23

Gus schlief noch immer und sah bezaubernd aus. Aber Daniels Worte hatten einen kleinen Stachel in mir hinterlassen. Es stimmte – meiner Mutter würde Gus nicht gefallen. Im Gegenteil. Allmählich begann zu verblassen, was an dem Abend so schön gewesen war. Die Begabung meiner Mutter, allem Glück unfehlbar den Glanz zu nehmen, war erstaunlich.

Soweit ich mich zurückerinnern konnte, war sie schon immer so gewesen. Wenn mein Vater früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, beschwingt nach Hause gekommen war – sei es, weil er eine Anstellung gefunden oder beim Pferderennen gewonnen hatte oder aus welchem anderen Grund auch immer –, stets hatte sie es fertiggebracht, Feierstimmung im Keim zu ersticken. Dad war breit lächelnd in die Küche gekommen, eine in eine braune Papiertüte gewickelte Flasche unter dem Arm und die Manteltaschen voller Süßigkeiten für uns. Statt erfreut zu fragen: »Was feiern wir, Jamsie?«, hatte sie grundsätzlich alles verdorben, indem sie mit saurer Miene so furchtbare Dinge gesagt hatte wie: »Oh Jamsie, nicht schon wieder« oder »Oh Jamsie, du hast es doch versprochen.«

Schon als ich sechs oder acht war, hatte das fürchterlich auf mich gewirkt. Ihr Undank hatte mich entsetzt. Mir lag so sehr daran, Dad zu zeigen, daß sie sich meiner Ansicht nach unmöglich aufführte und ich auf seiner Seite stand. Und nicht nur, weil es bei uns selten Süßigkeiten gab. Aus vollem Herzen stimmte ich Dad zu, wenn er sagte: »Lucy, deine Mutter ist eine richtige alte Spielverderberin.«

Mein Job war es dann, dafür zu sorgen, daß die Stimmung nicht ins Bodenlose sank. Wenn sich Dad also hinsetzte, um sich ein Glas einzugießen, setzte ich mich dazu, leistete ihm Gesellschaft und zeigte mich solidarisch mit ihm, damit er nicht allein feiern mußte, was es zu feiern gab.

Ihm zuzusehen war angenehm. Sein Trinken hatte einen Rhythmus, der mich beruhigte.

Meine Mutter äußerte ihre Mißbilligung, indem sie demonstrativ abwusch, aufwischte und laut in der Küche herumklapperte. Von Zeit zu Zeit versuchte Dad sie aufzumuntern, indem er sie aufforderte: »Iß deinen Knusperriegel, Connie.« Vermutlich hätte er ihr am liebsten gesagt, sie solle doch nicht alles so verbissen sehen.

Nach einer Weile holte er dann gewöhnlich den Plattenspieler hervor und sang lauthals bei Grüne Wiesen, Ach wär’ ich doch in Carrickfergus und anderen irischen Liedern mit. Er spielte sie immer wieder und sagte zwischendurch zu meiner Mutter: »Nun iß doch schon deinen blöden Knusperriegel!«

Noch eine Weile später fing er dann gewöhnlich an zu weinen, sang aber mit tränenerstickter Stimme weiter. Vielleicht gingen die Tränen ja auch auf das Konto des Brandys, den er trank.

Ich wußte, daß es ihm das Herz brach, nicht in Carrickfergus zu sein – oft war ich um seinetwillen so traurig, daß ich mitweinte. Meine Mutter aber sagte dann einfach: »Gott im Himmel. Der blöde Kerl weiß doch nicht mal, wo Carrickfergus liegt – wie kann er da wünschen, er wär’ da?«

Ich konnte nicht verstehen, warum sie so unausstehlich zu ihm war – oder so herzlos.

Er sagte dann mit unsicherer Stimme: »Es ist ein Gemütszustand, meine Liebe, ein Gemütszustand.« Ich war nicht sicher, was er damit meinte.

Wenn er dann aber fortfuhr: »Woher sollst du das auch wissen, du hast ja kein Gemüt«, war mir klar, was er damit meinte. Ich fing seinen Blick auf, und verschwörerisch kicherten wir in uns hinein.

Solche Abende verliefen stets nach demselben Muster: der nicht gegessene Knusperriegel meiner Mutter, das rhythmische Trinken, das laute Herumklappern in der Küche, das Singen und Weinen. Wenn dann die Flasche fast leer war, pflegte meine Mutter zu sagen: »Und jetzt aufgepaßt. Gleich fängt die Vorstellung an.«

Dad stand dann auf. Manchmal konnte er nicht mehr gerade gehen, das heißt, meistens konnte er nicht mehr gerade gehen.

»Ich gehe zurück nach Irland«, sagte meine Mutter dann mit gelangweilter Stimme.

»Ich gehe zurück nach Irland«, grölte Dad lallend.

»Wenn ich gleich geh, krieg ich noch den Zug zur Postfähre«, sagte meine Mutter, immer noch mit ihrer gelangweilter Stimme, wobei sie sich an den Spülstein lehnte.

»Wenn ich gleich geh, krieg ich noch die Fähre zum Postzug«, grölte Dad. Manchmal überkreuzte sich dabei der Blick seiner Augen, so, wie wenn jemand auf seine Nasenspitze schielt.

»Ich war ein Dummkopf, daß ich weggegangen bin«, sagte Mum träge und betrachtete dabei ihre Fingernägel. Mir war ihre völlige Teilnahmslosigkeit unverständlich.

»Ich war ein Blödmann, daß ich weggegangen bin«, grölte Dad.

»So, so, diesmal also ist es ›Blödmann‹?« mochte Mum dann sagen. »Ich fand ›Dummkopf‹ eigentlich ganz passend, aber ’n bißchen Abwechslung kann nicht schaden.«

Der arme Dad stand inzwischen leicht schwankend und vornübergebeugt da, womit er ein bißchen einem Stier ähnelte und blickte zu Mum hin, vermutlich ohne sie zu sehen. Wahrscheinlich sah er seine Nasenspitze.

»Ich pack jetzt meine Sachen«, sagte Mum wie eine Souffleuse.

»Ich sack jetzt meine Packen«, lallte Dad und schleppte sich zur Küchentür.

Obwohl das immer wieder so ablief und er nie weiter als bis zur Haustür kam, war ich jedesmal überzeugt, daß er wirklich weg wollte und flehte ihn an: »Bitte geh nicht, Dad.«

»Ich bleib nicht unter einem Dach mit einer Spielverderberin, die nicht mal den Knusperriegel essen will, den ich ihr gekauft hab«, sagte er gewöhnlich.

»Iß ihn doch«, bat ich Mum, während ich zu verhindern versuchte, daß Dad die Küche verließ.

»Aus dem Weg, Lucy, oder ich neh für stichts... äh, ich steh für nichts mehr grade.« Darauf fiel er mit dem Gesicht voraus in den Flur.

Als nächstes hörte man die Spiegelkommode zu Boden krachen, und Mum zischte: »Wenn der Halunke mir die ruiniert hat...«

»Mum, halt ihn auf«, flehte ich verzweifelt.

»Er kommt sowieso höchstens bis zum Gartentor«, sagte sie verbittert, »es ist jammerschade.« Obwohl ich ihr das nie glaubte, behielt sie fast jedesmal recht.

Einmal schaffte er es die Straße entlang bis zum Haus der O’Hanlaoins, wobei er eine Plastiktüte mit vier Scheiben Brot und der Flasche mit dem restlichen Brandy unter den Arm geklemmt hielt: sein Proviant für die Reise heim nach Monaghan. Eine Weile blieb er vor dem Haus der O’Hanlaoins stehen und brüllte ein paar Unverschämtheiten zu ihnen hinüber. Sinngemäß ging es darum, daß sie unehrenhafte Leute seien und Seamus O’Hanlaoin Irland verlassen hatte, um sich vor dem Gefängnis zu drücken. »Verjagt hat man euch von da«, brüllte Dad.

Mum und Chris mußten ihn hinterher zurückholen. Er kam schweigend mit. Mum führte ihn an der Hand an den mißbilligenden Blicken aller Nachbarn vorbei, die mit verschränkten Armen vor ihren Häusern standen, über ihre niedrigen Gartentore zu uns hersahen und wortlos das Schauspiel genossen. An unserem Haus angekommen, drehte sich Mum um und schrie ihnen zu: »Ihr könnt jetzt wieder reingehen. Der Zirkus ist vorbei.« Ich war überrascht, als ich sah, daß sie weinte.

Tränen der Scham vermutlich. Sicher schämte sie sich, ihn so behandelt und ihm die gute Laune verdorben zu haben, indem sie den eigens für sie gekauften Knusperriegel nicht gegessen und ihm klargemacht hatte, von ihr aus könne er ruhig aus ihrem Leben verschwinden. Sich für all das zu schämen hatte sie wirklich reichlich Grund.

Lucy Sullivan wird heiraten
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