13

Es war bitter kalt, und als ich aus dem Bus stieg, hatte es angefangen zu regnen. Obwohl ich stumm vor Elend war und mich nach der Geborgenheit meiner Wohnung sehnte, durchstreifte ich noch eine Weile die Ladenzeile neben der Bushaltestelle, um Vorräte für die Tage meiner Abkapselung von der Welt anzulegen.

Als erstes kaufte ich am Kiosk vier Tafeln Schokolade und eine Illustrierte, wobei ich es schaffte, mit dem Inhaber kein einziges Wort zu wechseln. (Einer der Vorzüge des Lebens in Londons Mitte.)

Dann erstand ich im Laden nebenan mit schlechtem Gewissen eine Flasche Weißwein. Ich hatte ein unbehagliches Gefühl  – so als wüßte der Mann, daß ich sie ganz allein auszutrinken beabsichtigte. Allerdings ist mir nicht klar, warum ich mir darüber Sorgen machte, denn er hätte sich wahrscheinlich einen Dreck darum geschert, wenn mir jemand aus der Schlange ein Messer in den Rücken gerammt hätte, solange er sein Geld bekam. Aber es fiel mir schwer, meine angeborene Kleinstadtmentalität abzuschütteln.

Als nächstes ging ich in die Imbißbude, wo ich es fertigbrachte, eine Tüte Pommes zu kaufen, ohne dabei von jemandem angesprochen zu werden, außer als es um die leicht abzuhandelnde Frage ging, ob ich Essig oder Salz dazu wollte.

Dann marschierte ich in die Videothek, wo ich mir rasch und mit minimalem Gesprächsaufwand etwas Leichtes zur Zerstreuung besorgen wollte. Doch es sollte nicht sein.

»Lucy!« rief Adrian, der Mann hinter der Ladentheke. Es klang so, als wäre er ganz entzückt und begeistert, mich zu sehen.

Warum war ich auch dort hingegangen? Ich hätte mich in den Hintern beißen können, weil ich nicht daran gedacht hatte, daß Adrian auf jeden Fall mit mir würde reden wollen, denn seine Kunden waren sein ganzes Privatleben.

»Hallo, Adrian«, lächelte ich spröde, in der Hoffnung, das werde ihn entmutigen.

»Großartig, dich zu sehen«, brüllte er.

Mir wäre es lieber gewesen, er hätte das gelassen. Bestimmt sahen die Leute im Laden zu mir her. Ich versuchte, mich in meinem unauffälligen braunen Mantel kleiner zu machen.

Rasch – sehr viel rascher, als ich eigentlich gewollt hatte – nahm ich eine Kassette aus dem Regal, und ging damit zur Kasse. Adrian grinste breit.

Wäre ich nicht so brummig gewesen, hätte ich zugeben müssen, daß er wirklich süß war. Nur ein bißchen zu begeistert.

»Wo hast du bloß gesteckt?« fragte er mit lauter Stimme. »Ich hab dich schon seit... seit Tagen nicht gesehen!«

Die anderen Kunden hielten beim Durchstöbern der Regale inne und sahen zu uns herüber. Sie warteten auf meine Antwort. So jedenfalls kam es mir vor, ich war nah am Verfolgungswahn.

Ich war knallrot vor Verlegenheit.

»Du hast dich also ins Leben gestürzt?« fragte Adrian.

»Hab ich«, murmelte ich. (Adrian, hör bitte auf.)

»Und was ist passiert?« fragte er.

»Es hat nicht geklappt«, lächelte ich wehmütig. Er lachte schallend. »Weißt du, daß du irrsinnig komisch bist?«

Ich antwortete mit einem gezwungenen Lächeln. Ich spürte es förmlich im Nacken, wie sich die Leute im Laden nach mir umwandten, mich ansahen und dachten: Allen Ernstes? Dieses nichtssagende mickrige Geschöpf? Die sieht mir aber gar nicht irrsinnig komisch aus.

»Jedenfalls ist es schön, dich mal wieder zu sehen«, tönte Adrian. »Und was ziehst du dir heute abend rein?« Er betrachtete die Hülle des Videos, das ich ausgesucht hatte. »Na hör mal!« sagte er. Sein breites Grinsen wich einem Ausdruck von Abscheu. Fast hätte er mir die Kassette an den Kopf geworfen. »Doch wohl nicht Vier Hochzeiten und ein Todesfall?«

»Sicher, Vier Hochzeiten und ein Todesfall«, beharrte ich und schob ihm die Kassette über die Theke wieder hin.

»Aber Lucy«, flehte er und schob sie mit Bestimmtheit zurück, »das ist rührseliger Kinderkram. Ich weiß es! Wie wär’s mit Cinema Paradiso?«

»Hab ich schon gesehen«, sagte ich. »Auf deine Empfehlung. Das war an dem Abend, als du mir Schlaflos in Seattle nicht geben wolltest.«

»Na siehst du«, sagte er triumphierend. Und was ist mit Cinema Paradiso – Die ungekürzte Fassung?

»Auch schon.«

zum Florette«, fuhr er hoffnungsvoll fort.

»Schon gesehen«, sagte ich.

»Babettes Fest?«

»Kenn ich schon.«

»Und Cyrano de Bergerac?«

»Welche Fassung?«

»Jede beliebige.«

»Hab ich alle schon gesehen.«

»La Dolce Vita?«

»Auch.«

»Irgendwas von Fassbinder?«

»Nein, Adrian« sagte ich, die Verzweiflung niederkämpfend und darum bemüht, entschlossen zu klingen. »Du läßt mich nie mitnehmen, was ich haben möchte. Ich hab alles gesehen, was du an Kultfilmen und ausländischen Filmen da hast. Laß mich bitte was Lustiges sehen, wenigstens dies eine Mal. Und zwar auf englisch«, fügte ich hastig hinzu, bevor er versuchte, etwas Lustiges auf schwedisch für mich zu finden.

»Wie du willst«, sagte er mit resignierendem Seufzen. »Also Vier Hochzeiten und ein Todesfall. Was gibt’s bei dir heute abend eigentlich Schönes zu essen?«

»Na ja«, sagte ich, durch den plötzlichen Themenwechsel aus dem Gleis geworfen.

»Zeig mal, was du hast«, forderte er mich auf. Zögernd stellte ich meine Tüten auf die Theke – das übliche Ritual zwischen Adrian und mir. Vor langer Zeit hatte er mir einmal anvertraut, daß ihn seine Arbeit stark isoliere, er zum Beispiel nie zur selben Zeit esse wie die anderen. Wenn er mit Leuten zu tun habe, die morgens zur Arbeit gingen und abends heimkehrten, wenn er wisse, was sie abends taten und vor allem, was sie aßen, habe er das Gefühl, nach wie vor der wirklichen Welt anzugehören.

Normalerweise hatte ich viel Verständnis für ihn, aber an jenem Abend wollte ich mich von der Außenwelt abschotten, mit der Schokolade und dem Wein allein sein und im vollständigen Rückzug schwelgen.

Außerdem schämte ich mich für das, was ich gekauft hatte: lauter Dinge mit bergeweise Zucker und gesättigten Fettsäuren, aber so gut wie keinem Eiweiß und nicht der Spur von Ballaststoffen.

»Aha«, sagte er, während er den Inhalt meiner Tüten inspizierte. »Pommes, Wein, Schokolade – die schmilzt dir aber, wenn sie lange neben den Pommes liegt. Bist du irgendwie deprimiert?«

»Schon möglich«, sagte ich, wobei ich aus Höflichkeit zu lächeln versuchte. Dabei sehnte ich mich mit jeder Faser danach, daheim zu sein und die Tür hinter mir zumachen zu können.

»Du Arme«, sagte er mitfühlend.

Wieder versuchte ich zu lächeln, aber es gelang mir nicht. Einen Augenblick lang war ich versucht, ihm das ganze Fiasko mit meiner Heiraterei zu erzählen, hatte aber nicht die Kraft dazu.

Adrian war wirklich ein lieber Kerl, und obendrein richtig süß, wie mir undeutlich klar wurde. Er hatte es wohl ein bißchen auf mich abgesehen.

Vielleicht sollte ich ihm eine Chance geben, überlegte ich halbherzig. Möglicherweise hatte Mrs. Nolan das gemeint, als sie sagte, ich würde meinen künftigen Ehemann anfangs nicht erkennen, oder wie auch immer ihre Worte gewesen waren.

Mit leichtem Ärger begriff ich, daß sogar ich ihr allmählich glaubte. Ich war also keine Spur besser als Megan und Meredia.

Ärgerlich befahl ich mir, mich zusammenzureißen, und sagte mir, daß ich niemanden heiraten würde, schon gar nicht Adrian. Es würde nie gut gehen.

Erstens war da die finanzielle Seite. Ich wußte nicht, wieviel er verdiente, aber besonders üppig konnten seine Einnahmen nicht sein – auf keinen Fall viel mehr als mein Hungerlohn. Man konnte mir bestimmt nicht vorwerfen, daß ich hinter dem Geld her war, aber wie sollten wir – überlegte ich – mit unserem gemeinsamen Einkommen eine Familie ernähren? Und was wäre mit unseren Kindern? Adrian schien an sieben Tagen die Woche zwanzig Stunden täglich zu arbeiten, so daß sie ihren Vater nie zu sehen bekommen würden.

Vermutlich würde ich ihn nicht einmal so lange zu Gesicht bekommen, daß er mich auch nur schwängern konnte. Na ja.

Adrian hatte meine Kundennummer eingetippt, die er auswendig wußte und erklärte mir, daß ich für eine Kassette nachzahlen müßte, die vor zehn Tagen entliehen und nicht zurückgegeben worden war.

»Tatsächlich?« fragte ich und erbleichte, als ich daran dachte, wieviel ich ihm schuldete und daß ich möglicherweise gar nicht wieder aus dem Laden herauskäme.

»Ja«, sagte er mit besorgtem Blick. »Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, Lucy.«

Das stimmte. Ich tat nie etwas Unrechtes, denn ich hatte viel zu viel Angst, jemanden damit zu ärgern oder dafür getadelt zu werden.

»Großer Gott«, sagte ich beunruhigt. »Ich kann mich nicht mal erinnern, in den letzten vierzehn Tagen was geholt zu haben. Was ist es denn?«

»Meine Lieder – meine Träume.«

»Ach so«, sagte ich bekümmert, »das hab ich nicht geholt. Das war bestimmt Charlotte mit meiner Karte.«

Mir rutschte das Herz in die Hose. Das hieß nämlich, daß ich Charlotte Vorwürfe machen mußte, weil sie jemanden getäuscht hatte. Außerdem würde ich die Strafgebühr aus ihr herausbekommen müssen. Zähneziehen dürfte einfacher sein.

»Aber warum, ausgerechnet Meine Lieder – meine Träume?« wollte Adrian wissen.

»Ihr Lieblingsfilm.«

»Tatsächlich? Tickt die nicht ganz richtig?«

»Ach was«, nahm ich sie in Schutz. »Sie ist ganz bezaubernd.«

»Na hör mal«, sagte Adrian abschätzig. »Die muß ziemlich dämlich sein.«

»Nein«, beharrte ich, »nur ein bißchen jung.« Und vielleicht eine Spur dämlich, dachte ich. Aber das brauchte ich Adrian nicht auf die Nase zu binden.

»Wenn sie älter als acht ist, fällt sie nicht mehr unter ›ein bißchen jung‹,« schnaubte Adrian. »Wie alt ist sie?«

»Dreiundzwanzig«, murmelte ich.

»Alt genug, um es besser zu wissen«, befand er. »Bestimmt hat sie ’ne rosa bezogene Steppdecke und so alberne Pantoffeln mit Figuren drauf«, fügte er hinzu, wobei er seinen Mund vor Abscheu verzog. »Außerdem mag sie Kinder und Tiere und steht sonntags früh auf, um im Fernsehen Das kleine Haus in der Prärie nicht zu verpassen.«

Wenn er geahnt hätte, wie nahe er der Wahrheit war!

»Man kann eine Menge über Leute sagen, wenn man sich ansieht, was für Videos sie sich aussuchen«, erklärte er. »Wieso läuft das überhaupt auf deine Karte?«

»Weil du ihre eingezogen hast. Weißt du das nicht mehr?«

»Ist das etwa die Blonde, die Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge mit nach Spanien genommen hatte?« fragte Adrian, und seine Stimme bekam einen beunruhigten Unterton. Entsetzt begriff er, daß er eins seiner kostbaren Videos der widerwärtigen jungen Frau anvertraut hatte, die einen seiner Schätze quer durch Europa geschleppt und sich nach der Rückkehr geweigert hatte, die Strafe zu zahlen. Ihm dämmerte, daß sie es irgendwie geschafft hatte, die von ihm verhängte Sanktion zu unterlaufen.

»Ja.«

»Ich verstehe gar nicht, wieso ich die nicht erkannt haben soll«, sagte er. Er wirkte verstört.

»Schon gut, schon gut«, sagte ich, und wollte ihn beruhigen, damit ich nach Hause gehen konnte. »Ich bring’s dir zurück, und ich zahl auch die Strafe.«

Ich hätte mich bereit erklärt, was auch immer zu bezahlen, nur um endlich gehen zu können.

»Nein«, sagte er, »bring’s einfach wieder.« Es klang wie im Fernsehen der tränenreiche Appell einer Mutter an die Entführer ihres Kindes.

»Bring’s einfach wieder«, wiederholte er. »Mehr verlang ich nicht.«

Ich ging. Ich war erschöpft. So viel zu meinem Wunsch, mit niemandem zu reden.

Auf keinen Fall würde ich an dem Abend mit irgend jemandem mehr ein Wort wechseln, beschloß ich. Ich gelobte mir zu schweigen, doch schien es mir eher, als legte sich das Schweigen über mich.

Lucy Sullivan wird heiraten
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