7. Kapitel

 

Tut mir schrecklich leid, meine Lieben, aber in diesem Zustand ist es mir unmöglich, euch zu begleiten!«

Lady Dewberry hielt sich ein Spitzentaschentuch an die rosa Nasenspitze und schniefte dramatisch. »Kümmere dich bitte um deine Schwester, Mikhail. Und lass sie um Gottes willen nicht wieder aus den Augen!«

Mikhail hob die Hand der älteren Dame an die Lippen und sagte mit einem spitzbübischen Grinsen: »Dein Wunsch sei mir Befehl, liebe Tante. Obgleich ich sagen muss, dass wir dich schrecklich vermissen werden!«

Lady Dewberry wurde so rot wie ihre Nase. Sie entzog ihm ihre Hand und schimpfte halbherzig: »Mach, dass du fortkommst, du Frechdachs!«

Angelica stand daneben und beobachtete das Geplänkel der beiden wie aus weiter Ferne. Morgens beim Aufwachen war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie sich den gestrigen Vorfall bloß eingebildet hatte. Ihre Fantasie war vermutlich mit ihr durchgegangen, das war die einzige Erklärung. Aber jetzt, wo sie mit gedankenlesenden Männern Schluss gemacht hatte, galt es, sich wieder auf die heiratsfähigen zu konzentrieren.

Wieder und wieder sagte sie sich, dass es richtig von ihr war, Mikhail ihre finanzielle Situation zu verschweigen. Nein, es wäre zu gefährlich für ihn; sie durfte es nicht riskieren. Ach, verflucht! Sie musste überlegen. Der Viscount war aus dem Rennen, so viel war klar. Dann wären da noch ein, zwei, die in Frage kämen … und Lord Nicholas Adler, vorausgesetzt, dass er reich genug war. Sie würde sich heute Abend ein wenig nach ihm erkundigen. Diskret natürlich.

Auf einmal machte es ihr gar keinen Spaß mehr, ins Theater zu gehen. Angelica sehnte sich mehr denn je nach Polchester Hall. Die Intrigen, das Gewimmel von London waren einfach zu viel für sie. Es war zu viel!

»Angelica, hast du was gesagt?«

Angelica fuhr zusammen und merkte, dass Lady Dewberry und Mikhail sie fragend ansahen. Sie musste wohl laut gedacht haben. »Ich … ich wollte nur sagen, ich glaube, wir sollten lieber aufbrechen, sonst kommen wir noch zu spät. Wie hat schon König Ludwig der XIII. gesagt: Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.«

Lady Dewberry nickte würdevoll, Mikhail dagegen schien weniger überzeugt zu sein.

 

Die Fahrt zum Theater verlief schweigsam, beide waren in nachdenklicher Stimmung, bis Mikhail plötzlich sagte: »Angelica, sprich mit mir.«

Angelica war so in Gedanken versunken, dass es ein paar Augenblicke dauerte, bevor sie reagierte. »Tut mir leid, dass ich so abwesend bin, Mikhail, aber mir geht einfach viel im Kopf herum.« Zu ihrer Überraschung musste sie gegen jähe Tränen ankämpfen. Was war bloß los mit ihr?

Mikhail, der ihr gegenübersaß, beugte sich vor und legte seine Hand auf die ihre. »Erzähl mir, was dich belastet, Angel, lass mich helfen. Was ist es? Geht es um den gestrigen Vorfall?«

»Ich …«

Mikhail schob einen Finger in seinen Kragen, der ihm offenbar zu eng war. Ja, ein genauerer Blick überzeugte Angelica davon, dass er Schwierigkeiten hatte, Luft zu bekommen.

»Mikhail, ist es …«

»Es ist nichts, Angelica!« Mikhail merkte selbst, wie scharf sein Ton war, und er versuchte, wieder ruhiger zu atmen. »Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen. Und jetzt erzähl, was du auf dem Herzen hast.«

Es kam ihr wie Verrat vor, ihm die ganze Geschichte zu verschweigen, aber sie konnte es einfach nicht riskieren. Anlügen wollte sie ihn allerdings auch nicht.

»Es ist nichts weiter. Ehrlich, ich möchte lieber selbst damit fertig werden. Ich verlasse mich schon viel zu lange auf dich.«

Sie schaute flehend in seine blauen Augen, die den ihren so sehr ähnelten. »Bitte versteh doch. Ich bin einundzwanzig Jahre alt. Andere in meinem Alter haben bereits Kinder. Das Mindeste, was ich tun kann, ist aufzuhören, mich wie eins aufzuführen.«

Mikhail lehnte sich ins Lederpolster der Kutsche zurück. Wenn Angelica nicht genau hingesehen hätte, sie hätte sein unmerkliches Nicken übersehen.

»Wir sind fast da. Wo hast du deinen Schal? Komm, gib ihn mir, ich lege ihn dir um.«

Angelica reichte ihm ihren dunkelgrünen Schal, der zur Farbe ihres Kleides passte, ließ ihn jedoch nicht los. Er schaute sie fragend an.

»Ich vergesse es manchmal, aber habe ich dir in letzter Zeit gesagt, dass ich den besten Bruder der Welt habe?«

Mikhail schwieg einen Moment, dann seufzte er. Es fiel ihm nicht leicht, die Zurückhaltung seiner Schwester zu akzeptieren. Er hatte sich immer um sie gekümmert. Er kümmerte sich gern um sie. Nun, vielleicht hatte sie ja gar nicht so unrecht. Vielleicht behütete er sie zu sehr. Und sie ihn. Vielleicht sollten sie allmählich anfangen, jeder sein eigenes Leben zu führen.

Er lachte und schüttelte diese ernsten Gedanken mit einem Schulterzucken ab.

»Du bist ein Biest, Prinzessin Belanow! Dann behalte eben deine Geheimnisse für dich. Aber solltest du in Gefahr sein und nicht sofort und auf der Stelle zu mir kommen, dann werde ich dir deinen süßen Hintern versohlen!«

Angelica grinste, denn sie erkannte die leere Drohung als das, was sie war. Dann blickte sie erleichtert zum Fenster hinaus, zur Fassade des Lyceum-Theaters.

»Fandest du es nicht auch ein klein wenig verdächtig, dass Tante Dewberry gerade dann ihre Krise gekriegt hat, als sich herausstellte, dass wir ins Lyceum wollen?«

Mikhail musterte die Schlange, die sich vor den hohen Eingangstüren gebildet hatte. Er nickte.

»Tantchen fände es unter ihrer Würde, ein Theater zu besuchen, das weniger grandios ist als das Theatre Royal. Daran kann nicht einmal die Tatsache etwas ändern, dass der große Henry Irving höchstpersönlich die Hauptrolle spielt.«

Angelica konnte ihm nur zustimmen und kletterte aus der Kutsche.

In diesem Moment erhob sich eine laute Stimme über den Lärm der Wartenden: »Herzlich willkommen, Ladies und Gentlemen, zu unserem neuen Stück The Bells!« Eine Stunde später war jeder Funken von Zuneigung zu ihrem kleinen Bruder in ihr erloschen. Mikhail, dieser Schuft, war einfach verschwunden und hatte sie mit diesem arroganten Lord, den er ohne ihr Wissen in ihre Loge eingeladen hatte, sitzen gelassen.

Zugegeben, der Mann hatte einen reinrassigen Stammbaum, aber er war der überheblichste Snob, der ihr je untergekommen war.

»Also, wie gesagt, Lady Shelton … oder sollte ich Prinzessin Belanow sagen? Was würden Sie vorziehen, meine Liebe?« Lord Anthony Hettinger zwirbelte seinen Schnurrbart und musterte sie durch sein Monokel.

Angelica warf zum fünfzehnten Mal in ebenso vielen Minuten einen hilfesuchenden Blick zum Vorhang, der ihre Loge vom Gang abteilte.

»Das spielt wirklich keine Rolle«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie musste sich wirklich beruhigen, denn wenn sie Lord Anthonys Gedanken noch länger lauschte, müsste sie sich übergeben.

Dieser fürchterliche Mensch hatte während der ganzen letzten Stunde nur an eins denken können: wie vorteilhaft - oder nicht vorteilhaft - eine Verbindung mit ihr wäre, sowohl finanziell als auch was den gesellschaftlichen Status betraf, der ihm daraus erwachsen würde. Er schien nichts dagegen zu haben, eine blaublütige russische Prinzessin in seinen Stammbaum aufzunehmen; sein einziges Problem war ihre Augenfarbe.

Tatsächlich tobte in seinem Inneren ein Kleinkrieg. Die Aussicht, möglicherweise blauäugige Kinder zu bekommen, stieß ihn ein wenig ab, waren die Hettingers doch immer dunkeläugig gewesen. Nun, dies galt es sorgfältig zu bedenken.

»Vielleicht sollte ich Sie ja Angelica nennen«, spekulierte Lord Anthony, ohne sie aus den Augen zu lassen. Falls er glaubte, sich solche Freiheiten bei ihr herausnehmen zu können, dann hatte er sich getäuscht!

Schärfer als beabsichtigt sagte sie: »Ich kenne Sie ja kaum, Lord Anthony. Ich denke nicht, dass eine solche Vertraulichkeit angebracht wäre.«

Erst als der Lord daraufhin zufrieden lächelte, erkannte sie ihren Fehler und fluchte innerlich. Mist! Dem Kerl gefiel es, dass sie so konservativ und zugeknöpft war. Wahrscheinlich, weil er selbst nicht anders war. Was für ein trüber Gedanke!

Wo blieb nur Mikhail? Eine Frechheit, ihr einfach diesen Mann vor die Nase zu setzen und dann zu verschwinden. Sobald er auftauchte, würde sie ihm ordentlich eins hinter die Ohren geben!

Ein Prickeln im Nacken veranlasste sie, sich dem Zuschauerraum zuzuwenden. Man unterhielt sich, ging von Gruppe zu Gruppe, nutzte die Pause für einen Plausch. Ihr Blick glitt über Rüschen und frisch gestärkte Krägen - bis er an einem Augenpaar hängen blieb, das sie so schnell nicht vergessen würde.