16. Kapitel
Angelica hatte sich in ihrem Leben schon oft heimlich aus dem Haus geschlichen, um einen Mondscheinritt zu unternehmen. Aus diesem Grund fiel es ihr auch nicht weiter schwer, aus ihrem Fenster im ersten Stock zu klettern. Nur das Kleid war etwas hinderlich; zu Hause auf dem Lande hätte sie einfach eine Hose von Mikhail angezogen.
Es war zwar nur ein fünfzehnminütiger Spaziergang zu Alexanders Haus in der Park Lane, doch sie bezweifelte, ob es ihr gelingen würde, ungesehen dorthin zu kommen. Nun, sie musste eben so schnell wie möglich gehen und sich auf der dunklen Seite des Gehsteigs halten.
Sobald ihre Stiefel den Boden berührten, zog sie die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Dann rannte sie zur Gartentür und spähte nach draußen auf die Straße.
Nichts. Niemand zu sehen.
Perfekt.
Angelica raffte ihre Röcke und rannte los.
Warum sie dabei den Atem anhielt, war ihr selbst ein Rätsel, aber es war jedenfalls keine gute Idee; als sie schließlich bei Alexanders Haus anlangte, war sie völlig außer Atem.
Das Tor war, wie nicht anders zu erwarten, versperrt.
Mist! Und jetzt? Wenn dieser verfluchte Kerl doch bloß ihre Nachricht gelesen hätte. Die Antwort, die sie vor einer Viertelstunde erhalten hatte, war einfach empörend. Er hatte nicht mal selbst geantwortet - sein Sekretär hatte es getan. Sie konnte sich an jedes Wort dieses unverschämten Schreibens erinnern, denn sie hatte es wieder und wieder gelesen:
Sehr geehrte Dame,
Prinz Kourakin ist derzeit leider nicht in der Lage, sich Ihrem
Schreiben zu widmen. Er wird es zu gegebener Zeit beantworten.
Seien Sie versichert, dass weder ich noch sonst jemand im Hause den
Brief gelesen hat.
Hochachtungsvoll,
Prinz Kourakins Assistent
Wenn Alexander Kourakin glaubte, sie so leicht loswerden zu können, dann hatte er sich geirrt! Auch wenn sie sich seinetwegen auf dem Ball so vergessen hatte - wie er das geschafft hatte, war ihr ebenfalls ein Rätsel - heute Nacht würde sie ihn zwingen, ihr von den anderen Gedankenlesern zu erzählen. Und wenn es das Letzte war, was sie tat!
Angelica blickte sich wütend um auf der Suche nach einem Weg hinein in das riesige Anwesen. Es wirkte düster, die Mauern abweisend und unüberwindlich. Aber wenn sie etwas aus all den Büchern über Kriegsführung gelernt hatte, dann dies: Keine Festung war uneinnehmbar. Und ein Stadthaus schon gar nicht.
Als Angelica einen Schritt auf das Tor zu machte, fiel plötzlich ein Mondstrahl auf sie.
Sie warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel und brummte: »›Das hat wahrhaftig nur der Mond verschuldet; er kommt der Erde näher, als er pflegt, und macht die Menschen rasend. ‹«
Ja, sie konnte Othello nur beipflichten.
Was tun? Was tun?
Da fiel ihr Blick auf einen ziemlich großen Baum, der seine Äste über die Mauer reckte. Sie hätte beinahe vor Freude in die Hände geklatscht.
»Perfekt, perfekt, perfekt!«
Ein besonders dicker Ast reichte ziemlich weit nach unten. Angelica stopfte ihre Röcke in ihren Gürtel und gab ihre nackten Beine der kühlen Nachtluft preis. Dann sprang sie. Schon beim zweiten Versuch gelang es ihr, den Ast zu greifen. Sie hievte, sie ächzte … sie zog sich hoch!
Nach einem Beinahe-Absturz und etlichen Abschürfungen an den Händen war sie endlich auf der Mauer. Ein Sprung, und sie stand im Garten.
Und jetzt?, dachte sie und musste an sich halten, um nicht laut zu lachen. Sie musste wirklich aufhören, so leichtsinnig zu sein. Was für eine Schnapsidee, nachts bei Alexander einzubrechen! Sicher, sie ärgerte sich, aber hätte sie nicht wenigstens noch ein paar Stunden warten können?
Das kam davon, wenn man wie ein Wildfang auf dem Lande aufwuchs und als Gesellschaft nur einen fast gleichaltrigen Bruder und reichlich nachgiebiges Personal hatte. Mit damenhaftem Benehmen hatte das hier ganz sicher nichts zu tun.
Zum Teufel mit damenhaftem Benehmen! Aber ihrer Tante lag so viel daran; manchmal wünschte Angelica sich, sie wäre etwas damenhafter, und sei es auch nur, um Lady Dewberry eine Freude zu machen. Sie hatte sich solche Mühe gegeben mit ihrer Erziehung …
Was war bloß los mit ihr? Stand da im Schatten der Mauer und argumentierte mit sich selbst! Das war so ziemlich das Dümmste, was sie machen konnte.
Fast so dumm, wie nachts über die Mauern fremder Häuser zu klettern.
Angelica gab sich einen Ruck und rannte lautlos über den Rasen auf eine kleine Tür zu. Sie schien in die Küche zu führen. Angelica musste sich den Mund zuhalten, um nicht in nervöses Kichern auszubrechen.
Sie hatte sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie sie ins Haus gelangen sollte, aber die Vordertür kam zu dieser späten Stunde natürlich nicht mehr in Frage.
Andererseits: Worüber hatte sie sich überhaupt Gedanken gemacht?
Während sie die Küchentür musterte, kam ihr eine
Idee, und im Stillen dankte sie Mikhail erneut dafür, dass er ihr
zum dreizehnten Geburtstag dieses herrlich unanständige Buch
geschenkt hatte: Dinge, die dir das Leben
retten könnten. Darin fanden sich jede Menge ungeschickter
Illustrationen von Dingen, von denen sie eigentlich gar keine
Ahnung haben dürfte. Zum Beispiel, wie man effektiver an Türen
horcht, indem man ein Glas ans Holz drückt und das Ohr ans Glas …
Oder Knoten, die nicht aufgehen, falls man sich mal an Bettlaken
abseilen muss … und natürlich ihr Lieblingskapitel:
Fünfundsechzig Verwendungszwecke
für Haarnadeln.
Angelica hob die Hand und zog eins dieser Wunderdinger aus ihrem Haar, dann machte sie sich daran, das Schloss aufzuknacken.
Das hatte sie zwar bis jetzt noch nie probiert, da es ihr immer ein wenig zwielichtig erschienen war, aber wenn schon Rochefoucauld sagte, dass man sich seiner größten Taten schämen würde, wenn die Welt nur deren Motive kannte - dann traf das Gegenteil doch sicher ebenfalls zu!
Ja, sie war dabei, ein Schloss aufzuknacken, aber es geschah schließlich für einen guten Zweck. Nein, sie würde sich nicht schämen, wenn man sie erwischte und sie ihre Gründe erklären müsste. Zumindest glaubte sie, dass sie sich nicht schämen würde … War Neugier ein ehrenhaftes Motiv? Gott, sie musste aufhören, so viel zu denken!
Mit einem leisen Knacken, das in Angelicas empfindlichen Ohren nichtsdestotrotz durchs ganze Haus zu schallen schien, gab das Schloss schließlich nach.
Angelica hielt den Atem an.
Sie wollte nicht erwischt werden, bevor sie nicht vor Alexander gestanden und gesagt hatte, was sie zu sagen hatte.
Angelica zog lautlos die Tür auf und schlich sich in die stockfinstere Küche.
Dieser Raum war, ebenso wie das gesamte Haus, riesengroß. Ihr kam der Gedanke, wie einsam man sich fühlen musste, wenn man ganz allein in einem so großen Haus wohnte … Andererseits, sie wusste ja gar nicht, ob Alexander allein wohnte. Ob er verheiratet war? Der Gedanke fuhr wie ein Messer in ihr Herz, und sie blieb abrupt stehen.
Nein, er konnte nicht verheiratet sein.
Oder?
»Jetzt reiß dich aber zusammen!«, schalt sie sich flüsternd.
Hastig errichtete sie eine Mauer um ihre Gedanken, denn ihr war eingefallen, dass sich ja noch andere Gedankenleser im Haus aufhalten könnten. Was schließlich auch der Grund für ihr Hiersein war, wie sie sich ermahnte. Sie wollte herausfinden, ob es mehr Menschen wie sie und Alexander gab.
Ihr Magen zog sich vor Aufregung zusammen, wenn sie nur an diese Möglichkeit dachte … Sie fasste Mut und schlich durch die Küche und in die Eingangshalle hinaus. Auch dort war es drückend finster, und sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
Rechts und links von ihr gingen mehrere Türen ab, aber nur unter der letzten kam ein Lichtschimmer hervor.
Also los. Es wurde Zeit, die ganze Wahrheit herauszufinden.
Mit schneller werdenden Schritten huschte Angelica auf die Tür mit dem Lichtschimmer zu. Sie wollte gerade die Hand auf die Klinke legen und eintreten, als ihr eine innere Stimme im letzten Moment davon abriet.
Unschlüssig stand sie einen Moment lang da.
Dann bückte sie sich und spähte durchs Schlüsselloch.
Und keuchte entsetzt auf, ein Laut, den sie unmöglich hätte unterdrücken können.