28. Kapitel

 

Guten Morgen, Herrings, ist mein Bruder zu Hause?«

Die Tatsache, dass Herrings bei ihrem Anblick fast der Kinnladen herunterfiel, gab Angelica einen Hinweis darauf, dass sie einen Schnitzer gemacht haben musste.

»Stimmt was nicht?«

»Vergebung, Prinzessin, aber ich wusste gar nicht, dass Sie ausgegangen waren!«

Zu spät erkannte sie, dass Herrings ja ebenso wie ihr Bruder der Meinung sein musste, sie würde immer noch zu Hause wohnen. Wie Alexanders Leute das Tag für Tag von Neuem fertigbrachten, überstieg ihr Vorstellungsvermögen.

Von schlechtem Gewissen geplagt, suchte sie hastig nach einer Ausrede. »Ach, keine Sorge, Herrings. Ich bin gerade erst gegangen, und da fiel mir ein, dass ich ja noch mit meinem Bruder reden wollte. Er ist doch da, oder?«

»Leider nein, Prinzessin Belanow. Er ist geschäftlich unterwegs, sollte aber bald zurück sein.«

»Ach, das macht nichts!« Angelica war so glücklich, dass es ihr nichts ausgemacht hätte, den ganzen Tag auf ihren Bruder zu warten. Alexander hatte ihr erlaubt, nach Hause zu gehen, vorausgesetzt, dass Kiril sie begleitete. Der treue Kiril wartete in diesem Moment geduldig vor dem Haus auf sie.

Wenn sie an Alexander dachte, wurde ihr ganz warm im Bauch. Er hatte sie im Morgengrauen noch einmal geliebt und war dann gegangen.

Komm mit mir. Sie musste immerzu daran denken, was er letzte Nacht gesagt hatte, und hätte am liebsten vor Freude getanzt. Zugegeben, es war nicht direkt ein Heiratsantrag, aber der würde schon noch kommen, jetzt, wo sie wusste, dass er mit ihr zusammen sein wollte.

»Herrings, sagen Sie Mikhail bitte, dass ich ihn im Musiksalon erwarte.«

»Sehr wohl, Prinzessin.« Herrings machte eine steife Verbeugung.

 

Angelica hatte soeben ein wunderschönes Tschaikowski-Stück beendet, als hinter ihr die Tür aufging.

»Mikhail! Da bist du ja. Ich warte schon ewig auf dich.«

»Ich bin es, meine Liebe«, sagte Lady Dewberry leise.

»Tante Dewberry, wie schön! Ich bin so froh, dich zu sehen. Ich dachte schon, du wärst zu deinem Landhaus gefahren, ohne uns Bescheid zu sagen, weil ich dich die ganze letzte Woche nicht gesehen habe.«

Sie ging freudestrahlend auf ihre Tante zu, hakte sich bei ihr unter und führte sie zu einem Sofa.

»Nein, meine Liebe, ich fühlte mich nur ein wenig indisponiert, das ist alles.«

Sie schniefte demonstrativ, während sie sich auf den angebotenen Platz setzte.

»Ach, das tut mir leid! Soll ich nach Tee läuten?«

»Nein, nein, nur keine Umstände.« Lady Dewberry räusperte sich und holte tief Luft, wie um sich zu sammeln. »Ich muss dir etwas sagen, meine Liebe. Etwas, das ich dir schon längst hätte sagen sollen.«

Der kalte Ton, in dem sie sprach, überraschte Angelica, und ein ungutes Gefühl keimte in ihr auf. So ernst hatte sie ihre Tante noch nie erlebt.

»Was ist denn, Tante?«

Den Blick in unbestimmte Fernen gerichtet, begann Lady Dewberry zu sprechen.

»Ich sagte dir ja schon, dass deine Mutter zwei Jahre in diesen fürchterlichen Highlands verbracht hat. Ich erwähnte jedoch nicht, dass sie sich dort verheiratet hatte.

Graham war ein attraktiver Mann, ein charmanter Teufel. Und deine Mutter war noch so jung! Sie hatte keine Chance, er hat sie im Sturm erobert! Bevor das Jahr vergangen war, waren sie verheiratet. Dein Großvater war zu jener Zeit in Amerika und hatte keine Ahnung von dem schrecklichen Fehler, den seine älteste Tochter gemacht hatte. Aber ich wusste es! Ich war bei der Hochzeit zugegen.

Deine Mutter wollte einfach nicht mit sich reden lassen. Sie bestand darauf, dass sie überglücklich sei. Graham war Eigentümer eines prächtigen Schlosses. Ich sehe deine Mutter noch vor mir, wie sie strahlte, als sie mir das großartige Zimmer zeigte, in dem ich künftig wohnen sollte …«

Angelica war wie vor den Kopf geschlagen. Was ihre Tante da sagte, war unglaublich; und sie war sich tatsächlich nicht sicher, ob sie es glaubte. Dennoch, etwas in ihr drängte danach, weiter zuzuhören, mehr zu erfahren.

»Ich hatte recht. All meine Befürchtungen bewahrheiteten sich: Er war wahnsinnig.

Zunächst merkten wir natürlich nichts. Deine Mutter vor allem wollte es nicht wahrhaben. Aber ich wusste es! Ich habe ihn beobachtet, wie er sich nachts heimlich aus dem Haus schlich und in den Wäldern herumgeisterte. Ich hab ihn gesehen … Ich habe deine Mutter wieder und wieder gewarnt, dass er ihr eines Tages gefährlich werden würde, aber sie wollte nicht auf mich hören.«

Lady Dewberry sah sie mit brennendem Blick an. »Sie wollte nicht auf mich hören.«

Nach ein paar tiefen Atemzügen fuhr ihre Tante etwas gefasster fort: »Aber wir sind alle noch einmal mit heiler Haut davon gekommen. Graham ist eines Tages einfach verschwunden. Als deine Mutter schließlich jede Hoffnung aufgegeben hatte, gab sie nach und kehrte mit mir nach London zurück. Damals erkannte ich noch nicht, warum sie es so eilig damit hatte. Aber sechs Monate, nachdem sie Dimitri Belanow geheiratet hatte, wusste ich Bescheid.«

»Was meinst du?« Angelica konnte nicht länger an sich halten. Nein, sie wollte das alles nicht glauben.

»Sie ist deinetwegen zurückgegangen, Angelica. Sie wusste, dass nur eine rasche Heirat dich davor bewahren konnte, vaterlos aufzuwachsen.«

»Was?« Die Frage war ein Flüstern, nicht mehr.

»Ach, meine Liebe!« Lady Dewberry beugte sich vor und nahm Angelicas Gesicht in beide Hände. »Meine Liebe! Sei dankbar, dass du so normal geworden bist. Was für ein Glück, was für ein Glück! Wenn du wüsstest … dein Vater, er war ein Monster!«

Angelica riss ihr Gesicht zurück und sprang auf. Ihre Gedanken rasten. Das alles ergab keinen Sinn!

Alexander, dachte sie verzweifelt. Er würde wissen, was zu tun war … er würde wissen, was das zu bedeuten hatte.

»Ich muss gehen.« Schon war sie bei der Tür, ohne sich darum zu kümmern, wie unhöflich sie sich verhielt.

»Wo willst du hin? Angelica, warte!« Ihre Tante streckte den Arm aus, wollte ihr nacheilen, aber Angelica war bereits fort. Ohne nach rechts oder links zu sehen, rannte sie durch die Diele, vorbei an dem verblüfften Herrings, aus der Tür, zum Eingangstor, wo Kiril auf sie wartete.

»Ich muss sofort zu Alexander.« Ohne auf seine Antwort zu warten, kletterte sie in die Droschke. Kiril folgte.

»Das geht nicht, Prinzessin. Alexander würde …«

»Bitte!«

Sie schrie es fast, und Kiril fuhr erschrocken zurück.

»Bitte, Kiril, bring mich zu ihm.«

Kiril schwieg einen Moment, dann beugte er sich aus dem Fenster und nannte dem Kutscher eine Adresse, die sie nicht verstand. Als sich die Kutsche in Bewegung setzte, sank Angelica ins Polster zurück und schloss die Augen.

Es konnte nicht sein. Ihr Vater war nicht ihr Vater. Graham - ein schottischer Lord war ihr Vater. Und er war ein Monster?

 

»Was hat sie hier zu suchen?«, fragte Alexander zornig, den Blick ausschließlich auf Kiril gerichtet, Angelica ignorierend.

Als die beiden hereingekommen waren, als er Angelica so unerwartet gesehen hatte, war seine erste Reaktion überwältigende Freude gewesen. Am liebsten hätte er alle rausgeworfen und sie so lange geküsst, bis sie nichts dagegen gehabt hätte, wenn er sie gleich hier, auf dem Boden, nähme.

Und genau deshalb musste sie schleunigst wieder verschwinden.

»Ich muss mit dir reden.«

Kiril hob die Hände und wich zurück, sodass Alexander nichts anderes übrig blieb, als sie anzusehen. Gott, sie war so schön. Bei näherem Hinsehen merkte er allerdings, wie besorgt sie aussah.

»Was ist passiert?«

Angelica schaute sich um. Überall standen Vampire an langen Tischen, über diverse Stadtpläne gebeugt. »Können wir irgendwo allein miteinander reden?«

Alexander packte sie beim Arm und führte sie in ein Hinterzimmer.

»Also, was ist?«

»Ich bin heute früh nach Hause gefahren, um meinen Bruder zu sehen, wie ich dir sagte, aber Mikhail war nicht da.«

Mit kaum verhohlener Ungeduld wartete Alexander, dass sie fortfuhr.

»Ich habe auf ihn gewartet, als plötzlich Lady Dewberry auftauchte. Und sie … sie hat mir gesagt … sie hat mir gesagt, dass mein Vater gar nicht mein Vater ist!«

Alexander presste, um Beherrschung bemüht, seinen Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger zusammen.

»Angelica, was redest du da?«

»Meine Mutter war bereits schwanger, als sie Dimitri Belanow geheiratet hat, schwanger von einem anderen!«

»Verstehe.«

Er versuchte es zumindest.

Warum machte sie bloß so ein Wesens? Nun ja, es musste wohl ein Schock sein, so etwas zu erfahren, aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Dimitri Belanow war tot, also änderte sich dadurch nichts. Außer natürlich, sie wusste, wer ihr richtiger Vater war, und wollte ihn kennen lernen.

»Weißt du, wer dein Vater ist?«

»Ich weiß nur seinen Vornamen, aber wie soll ich ihn da finden? Außer, Lady Dewberry verrät es mir …«

»Angelica.«

Seine Geduld war erschöpft. Er wäre gerne mitfühlender und geduldiger gewesen, aber er musste Sergej und diesen Vampirjäger fangen, bevor noch mehr Unschuldige starben! Und das hatte, seiner Ansicht nach zumindest, Vorrang vor allem.

»Können wir uns nicht später darüber unterhalten?«

Sie blickte ihn schockiert an.

»Es ist dir egal?«

»Natürlich bist du mir nicht egal …«

»Ich meine, es macht dir nichts aus?«

Redeten sie aneinander vorbei? Er verstand nicht, was sie meinte.

»Macht was nichts aus, Angelica?«

Angelica fiel ein Stein vom Herzen, und sie lachte achselzuckend. »Ach, ich weiß nicht. Ich dachte nur, dass es einem Mann vielleicht etwas ausmachen könnte, wenn er nicht weiß, wer der Vater des Mädchens war, das er heiraten will. Er könnte ja verrückt oder krank oder sonst was gewesen sein …«

»Heiraten?«

Das war ihm herausgerutscht, ehe er es verhindern konnte. Er hätte sich auf die Zunge beißen können! Die nun eintretende Stille war kein gutes Zeichen.

»Angelica, ich weiß nicht, wie du auf den Gedanken kommst, dass ich heiraten will«, sagte er zögernd. Sein verfluchter vorlauter Mund! Hätte er doch nur geschwiegen. Darüber musste man später reden, wenn der Zeitpunkt günstiger war, wenn er ihr seine Gründe erklären konnte, seine Pflicht seinem Clan gegenüber.

»Du hast mit mir geschlafen!«

Sie sagte das so fassungslos, dass Alexander unwillkürlich zusammenzuckte.

»Ja, ich wollte dich, Angelica. Und ich will dich noch immer.«

»Aber nur als deine ganz persönliche Hure, was?«

Ihr sarkastischer Ton war bewusst verletzend. Wie war es nur so weit gekommen?, fragte sich Alexander. Der Ausdruck in ihren Augen war ihm unerträglich. Wie gerne hätte er sie jetzt in die Arme genommen und getröstet, doch er wusste, dass sie das nicht zugelassen hätte. Sie war im Moment viel zu wütend.

»Angelica, du weißt, dass das nicht wahr ist.«

»Was war ich bloß für eine Närrin! Ich war so dumm!« Aufgebracht schritt sie auf und ab und fuhr dann zu ihm herum. »Warum hast du mich überhaupt gefragt, ob ich dich nach Moskau begleite? Gibt es in Russland nicht genug Frauen, die sich um deine Bedürfnisse kümmern, Prinz Kourakin?«

Nun wurde auch er allmählich wütend. Um nichts zu sagen, was er später bereut hätte, schloss er die Augen und wartete einen Moment ab.

Die Tür knallte zu, und er riss die Augen auf.

Angelica war fort.

Er machte einen Schritt, um ihr nachzugehen, blieb jedoch wieder stehen. Sie war im Moment viel zu aufgebracht, um mit sich reden zu lassen. Kiril würde sie in sein, Alexanders, Haus bringen, und später, wenn er hier fertig war, würde er ihr alles erklären.

Jetzt jedoch musste er wieder nach nebenan und herausfinden, wer aus ihren eigenen Reihen Sergej all die Informationen hatte zukommen lassen. Denn dass es so war, darüber bestand nun kein Zweifel mehr. Nur so hatte es ihm gelingen können, ihnen so lange zu entwischen.