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Die Wut, die ich an dem Abend empfand, an dem ich mit Gus ausgegangen war, hatte mich aus dem Haus meines Vaters getrieben, ohne daß ich besonders darunter gelitten oder eine übermäßig intensive Gewissenserforschung betrieben hätte. Ich zog wieder bei Karen und Charlotte ein und wartete darauf, erneut mein gewohntes Leben aufzunehmen.
Ich weiß nicht, was mich hatte annehmen lassen, ich würde so leicht davonkommen. Es dauerte nicht einmal einen Tag, bis mich der gedungene Mörder Schuldgefühl mitsamt seinen Spießgesellen aufgespürt hatte. Sie bearbeiteten mich gründlich und nahmen mich jeden Tag erneut in die Mangel, bis man mich fast nicht wiedererkennen konnte, so hatten mich Kummer, Wut und Scham zugerichtet.
Es kam mir vor, als wäre mein Vater gestorben. In gewisser Hinsicht stimmte das – der Mann, den ich für meinen Vater gehalten hatte, existierte nicht mehr. Außer in meiner Vorstellung hatte es ihn nie gegeben. Aber ich konnte nicht um ihn trauern, weil er noch lebte. Schlimmer noch, er lebte, und ich hatte mich entschlossen, ihn zu verlassen. Damit hatte ich auf mein Recht verzichtet, ihn zu betrauern.
Daniel verhielt sich einzigartig. Er hatte gesagt, ich solle mir um nichts Sorgen machen, und erklärt, er werde die Dinge regeln. Das aber konnte ich nicht zulassen. Es ging um meine Angehörigen und meine Schwierigkeiten, und ich mußte selbst damit fertig werden. Als allererstes brachte ich Chris und Peter dazu, nicht länger den Kopf in den Sand zu stecken. Zur Ehre der beiden faulen Kerle muß ich sagen, daß sie versprachen, sich gemeinsam mit mir um Dad zu kümmern.
Daniel hatte vorgeschlagen, wir sollten Verbindung mit den verschiedenen sozialen Diensten aufnehmen. Früher wäre ich überzeugt gewesen, meinem Vater keine größere Schande bereiten zu können, aber darüber war ich inzwischen hinweg.
Also rief ich eine ganze Reihe sozialer Hilfsdienste an. Beim ersten teilte man mir mit, ich müßte einen anderen anrufen, und dort erfuhr ich, zuständig sei der, den ich zuerst angerufen hatte. Als ich dort erneut anrief, hieß es, die Vorschriften hätten sich geändert und deshalb seien die Leute beim zweiten Dienst zuständig.
Ich brachte etwa eine Million Stunden der Zeit meines Arbeitgebers am Telefon zu und hörte immer wieder den Satz »Dafür sind wir nicht zuständig«.
Schließlich erklärte man sich bereit, den Fall als vorrangig einzustufen, weil mein Vater eine Gefahr für sich selbst und andere bedeutete und wies ihm eine Sozialarbeiterin und eine Haushaltshilfe zu. Ich fühlte mich elend.
»Ihm geht es gut«, tröstete mich Daniel. »Man kümmert sich um ihn.«
»Aber nicht ich.« Das Gefühl, versagt zu haben, zerfleischte mich.
»Das ist auch nicht deine Aufgabe«, bemerkte er freundlich.
»Schon. Aber...« sagte ich kläglich.
Es war Januar. Alle waren pleite, und alle waren deprimiert. Die Leute gingen nicht viel aus, und ich überhaupt nicht. Außer mit Daniel.
Ständig mußte ich an meinen Vater denken und versuchte vor mir selbst zu rechtfertigen, was ich getan hatte.
Es war zum Schluß auf die Entscheidung hinausgelaufen ›er oder ich‹, fand ich. Einer von uns beiden konnte mich haben, aber es gab nicht genug von mir, als daß ich mich zwischen zweien hätte aufteilen können. So entschied ich mich für mich selbst.
Es war mir unangenehm, auf Kosten eines anderen zu überleben. Dabei war kein Platz für edle Empfindungen wie Liebe, Ehrgefühl oder Anteilnahme am Los des Mitmenschen – in diesem Fall Dad – gewesen. Es ging um mich, um mich allein.
Ich hatte mich immer für umgänglich gehalten, für freundlich, großzügig und selbstlos. Entsetzt erkannte ich, daß Güte und Großzügigkeit nur ein hauchdünner Firnis sind, wenn es hart auf hart kommt. Mir wurde klar, daß auch ich nicht anders war als andere Menschen: ein zähnefletschendes Raubtier.
Ich konnte mich nicht besonders ausstehen – allerdings war das nicht gerade neu.
Meredia, Jed und Megan machten sich Sorgen um meinen Geisteszustand, oder besser gesagt, meine Geisteszustände. Meine Stimmung wechselte täglich. Sie wollten unbedingt alles darüber wissen und boten mir ihren Rat und ihre Ansichten dazu an.
Wie gesagt, es war Januar, und niemand ging besonders viel aus.
»Was ist es heute?« riefen sie im Chor, als ich ins Büro kam.
»Ich bin wütend, weil ich als kleines Mädchen keinen richtigen Vater hatte.«
Oder: »Ich bin traurig. Es kommt mir vor, als wäre der Mann gestorben, den ich geliebt und für meinen Vater gehalten habe.«
Oder: »Ich hab das Gefühl, versagt zu haben. Ich hätte genug Kraft aufbringen müssen, mich um ihn zu kümmern.«
Oder: »Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn verlassen habe.«
Oder: »Ich bin neidisch auf Leute, die eine normale Kindheit hatten.«
Oder: »Ich bin traurig...«
»Was, schon wieder?« fragte Meredia. »Das warst du doch erst vor ein paar Tagen.«
»Weiß ich«, sagte ich. »Aber diesmal ist es was anderes. Ich trauere um mich selbst.«
Wir führten allerlei hochgestochene metaphysische Gespräche. Ich lieferte den Anlaß für viele Unterhaltungen, in denen es um das Überleben in Extremsituationen ging.
»Wißt ihr noch die Jungen bei dem Flugzeugabsturz in den Anden?« fragte ich.
»Du meinst die, die überlebt haben, weil sie sich von ihren Mitpassagieren ernährt haben?« fragte Meredia.
»Und die dann zu Hause von den anderen in ihrer Stadt geschnitten wurden, weil sie ihre Nachbarn aufgefressen hatten? « fragte Jed. In unserem Büro wurde mit der Lektüre von Revolverblättern nicht geknausert.
»Genau die«, sagte ich. »Was meint ihr: Ist es besser, mit einem Rest Ehrgefühl zu sterben oder sich beim Kampf ums Überleben die Hände so richtig schmutzig zu machen?«
Stundenlang wogte die Diskussion hin und her, wobei wir bedeutsame Grundfragen der menschlichen Moral abhandelten.
»Wie Menschenfleisch wohl schmecken mag?« fragte Jed. »Ich hab mal gehört, jemand soll gesagt haben, es wär so’n bißchen wie Huhn.«
»Brust oder Keule?« fragte Meredia. »Wenn es wie Hühnerbrust schmeckt, würde mich das nicht weiter stören, aber wenn es wie Hühnerkeule schmeckt, würde ich keinen Bissen runterkriegen.«
»Ich auch nicht«, stimmte ich zu. »Außer mit Grillsoße.«
»Ob die was zum Drauftun hatten? Mayonnaise, Ketchup oder so?« überlegte Jed laut.
»Hat der Pilot wohl anders geschmeckt als die Passagiere?« fragte ich.
»Höchstwahrscheinlich«, nickte Meredia wissend.
»Meinst du, die haben das Fleisch gekocht oder roh gegessen?« fragte Megan.
»Vermutlich roh«, sagte ich.
»Gott, mir kommt es gleich hoch«, sagte Megan.
»Tatsächlich?« Wir sahen sie überrascht an. Sie war normalerweise nicht besonders zimperlich.
»Aber du warst doch gestern gar nicht saufen«, sagte ich verwirrt. Sie sah tatsächlich käsig aus. Das konnte aber auch daran liegen, daß ihre Sonnenbräune allmählich verblaßte.
Sie legte sich eine Hand auf die Brust, und man sah, daß ihr Oberkörper zuckte.
»Mußt du dich wirklich übergeben?« fragte ich beunruhigt und stellte ihr vorsichtshalber einen Papierkorb auf den Schoß.
Wir drei sahen sie an, begeistert von dem Drama, das sich abspielte, und hofften, sie werde sich tatsächlich übergeben und damit ein wenig Abwechslung in unseren Tag bringen. Aber nichts geschah. Nach wenigen Minuten schleuderte sie den Papierkorb zu Boden und sagte: »So, alles in Ordnung. Wir wollen abstimmen. Wer ist für Auffressen?« Drei Hände wurden gehoben.
»Na komm schon, Lucy«, sagte Jed. »Sag auch ja.«
»Ich weiß nicht recht.«
»Lucy, wen hast du leben lassen? Dich oder deinen Vater?«
»Hä?«
Beschämt hob ich die Hand. Jed nutzte es aus, daß Meredia den Arm gehoben hatte, und kitzelte sie. Sie kreischte auf und sagte kichernd: »Oooooh, du kleiner...«
Die beiden schienen vergessen zu haben, daß sie nicht allein waren – sie bedachten sich gegenseitig mit Beschimpfungen und veranstalteten eine Art Ringkampf. Bedeutungsvoll sah ich Megan an und hob die Brauen, und sie sah mich an und hob die ihren.
Während sich der graue Januar dahinschleppte, blieb mein gesellschaftliches Leben dürftig. Ich erneuerte meine enge Beziehung zu Adrian in der Videothek. Ich versuchte, mir When a Man Loves a Woman auszuleihen und kam statt dessen mit Krzysztof Kieslowskis Die zwei Leben der Veronika nach Hause. Ich wollte Grüße aus Hollywood haben und bekam irgendwie Der Postmann (in der italienischen Originalfassung ohne Untertitel). Ich bat Adrian um Leaving Las Vegas, doch gab er mir statt dessen eine Kassette mit dem Titel Eine sonderbare Liebe, die ich mir nicht einmal ansah.
Ich brauchte tatsächlich nicht auszugehen, denn in meinem Büro spielte sich unmittelbar vor meiner Nase eine Seifenoper ab. Meredia und Jed waren einander sehr nahe gekommen. Wirklich außerordentlich nahe. Sie verließen das Büro immer zur selben Zeit – das allerdings war keine besondere Überraschung, denn alle Angestellten im Gebäude sprangen um Schlag fünf von ihrem Schreibtisch auf. Auffälliger war da schon, daß sie immer gleichzeitig eintrafen. Außerdem turtelten sie ständig und verhielten sich auch sonst ganz wie ein Pärchen. Das war ein Kichern und Schäkern, ein ständiges Erröten und albernes Getue – Jed schien es schwer erwischt zu haben. Obendrein hatten sie ein kleines Spielchen, an dem sich außer ihnen niemand beteiligen durfte und bei dem Meredia in hohem Bogen quer durch den Raum Weintrauben, Drops oder Karamelkugeln mit Schokoladenüberzug zu Jed hinüberwarf, der sie mit dem Mund aufzufangen versuchte. Anschließend schlug er die Arme zusammen und gab Geräusche wie ein Seehund von sich. Ich beneidete die beiden um ihr junges Glück.
Das Schauspiel, das sie mir boten, entzückte mich, denn von Megan waren keine Liebesszenen mehr zu erwarten. Sie hatte sich verändert und sah überhaupt nicht mehr wie Megan aus. Das ließ sich allein schon daran erkennen, daß die Zahl der jungen Männer, die in unserem Büro vorbeischauten, deutlich abgenommen hatte. Es war jetzt sogar möglich, den Raum zu verlassen, ohne daß wir drängen und stoßen und bitten mußten: »Dürfte ich mal durch?« Erst konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, was sich bei ihr geändert hatte, dann aber kam mir die Erleuchtung. Natürlich! Ihre Bräune war dahin. Der Winter hatte Megan zu guter Letzt besiegt und sie ihrer von innen heraus strahlenden goldenen Leuchtkraft beraubt und aus einer herrlichen Göttin eine gewöhnliche stämmige junge Frau gemacht, deren Haar bisweilen fettig glänzte.
Aber das Nachlassen ihrer Anziehungskraft lag nicht nur daran, daß sie nicht mehr so strahlend aussah. Sie war auch nicht mehr so munter und resolut wie einst. Sie hatte offenbar den Versuch aufgegeben, hinter Meredias richtigen Namen zu kommen, war oft mürrisch und kurz angebunden. Sie machte mir Sorgen.
Das war eine ziemliche Leistung, wenn man bedenkt, wieviel ich damit zu tun hatte, mir selbst leid zu tun, aber ich sorgte mich wirklich um sie.
Ich versuchte festzustellen, was ihr fehlte, und das keineswegs aus krankhafter Neugier, aber ohne Ergebnis. Als ich sie eines Tages zögernd fragte, ob ihr Australien fehle, drehte sie sich zu mir um und blaffte mich an: »Schön, Lucy, ich hab Heimweh! Und jetzt hör auf, mich auszufragen, was mir fehlt.«
Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich fühlte – ich war mein ganzes Leben lang heimwehkrank gewesen. Der einzige Unterschied zwischen uns beiden bestand darin, daß ich nicht wußte, was ein Zuhause war, oder wo es sich befand.
Sobald ich begriff, daß Megans Glück gewissermaßen mit Solarantrieb funktionierte, sorgte ich dafür, daß sie Sonne tanken konnte. Zwar konnte ich ihr keinen Flug nach Australien schenken, wohl aber einen Gutschein für das Sonnenstudio um die Ecke. Als ich ihr den gab, starrte sie ihn entsetzt an, als wäre es ihr Todesurteil und stieß schließlich hervor: »Nein, Lucy, das geht nicht.«
Danach machte ich mir wirklich Sorgen um sie – Megan war nicht knauserig, aber Geld und Geldeswert behandelte sie mit großer Hochachtung, vor allem, wenn es sie selbst nichts kostete. Ganz gleich, wie sehr ich mich bemühte, sie bestand darauf, daß das Geschenk viel zu großzügig sei und sie den Gutschein keinesfalls annehmen könne.
Schließlich ging ich selbst hin, und alles, was für mich dabei herauskam, war, daß ich acht Millionen mehr Sommersprossen bekam als vorher.