4. Kapitel
Alexander wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war. Wieso gab er sich mit dieser Frau ab?
Sie konnte seine Gedanken lesen, gehörte also offensichtlich zu seiner Rasse, obwohl er sie nicht kannte. James hatte ihm eine Liste mit den Namen aller Mitglieder des Nordclans zur Verfügung gestellt. Dort stand auch, wo sie wohnten und welche sich derzeit im Territorium eines anderen Clans aufhielten. Sie musste demnach zu Besuch hier sein.
Verflucht! Da lief ein Mörder frei herum, der ein neues Zeitalter der Verfolgung provozieren wollte. Er durfte seine Zeit nicht mit neuen Bekanntschaften vertrödeln … auch nicht mit dieser schwarzhaarigen Schönheit.
Alexander blickte sich stirnrunzelnd um. Die Informanten, mit denen er sich getroffen hatte, waren vor wenigen Minuten gegangen, und was sie ihm mitzuteilen gehabt hatten, war mehr als mager gewesen. Es gab so gut wie keine Anhaltspunkte, aber die Londoner Polizei stellte mehr Fragen, als ihnen lieb sein konnte.
Morgen würde er sich mit dem Scotland-Yard-Verbindungsmann des Clans treffen. Von dieser Seite erwartete Alexander jedoch wenig Hilfe; vielmehr machte er sich Sorgen, dass die Polizei unangenehme Schlussfolgerungen ziehen könnte, was ihren Serienmörder betraf.
Es war Zeit zu gehen. Sergej wusste, dass sie ihm auf der Spur waren. Er wusste es spätestens, seit er die beiden Clanmitglieder ermordet hatte, die James vor einigen Wochen zu seiner Verfolgung abgestellt hatte. Es war kaum anzunehmen, dass er ausgerechnet auf einem Ball auftauchen würde, also bestand auch kein Grund, warum er noch länger hier bleiben sollte.
Tief in Gedanken versunken, setzte sich Alexander in Bewegung.
Die Opfer waren ausnahmslos junge Damen der feinen Gesellschaft. Sergej lockte sie in heruntergekommene Stadtviertel oder in die Wälder um London, wo er sie dann einfach liegen ließ. Seine Visitenkarte war eine Halskette aus blutroten Granaten, die er dem Opfer umhängte.
Damit, so hoffte Alexander, würden sie ihn kriegen. Es durfte nicht allzu schwer sein, Schmuckgeschäfte ausfindig zu machen, in denen es Granatketten zu kaufen gab. Außer natürlich, Sergej war so vorausschauend gewesen, die Ketten lange vorher in einer anderen Stadt zu kaufen, aber das hielt Alexander für äußerst unwahrscheinlich, so wie er Sergej kannte.
Wie viele Geschäfte gab es in London, in denen man eine Granatkette kaufen konnte?
»Prinz Kourakin?«
Alexander blickte ungeduldig auf. Vor ihm stand eine hinreißende Blondine, mit einem Ausdruck in den Augen, den er schon millionenfach gesehen hatte, und der ihn mittlerweile nur noch langweilte.
»Kennen wir uns, Madame?«
Die Frau lächelte, ihre Augen blitzten ihn einladend an. »Ist es so offensischtlisch, dass ich aus France stamme?«
Alexander überprüfte rasch ihre Gedanken. Die Frau war eine verdorbene Kreatur, der es ebenso viel Spaß machte, zu quälen wie gequält zu werden. Von Sergej hatte sie noch nie gehört.
»Intuition, Madame.«
»Bitte - nennen Sie misch Delphine.«
Es war offensichtlich, dass sie nun von ihm erwartete, ihr seinerseits anzubieten, ihn bei seinem Vornamen nennen zu dürfen. Ebenso offensichtlich war, dass sie plante, in seinem Bett zu landen. Er wusste außerdem, dass sie noch nie eine Abfuhr bekommen hatte. Aber das war ihm alles reichlich egal.
»Bedaure, kein Interesse.«
Die Blondine fauchte wie eine wütende Katze. Ihre Augen wurden schmal, der Ausdruck feindselig, ja hasserfüllt. Sie schien schon eine Beleidigung auf den Lippen zu haben, als ihr plötzlich ein Gedanke kam.
»Sie’aben kein Interesse an les femmes.«
Das war keine Frage; es war die einzige Erklärung, die der Blondine in den Sinn kam. Und in gewisser Weise hatte sie sogar recht. Alexander hatte schon vor langer Zeit jedes Interesse an Frauen verloren.
Das hieß, bis heute. Bis er die schwarzhaarige Hexe erblickte.
Sein Blick huschte unwillkürlich durch den Saal zu der Ecke, in der sie mit dem Rücken zu ihm stand. Delphine musste ihn scharf beobachtet haben, denn sie begann wild zu fluchen.
»Schon wieder die! Les hommes springen um sie rum wie die kleinen’ündchen. Isch sollte ihr die Augen auskratzen!«
Alexander richtete den Blick wieder auf Delphine.
»Das wirst du nicht. Du wirst dich von ihr fern halten. Du magst sie.«
Seine Augen glühten dunkelrot, und Delphine nickte wie betäubt.
»Jetzt geh und vergiss, dass du je mit mir gesprochen hast.«
Die Blondine wandte sich ab und tapste verwirrt davon. Alexanders Augen nahmen wieder ihre normale Färbung an.
Die macht uns keine Schwierigkeiten mehr, dachte er zufrieden. Allerdings fragte er sich, wieso er überhaupt seine mentalen Fähigkeiten wegen einer derartigen Bagatelle eingesetzt hatte. Nun, die schwarzhaarige Schönheit gehörte zu seiner Rasse, also hatte sie ein Anrecht auf seinen Schutz. Das hätte er für jeden Vampir getan … oder?
Verärgert, weil ihn der Gedanke an diese Frau schon wieder von seinen wichtigen Angelegenheiten abgelenkt hatte, suchte er die Menge nach Kiril ab. Er entdeckte ihn in einer Ecke, wo er sich mit einer Rothaarigen in einem silbernen Kleid unterhielt. Lady Joanna. Sie war das zweite Kind, das er, neben Kiril, damals hatte retten können. Die beiden hatten einander sicher viel zu erzählen … oder auch nicht. In jedem Fall wollte er Kiril noch ein bisschen Zeit geben.
Seufzend zwang er sich zur Geduld, eine Tugend, die er nicht gerade im Übermaß besaß. Eine Brünette mit kunstvoll arrangierten Locken warf ihm heiße Blicke zu. Alexander ignorierte die plumpe Einladung.
Verflucht! Er hatte auf mehr Informationen gehofft, doch dieser Abend war - in jeder Hinsicht - ein Reinfall. Was machte er noch hier? Er sollte draußen sein, die Straßen durchstreifen, nach dem Mörder suchen und nicht hier in diesem stickigen Ballsaal herumstehen.
Abermals wanderten seine Gedanken zu der Frau im blauen Kleid. Er kannte nur zwei Vampire, die sich so gut auf die Kunst des Gedankenlesens verstanden wie er, und beide gehörten zu den Ältesten. Sie konnte keine Älteste sein, das würde er wissen. Er kannte alle europäischen Ältesten, und sie sah weder asiatisch noch afrikanisch aus.
»Mein lieber, lieber Prinz Kourakin!«
Alexander zuckte bei diesen nicht unvertrauten Klängen, die wie ein Nebelhorn in seine Gedanken schnitten, zusammen. Vor ihm stand ein kugelrunder kleiner Mann mit hochroten Backen und vollführte eine wichtigtuerische Verbeugung.
Als Lord Jeffrey Higgins jedoch einfiel, dass sein Haar am Oberkopf schon ein wenig schütter wurde, richtete er sich hastig auf und strich mit einer pummeligen Hand die fünf Haare über der glänzenden Stelle glatt. Dann strahlte er zu seinem Gegenüber auf, ein Lächeln, das aufgrund der Schokoladenschmiere, die auf seinen weit auseinanderstehenden Vorderzähnen klebte, ein wenig an Charme verlor.
»Was für eine Ehre, eine Ehre, Sie hier auf meinem Ball begrüßen zu dürfen, mein lieber, lieber Prinz Alexander! Meine Frau ist außer sich vor Freude, yes, yes, yes. Und wenn sie außer sich vor Freude ist, kriegen wir hier immer die schönsten … hach …«
Das Männchen starrte einen Moment lang mit glasigen Augen ins Leere. Seine pummeligen Wurstfinger, an denen zahlreiche Diamantringe funkelten, zuckten erregt.
Alexander fühlte sich ausgesprochen unwohl unter den lächelnden Blicken der Umstehenden. Worüber freute sich dieser Mann nur so? Er musste nicht lange warten, um es herauszufinden.
»Torten und Pasteten und exotische Früchte, yes, yes, yes!« Lord Higgins’ Stimme war bei diesen Worten die Oktavleiter hinaufgeklettert, bis er zeitgleich mit den ›exotischen Früchten‹ den obersten Ton erreicht hatte. Einige Tanzpaare gerieten ins Stolpern und blickten herüber, um zu sehen, wer diesen Spektakel veranstaltete.
Der kleine Lord jedoch nahm nichts davon wahr. Er fuchtelte mit den behandschuhten Händen herum und stieß dabei Laute aus, die man für Gelächter hätte halten können, wären sie weniger schrill gewesen. »Zwei russische Prinzen auf meinem Ball. Zwei auf einen Streich! Meine Frau wird mir Kuchen dafür backen, yes, yes, yes. Und Schokolade! Mein Gott, sie wird die köstlichsten Pralinen servieren.« Lord Higgins verfiel in ehrfürchtiges Schweigen, den Blick, wie es schien, auf ein unsichtbares Schlaraffenland gerichtet.
Dann, als er merkte, dass sein Arm noch in der Luft hing, kam er mit einem Ruck zu sich und legte die Hände auf seinen kugelrunden Bauch.
Alexander wusste beim besten Willen nicht, was für eine Antwort der Mann von ihm erwartete. Er hatte wirklich keine Zeit für diesen Unfug, aber den Gastgeber abzuwimmeln ging ja wohl schlecht. Er war einen Moment lang versucht, einen Gedanken in sein Hirn zu pflanzen, der ihn dazu veranlasste, das Weite zu suchen, verwarf ihn jedoch wieder. Lord Higgins machte ohnehin keinen allzu stabilen Eindruck, und er wollte seinem Verstand keinen Schaden zufügen. Oder besser gesagt: noch mehr Schaden zufügen.
»Noch ein russischer Prinz, sagen Sie?« Alexander heuchelte Interesse. »Dann muss ich ihn sogleich aufsuchen. Sie entschuldigen mich?« Aber Alexander hatte erst zwei Schritte gemacht, als ihn die Stimme seines Gastgebers zurückpfiff.
»Warten Sie, hier ist er doch schon!« Lord Higgins katapultierte sich wie ein Gummiball ins Getümmel. Alexander blickte ihm mit kaum verhohlener Gereiztheit nach.
Er schloss die Augen und presste Zeigefinger und Daumen auf seinen Nasenrücken. Was für ein verdammt langer Abend!
»Mein lieber Prinz, hier ist er: Prinz Mikhail Belanow.« Lord Higgins zerrte einen gequält dreinblickenden jungen Mann hinter sich her. »Prinz Belanow, Prinz Kourakin«, rief er mit einer weiteren ausladenden Verbeugung, die abrupt abgebrochen wurde, dann verschwand er und ließ die zwei Männer allein.
Sehr zur Erleichterung der beiden.
»Unglaublich, dass ein so ein kleiner Mann einen so großen Wirbel verursachen kann«, brummte Mikhail und blickte dem temperamentvollen Lord hinterher, der soeben mit flatternden Armen eine andere Gästegruppe heimsuchte.
Alexander durchsuchte rasch Mikhails Gedanken nach Spuren von Sergej und nickte dann zustimmend. »Er sollte stolz darauf sein, uns einander vorgestellt zu haben. Zweifellos wird seine Frau ihn mit Extrarationen Schokolade für seine Großtat belohnen.« Dieser trockene Kommentar war ihm herausgerutscht, bevor er es verhindern konnte. Alexander, der äußerlich keine Miene verzog, war verblüfft: Wann hatte er zum letzten Mal einen Scherz gemacht?
Mikhail bot ihm grinsend die Hand. »Yes, yes, yes, viel, viel Schokolade.«
Alexanders Mundwinkel zuckten, während er dem jungen Russen die Hand drückte. Es war ihm bisher zwar nicht bewusst gewesen, aber es musste Jahre her sein, seit er zuletzt gelächelt hatte. Sollte er wirklich seinen Sinn für Humor wiedergefunden haben? Kaum zu glauben, aber warum nicht?
Alles andere fühlte er ja auch.
Und im Gegensatz zu dem Aufwallen von Begierde, das er beim Anblick der schwarzhaarigen Frau empfunden hatte, gab es gegen dieses Gefühl auch nichts einzuwenden. Tatsächlich hatte er sogar vergessen, wie schön es war, etwas zum Lachen zu haben.
Alexander gab sich einen Ruck und konzentrierte sich wieder auf sein Gegenüber. »Ich glaube nicht, dass wir uns kennen, aber Ihr Nachname kommt mir bekannt vor.«
Mikhail nickte einem vorbeigehenden Bekannten zu. »Sie haben vielleicht von meinem Vater gehört, Dimitri Belanow.«
»Ah ja.« Alexander kannte den Namen, wusste von der Familientragödie. Der Zar hatte es bei einem von Alexanders regelmäßigen Besuchen im Palast selbst erwähnt.
»Ihr Vater hat viel dazu beigetragen, die Beziehungen zwischen Russland und England zu fördern, und die Grazie Ihrer Mutter war jahrelang Hofgespräch in Sankt Petersburg. Ihr Tod war ein großer Verlust für uns alle.«
Mikhail nickte.
»Sie verbringen wohl viel Zeit in England, vermute ich?«, fragte Alexander weiter, um das Schweigen zu überbrücken.
»Ja, mein Vater hat selbst meist in London gelebt … seine Arbeit, wissen Sie …. Ah, guten Abend, Ambrose.« Mikhail nickte einem Mann in einem eleganten grünen Abendjackett zu, der versucht hatte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Alexander überprüfte den Mann kurz und kam zu dem Schluss, dass er ein netter Kerl war.
»Mikhail, könnte ich Sie später kurz sprechen? Ich hätte da etwas Wichtiges …«
»Selbstverständlich.« Mikhail lächelte ihm zu und konzentrierte sich dann sogleich wieder auf seinen Gesprächspartner. »Bitte entschuldigen Sie die Unterbrechung. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, mein Vater hielt sich aus beruflichen Gründen meist in England auf, und meine Mutter war eine englische Lady, die ihre Heimat über alles liebte.« Mikhail musterte den hochgewachsenen Mann neugierig. »Sie sind noch nicht lange in London?«
»Erst seit ein paar Tagen.«
»Dann müssen Sie mir gestatten, Sie in den Clubs einzuführen. London hat viel zu bieten, wenn man weiß, wo man suchen muss.«
Alexander ließ sich das freundliche Anerbieten durch den Kopf gehen. Der junge Mann schien, soweit er es beobachtet hatte, sehr beliebt zu sein, und das konnte ihm von Nutzen sein bei seiner Suche. Mikhail Belanow hatte sicherlich Zugang zu allen möglichen Veranstaltungen und Bällen. James konnte ihn zwar auch in die Londoner Society einführen, aber ein Begleiter wie Prinz Belanow mochte unter Umständen von noch größerem Nutzen sein. Zumindest galt es, nichts unversucht zu lassen.
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Prinz Belanow.«
Mikhail grinste einnehmend. »Dann müssen Sie aber Mikhail zu mir sagen, wenn Sie wirklich mit mir die Clubs unsicher machen wollen! Dieses Prinz-Getue steigt mir allmählich zu Kopfe, und meine Schwester würde Ihnen bestätigen, dass ich schon eingebildet genug bin!«
Alexander nickte. Mikhail war ein fröhlicher Geselle, und er stellte fest, dass er seine Offenheit schätzte. Natürlich hatte ihm ein Blick in seine Gedanken offenbart, dass der junge Mann Hintergedanken hegte, er wollte ihn eventuell mit seiner Schwester verkuppeln. Was für eine irrige Vorstellung den jungen Russen dazu veranlasste, den Heiratsvermittler für seine Schwester zu spielen, war Alexander ein Rätsel, aber es spielte ohnehin keine Rolle.
»Dann müssen Sie mich wohl oder übel Alexander nennen, obwohl ich das ›Prinz-Getue‹ eigentlich ganz gern habe.«
Mikhail lachte. »Nun, dann gehe ich jetzt wohl besser, ›Prinz‹! Ich treffe mich morgen mit ein paar Freunden im White’s. Ein wahres Spielerparadies und obendrein der exklusivste Gentlemen’s Club in London - was bedeutet, dass einige besonders nervtötende Mitglieder der High Society keinen Zugang haben. Es sollte mir nicht schwer fallen, einen Besucherpass für Sie zu organisieren. Wollen wir uns morgen Mittag in der St. James Street treffen?«
»Gern.« Alexander nickte seinem Gefährten zu, und dieser nahm seinen Abschied.
»Prinz?«
Es war Kiril, und er klang besorgt. Lady Joanna war bei ihm.
»Ja?«
»Lady Joanna hat soeben eine Nachricht erhalten. Ihr Kontaktmann bei Scotland Yard teilte mit, dass eine weitere Leiche gefunden wurde. Das Opfer wurde ausgeblutet, doch gibt es keinerlei Spuren von Blut.«
Alexanders Augen wurden schmal. Sergej hatte soeben den größten Fehler seines Lebens gemacht.
»Wo hat man die Leiche gefunden?«
Diese Frage wurde von Lady Joanna beantwortet.
»Hier in London.«
»Lady Joanna, ich berufe hiermit eine Versammlung aller Vampire in London ein. In meinem Haus. Noch heute Nacht. Schaffen Sie das?«
»Ja, Prinz Kourakin.«
Als Mikhail sah, wie abgespannt seine Schwester wirkte, nahm er zärtlich ihre Hand. Er hatte schon befürchtet, dass diese Veranstaltung angesichts ihres ›Handicaps‹ zu viel für sie werden könnte. Verdammt, er hätte auf seine innere Stimme hören und sie von den größeren Versammlungen fernhalten sollen!
»Geht es, Angel?«
Angelica rang sich ein Lächeln ab. Sie nickte vielsagend in Richtung Lady Dewberry, die eifrig mit ihrer Bekannten schwatzte. Das Letzte, was sie wollte, war, ihre Tante auf sich aufmerksam zu machen.
»Dieser Ball bringt mich wirklich fast um den Verstand«, sagte sie leise.
Mikhail lachte, aber seine Augen blickten ernst. »Das bezweifle ich, Schwesterherz. Nicht, wo du doch deinen Verstand so sehr schätzt.«
Angelica zitterte, war aber trotzdem um einen leichten Ton bemüht. »Na, dann habe ich Neuigkeiten für dich, Bruderherz: Ich glaube, ich habe jemanden getroffen, der so ist wie ich.«
Mikhails Lächeln erlosch. Er blickte sich suchend um, als müsste so jemand unter den anderen Gästen herausstechen.
»Wo? Wer? Bist du sicher?«
Angelica schüttelte bedauernd den Kopf.
»Ja, ich bin sicher, aber andererseits: Wie kann man sich bei so einer Sache sicher sein?«
Bevor Mikhail auf diese trockene Frage eingehen konnte, tappte ihm Lady Dewberry mit ihrem Fächer auf die Schulter.
»Prinz Belanow, ich glaube, wir sollten gehen.«
Mikhail musterte Angelica und nickte. »Selbstverständlich, meine liebe Lady Dewberry. Ich fürchte, ich begann ohnehin, mich schrecklich zu langweilen.«
Als alle zu Bett gegangen waren, tappte Angelica barfuß die Treppe hinunter. Sie konnte nicht schlafen. Ihr ging viel zu viel im Kopf herum.
Sie wandte sich nach rechts, zum rückwärtigen Teil des Hauses, wo sich der große Konzertflügel befand. Wäre sie in ihrem Landhaus gewesen, sie wäre aufs Pferd gestiegen und hätte einen Nachtritt unternommen, um Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie vermisste die herrliche Landschaft um Polchester Hall, die Hügel, die Felder … in London war selbst ein kleiner Spaziergang unmöglich, sobald es dunkel geworden war.
»Du bist jetzt nun mal in London, also finde dich gefälligst damit ab«, schalt sie sich selbst.
Ihre Stimme hallte in dem großen Musikzimmer. Sie lief über den wunderbar dicken und warmen Teppich zum großen Erkerfenster und setzte sich auf das breite Fensterbrett.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Mann auf dem Ball zurück. War er derjenige, der mit ihr gesprochen hatte? Konnte er die Gedanken anderer hören? Hatte er ihre gehört?
So viele Fragen. Sie sehnte sich nach Antworten, und gleichzeitig fürchtete sie sich davor.
Vor allem jedoch fragte sie sich, wieso sie nicht selbst auf so eine Möglichkeit gekommen war. Wieso war sie nie auf den Gedanken gekommen, es könnte noch andere geben wie sie? Selbst wenn der Mann auf dem Ball nicht derjenige war, könnte es nicht sein, dass es andere gab?
Ein schwindelerregender Gedanke.
Aber wie fand man so einen Menschen? Er oder sie konnte überall sein. Vielleicht hatte sie ja schon einmal jemanden getroffen und es nicht gemerkt?
Möglichkeiten über Möglichkeiten … die sie alle nur noch verzweifelter und einsamer machten. Sie musste damit aufhören, bevor sie sich weiter hineinsteigerte. War sie nicht stolz auf ihre realistische Art? Nun, jetzt galt es mehr denn je, realistisch zu bleiben. Sie durfte nicht anfangen, mit offenen Augen zu träumen. Träume gehörten zum Schlafen, nicht zum Wachsein.
»Angelica?«
Sie blickte auf und sah ihren Bruder in der Tür stehen. Er war noch im Abendanzug. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie die Haustüre gar nicht gehört hatte.
Er schaute sie fragend an.
»Schönen Abend gehabt?«, fragte sie neckisch. Sie fand es zu komisch, wie er sich immer anstellte, wenn es um sein Sexualleben ging. Sie wussten beide, wo er gewesen war. Aber das hätte er nie zugegeben. Mikhail räusperte sich und ging dann zu ihr, setzte sich neben sie aufs Fensterbrett. »Nicht schlecht, ja. Was machst du hier?«
Angelica war fast sicher, dass sie, wäre es heller gewesen, eine leichte Röte auf seinen Wangen erblickt hätte. Sie zuckte die Schultern und zitierte aus ihrem Lieblingsgedicht von Anne Brontë: »I love the silent hour of night, for blissful dreams may then arise, revealing to my charmed sight, what may not bless my waking eyes.«
Mikhail runzelte besorgt die Stirn. »Ich glaube, Brontë meinte damit die süßen Träume, die man im Schlaf findet, Schwesterherz.« Er erhob sich und streckte seine Hand aus. »Komm, ich bring dich rauf in dein Zimmer.«
Angelica erhob sich ebenfalls und schaute zu ihrem Bruder auf. »Du findest, dass ich es vergessen sollte, nicht?«
Mikhail überlegte, dann nahm er sie in die Arme und sagte: »Ja, ich glaube, das wäre das Beste, Angel.«