10. Kapitel
Angst. Alexander spürte den unangenehmen Geschmack im Mund, während er über die gekieste Auffahrt auf James’ Residenz zuging.
»Willkommen, Clanführer.«
Der treue alte Butler des Herzogs von Atholl schwang die schweren Flügel des Eichenportals auf, bevor Alexander die Marmortreppe ganz erklommen hatte. »Sie werden bereits im Salon erwartet.«
Alexander nickte und eilte durch die prächtige Eingangshalle.
»Alexander.« James löste sich aus einer Gruppe von Vampiren und kam auf ihn zu, Besorgnis im Blick. Alexander sah sich um. Dreißig ebenso besorgte Mienen starrten ihm entgegen.
»Schon wieder eine Leiche?«
»Ein Vampir.«
Alexanders Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Aber da war mehr. James hatte noch nicht alles gesagt. Das Einzige, was schlimmer sein konnte …
»Wie hat sie der Vampirjäger erwischt?«
James schien nicht überrascht zu sein, dass Alexander die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hatte: Das Opfer war eine Frau, und sie war von einem Jäger getötet worden.
»Das wissen wir noch nicht so genau. Sie gehörte zum Südclan und war zu Besuch hier. Wir haben bereits eine Nachricht an Ismail geschickt, dass sie getötet wurde. Die Zeremonie wird noch heute Nacht stattfinden.«
So wollte es das Gesetz. Aber Alexander wünschte, sie müssten sich nicht mit einer Beerdigungszeremonie aufhalten, solange ein Vampirjäger frei herumlief.
Sein Blick wanderte über die anwesenden Vampire. Er blieb an Henry, Christophers Vater, hängen. Alexander winkte ihn heran und erteilte ihm seine Befehle.
»Du musst sofort zu Scotland Yard gehen und uns alles beschaffen, was sie haben: Spuren, Hinweise, was auch immer. Er ist ein Mensch, also wird er auch Spuren hinterlassen haben.«
»Jawohl, Prinz.« Henry machte sich sofort auf den Weg.
Nun wandte sich Alexander dem Rest der Anwesenden zu.
»Ihr habt nichts zu befürchten.«
Das Geflüster, die Unruhe im Raum erstarb. Die Angst war zwar nicht verschwunden, aber man hörte Alexander aufmerksam zu.
»Es ist nur ein Mann«, fuhr Alexander mit ruhiger, selbstbewusster Stimme fort, »aber es spielt keine Rolle, ob es zwei, zehn oder hundert sind. Wir sind schon mit Schlimmerem fertig geworden. Einige von euch waren damals dabei, andere wurden erst später geboren. Aber eins ist sicher: Wir haben das Zeitalter der Vampirjäger nicht beendet, um nun dabeizustehen und zuzusehen, wie ein neues anbricht!«
Die Stimmung war merklich entspannter, als Alexanders Blick nun die Runde machte, und er sah Vertrauen in den Mienen der Anwesenden.
»Heute Abend haben wir eine Genossin zu bestatten. Aber morgen wird aus dem Jäger ein Gejagter.«
James trat an seine Seite und nickte seinen Leuten zu. Diener gingen herum und servierten Gläser mit einer leuchtend roten Flüssigkeit.
James hob sein Glas. »Auf unseren Clan!«
Alexander folgte mit einem weiteren Toast: »Auf unsere Rasse!«
Dann kam die Antwort aller Anwesenden, der uralte Trinkspruch: »Auf die Auserwählten!«
»Alles ist für heute Nacht bereit. Ich hätte mir so gerne das Gelände draußen angesehen, wo man den Scheiterhaufen errichtet hat. Aber James will mich nicht mal aus dem Haus lassen!«, beschwerte sich Margaret, die Herzogin von Atholl, bei Alexander. Sie hatten sich in die Bibliothek zurückgezogen.
James bot Alexander das Sofa vor dem großen Fenster an. Dann ging er zu seiner zornigen Frau.
»Margaret, es ist nur zu deinem eigenen Schutz, das weißt du doch.«
Margaret hob skeptisch die Braue, dann versuchte sie, an Alexander zu appellieren.
»Alexander, mein Lieber, du kennst mich schon so lange. Was glaubst du? Bin ich in der Lage, unbehelligt zum Wald und wieder zurück zu gelangen?«
Alexander musterte die beiden und kam zu dem Schluss, dass es das Beste war, sich aus ihren ehelichen Streitigkeiten herauszuhalten.
»James weiß schon, was er tut, Margaret.«
»Ach, wie diplomatisch. Und wie öde! Du wirst aber auch immer langweiliger, Alexander. Jetzt führst du dich schon auf wie ein Clanführer.«
Alexander lachte, James schnaubte.
»Aber das ist Alexander nun mal, meine Liebe. Und langweilig ist das keineswegs. Was glaubst du, was Isabelle und Ismail sagen würden, wenn sie hörten, dass du sie als langweilig bezeichnest!«
»Na, dann eben nicht langweilig. Aber zu ernst. Viel zu ernst.«
»Dies sind nun mal ernste Zeiten, Margaret.« James klang so besorgt, dass seine Frau zu ihm eilte und seine Hand nahm.
»Ich weiß, Liebling. Nun, ihr habt sicher jede Menge zu besprechen, du und Alexander. Ich lasse euch jetzt also am besten in Ruhe.«
Alexander sah, wie James’ Blick weich wurde und seine Haltung sich entspannte. Sein Freund hatte sich innerhalb von Sekunden von einem besorgten Clanführer in einen bis über beide Ohren verliebten Ehemann verwandelt, und Alexander beneidete ihn darum. Er hatte das Alleinsein satt - eine an sich schon erstaunliche Erkenntnis. Er war doch immer gern allein gewesen. Nein, das stimmte nicht. Als Helena noch lebte, war er nie allein gewesen … aber seit sie ihn verlassen hatte, war ihm seine eigene Gesellschaft genug gewesen. Doch das schien sich nun zu ändern.
»Bis heute Abend, Alexander.« Margarets Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
»Bis heute Abend«, sagte er zerstreut, aber sie hatte das Zimmer bereits verlassen.
»Ich werde eine Liste möglicher Vampirjäger zusammenstellen.« James ging um seinen wuchtigen Schreibtisch herum und begann in den Schubladen zu wühlen. »Leider haben wir bis jetzt noch kaum Anhaltspunkte.«
Alexander trat ans Fenster und blickte nach draußen. Ein Pferdeknecht führte einen weißen Hengst über den Hof.
»Mach dir darüber keine Gedanken, James. Schreib einfach. Irgendwo müssen wir ja anfangen. Und wir werden den Mistkerl schnappen.«
James, der endlich Papier und Stift gefunden hatte, nickte.
»Dass er nicht arm ist, wissen wir. Das verrät uns der Stofffetzen, der an einem Ast hängen blieb. Was bedeutet, dass wir entweder nach einem wohlhabenden Geschäftsmann oder einem Adligen suchen.«
»Woher konnte er wissen, dass sie ein Vampir war?«, fragte sich Alexander laut. Er wandte sich vom Fenster ab und blickte den Herzog an, der eifrig etwas niederschrieb. »Wenn sie zu deinem Clan gehört hätte, könnte man vermuten, dass er sie längere Zeit beobachtet hat, bevor er zuschlug. Aber sie war doch nur auf Besuch hier in London.«
James blies auf die Tinte, dann blickte er auf. »Ja, das stimmt, aber sie hielt sich schon seit einiger Zeit in England auf. Sie bewohnte ein Herrenhaus am Rande von London und hat uns ein paar Mal besucht. Falls er uns beobachtet hat, könnte er sie durchaus gesehen haben.«
Das konnte sein, aber Alexander war nicht überzeugt. Etwas störte ihn an diesem Mord. Wenn der Jäger jemand anders attackiert hätte, hätte er mit weit mehr Widerstand rechnen müssen, da die Clanmitglieder strikte Order hatten, nirgends allein hinzugehen. Und selbst wenn es dem Jäger gelungen wäre, einen von ihnen allein abzupassen, wären die Hilfeschreie mit Sicherheit gehört worden …
»Hier, bitte sehr. Das sind die ersten Namen, die mir in den Sinn kamen. Es kursieren schon seit einiger Zeit Gerüchte, dass der sogenannte ›Bluträuber‹ kein Mensch sein soll. Meine Leute haben gehört, wie diese Personen hier das Wort ›Vampir‹ erwähnten.«
Alexander nahm die Liste, aber er bezweifelte, dass sie viel helfen würde. »Unser Jäger wird wohl kaum herumgehen und schwatzen.«
»Das stimmt, aber es ist ein Anfang.«
Alexander faltete das Papier zusammen und steckte es in seine Tasche. Dann straffte er die Schultern. Es gab viel zu tun, und die Zeit war knapp.
»Bis heute Abend.«
James nickte und trat hinter seinem Schreibtisch hervor. »Wenn Henry mit den Informationen von Scotland Yard zurückkommt, können wir vielleicht mehr tun. Ich bin sicher, dass ich dir bis morgen eine bessere Verdächtigenliste geben kann.«
»Gut. Dann bis später.«
»Alexander?«
Alexander, der bereits an der Tür stand, drehte sich noch einmal um. »Ja?«
»Sei vorsichtig.«
»Das bin ich immer.«