken vorgestellt hatte, die mit einem Handy durch die Gegend laufen. Ich sagte es aber nicht, weil ich Charlotte nicht noch mehr aufregen wollte.)
»Keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Simon.
Charlotte seufzte. »Na schön, dann heute abend.«
»Ich fürchte, das geht nicht«, sagte Simon.
»Warum nicht?«
»Geschäfte, Charlotte, Geschäfte«, sagte er.
»Aber du hattest noch nie Geschäfte«, sagte sie.
»Es gibt für alles ein erstes Mal«, sagte Simon aalglatt.
»Und wann kann ich dich sehen?« fragte Charlotte.
»Das sieht schlecht aus, Charlie«, sagte Simon. »Überhaupt nicht.«
»Bis wann?« fragte sie.
»Du machst es uns nicht leicht, was?« fragte er leichthin.
»Wovon redest du?«
»Gott im Himmel, ich sage, daß ich dich nicht treffen kann.«
»Warum nicht?«
»Weil’s V-O-R-B-E-I ist, aus und vorbei.«
»Vorbei? Mit uns? Willst du sagen, mit uns ist es vorbei?« fragte sie.
»Bravo!« lachte er. »Endlich hast du es kapiert!«
»Und wann hättest du mir das gesagt?« fragte sie.
»Ich hab’s doch grade eben getan, oder etwa nicht?« sagte er. Es klang ganz sachlich.
»Aber nur, weil ich dich angerufen hab. Hättest du es mir von dir aus gesagt oder gewartet, bis ich es selbst rausgekriegt hätte?«
»Du hättest es schon früh genug gemerkt«, sagte er.
»Aber warum nur?« fragte Charlotte mit zitternder Stimme. »Magst du mich nicht mehr?«
»Ach, Charlotte, mach dich nicht zum Narren«, sagte er. »Es war schön, es hat uns beiden Spaß gemacht, und jetzt hab ich ’ne andere gefunden, mit der ich Spaß habe.«
»Und was ist mit mir?« fragte Charlotte. »Mit wem soll ich Spaß haben?«
»Das ich nicht mein Problem«, sagte Simon. »Du wirst schon jemand kennenlernen. Mit den Titten dauert das bestimmt nicht lange.«
»Ich will aber nicht mit irgendeinem Spaß haben«, flehte Charlotte, »sondern nur mit dir.«
»Pech!« sagte er munter. »Deine Zeit ist abgelaufen. Sei nicht egoistisch, Charlie. Gönn den anderen Mädchen auch was.«
»Aber ich dachte, du magst mich«, sagte sie.
»Du hättest es eben nicht so ernst nehmen dürfen«, antwortete er.
»Es ist also Schluß?« fragte sie unter Tränen.
»So ist es«, bestätigte er.
»Er war wie ein Fremder«, sagte Charlotte später zu mir. »Ich dachte, ich hätte ihn gekannt. Ich dachte, ich hätte ihm was bedeutet. Ich fasse es einfach nicht – wie konnte er mich so mir nichts dir nichts fallen lassen? Vor allem versteh ich nicht, warum!« sagte sie immer wieder. »Was hab ich falsch gemacht? Warum mag er mich nicht mehr? Bin ich etwa dicker geworden? Was sagst du, Lucy? Oder hab ich zu sehr übers Büro gejammert? Wüßte ich das doch nur!«
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Nichts ist so sonderbar wie Kerle«, seufzte sie.
Zumindest blieben ihr die Zwangsvorstellungen erspart, die uns kleinbusige verschmähte Frauen heimsuchen. In ihrem Mittelpunkt steht das mythische Wesen, das Frauen den Freund ausspannt, Das Weib Mit Den Größeren Brüsten, denn Charlotte war selbst Das Weib Mit Den Größeren Brüsten. Aber in jeder anderen Hinsicht zweifelte sie an sich.
Sie zwang Simon zu einem Treffen. Sie beschlich ihn mit einer Beharrlichkeit und Entschlossenheit, deren sie niemand für fähig gehalten hätte, der ihr rundes unschuldiges Gesicht sah. Sie wartete einige Tage lang bei Feierabend vor seinem Büro, bis er sich schließlich bereit erklärte, mit ihr ein Glas trinken zu gehen, in der Hoffnung, daß sie ihn dann in Ruhe ließe.
Aus einem Glas wurden mehrere, bis beide schließlich sehr betrunken waren. Darauf gingen sie in Simons Wohnung und dort miteinander ins Bett.
Am Morgen sagte Simon dann: »Das war sehr nett, Charlotte. Jetzt hör aber auf, vor meinem Büro rumzuhängen. Du machst es dir damit nur unnötig schwer.«
All das nahm sie ziemlich mit. So unerfahren war sie in Liebesdingen, daß sie annahm, sie würden ihre Beziehung fortsetzen, nur weil er mit ihr ins Bett gegangen war.
»Aber... aber«, sagte sie. »Was ist mit gestern abend? Bedeutet dir das ni...?«
»NEIN, Charlotte«, fiel ihr Simon ungeduldig ins Wort. »Es hat mir nichts bedeutet. ’ne Nummer ist ’ne Nummer. Jetzt zieh dich an, laß dir auf dem Personalbüro deine Papiere geben und verschwinde.«
»Und das Schlimmste ist, Lucy«, klagte sie anschließend, »ich weiß immer noch nicht, warum er mit mir Schluß gemacht hat.«
»Warum denn nicht?« fragte ich.
»Ich hab vergessen, ihn zu fragen.«
»Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?« fragte ich überrascht. »Ach, sag’s mir lieber nicht, ich kann es mir denken.«
»Ich bin zu jung, um eine alte Jungfer zu sein«, klagte Charlotte.
»Dazu ist man nie zu jung«, belehrte ich sie voll Lebensweisheit.