20. Kapitel
James, du hast mir verschwiegen, dass es unsere Prinzessin Belanow hier an Schönheit sogar mit diesem Aphrodite-Bild aufnehmen kann, das du in deinem Studierzimmer vor mir versteckst!«
Angelica errötete und machte einen tiefen Knicks vor der Herzogin von Atholl. Sie war schrecklich nervös, spätestens seit sie vor dem riesigen Anwesen vorgefahren und die beeindruckende Freitreppe hinaufgestiegen war. Sie hatte Mikhail vor ihrer Kutsche getroffen. Aber feststellen zu müssen, dass er glaubte, sie wären zusammen hergekommen, war, gelinde gesagt, verstörend. Ihr Bruder redete mit ihr, als ob nichts geschehen wäre, und es war Angelica, der es schwerfiel, dieses Spiel überzeugend mitzuspielen.
Und als sie nun schließlich vor dem Herzog und der Herzogin stand, war ihr Magen ein einziger Knoten, und ihr Gesicht ähnelte einer blassen Tomate!
»Ach, stehen Sie doch auf, Angelica, ich bitte Sie! Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie Angelica nenne? Im Gegensatz zu meinem aufgeblasenen Ehemann halte ich nicht viel von Formalitäten, und wir werden schließlich viel Zeit miteinander verbringen.«
Angelica warf einen verstohlenen Blick zum Herzog, der soeben Mikhail begrüßt hatte und seiner Frau nun einen erzürnten Blick zuwarf.
Als er wenig später Angelica begrüßte, sagte er vertraulich: »Achten Sie nicht auf meine Frau, Prinzessin Belanow. Sie ist schwanger.« Er schüttelte Angelica die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
Der Herzog musterte sie freundlich, und Angelica fiel es schwer, zu glauben, dass er gestern Abend in Alexanders Haus dabei gewesen war und zu jenen gehört hatte, die ihren Tod in Erwägung gezogen hatten.
»Ich habe zu danken, Eure Hoheit«, antwortete Angelica höflich.
»Ach, nur nicht so steif - nennen Sie ihn ruhig James!«, warf die Herzogin ein.
Angelica, die sehr überrascht war über die Art, wie die Herzogin mit dem Herzog redete, musste sich ein Lachen verkneifen.
»Margaret, wir sind in hoher Gesellschaft!«
»Bah! Das ist doch nur Angelica. Und ihr Bruder wartet schon auf sie, siehst du? Gottchen, jetzt ist mir der Name dieser imposanten Dame entfallen, die bei ihm steht …«
»Lady Dewberry.« Angelica musste die Lippen zusammenpressen, um nicht loszulachen.
»Ach, ja! Na jedenfalls, mein lieber Gatte, muss man schon blöd sein, um nicht zu merken, wie sehr dieses reizende Mädchen durch dein Verhalten gestern Abend verletzt wurde!«
James funkelte seine Frau finster an. Angelica war das Lachen im Hals stecken geblieben.
»Das ließ sich nicht vermeiden. Du kennst unsere Gesetze«, sagte er so leise, dass es die Umstehenden nicht hören konnten.
»Piffpaff, James Atholl! Wenn ich da gewesen wäre - wie es auch mein Wunsch war, wenn ich das hinzufügen darf -, dann wären unfeine Worte wie ›sterben‹ gar nicht erst gefallen.«
James gab es auf, seiner Frau mit Vernunftgründen beikommen zu wollen. Immerhin nahm er sich kurz Zeit, Angelica gegenüber auf die Sache einzugehen.
»Ich weiß, Sie wissen wenig über uns und unsere Gepflogenheiten, Angelica, aber Sie werden schon noch lernen, wie wichtig unsere strengen Gesetze sind - selbst wenn wir oftmals bedauern, sie durchsetzen zu müssen.«
Als er sah, dass seine Frau schon wieder etwas sagen wollte, legte er seine Hand auf ihre Schulter, und sie schloss den Mund.
Die sorglose Aura, die ihn umgeben hatte, war auf einmal verschwunden, und vor ihr stand der Anführer des Nordclans der Vampire, wie Angelica klar wurde.
»Wie dem auch sei, es tut mir leid, dass wir Ihnen solche Angst gemacht haben. Ich versichere Ihnen, nun da Alexander Ihr Führer ist, wird Ihnen niemand ein Haar krümmen, weder Mensch noch Vampir.«
Angelica wusste nicht genau, was der Herzog damit meinte, aber sie merkte, dass es ihm aufrichtig leid tat, und das versöhnte sie ein wenig.
»Ach, papperlapapp«, meinte Margaret obenhin. »Sei doch so gut und halte bitte die Stellung, mein Schatz«, sagte sie zu ihrem Gatten. »Ich möchte Angelica ein wenig herumführen.«
»Margaret! Wir haben Gäste zu begrüßen!«
Die Herzogin hob eine aristokratische Braue. »Nun, mein Lieber, dann sagst du eben, dass ich schwanger bin; sie werden das schon verstehen.« Mit diesen Worten hakte sie sich bei Angelica unter und segelte mit ihr davon, bevor James noch ein weiteres Wort äußern konnte.
»Wird er denn nicht böse auf Sie?«, fragte Angelica verwundert, während die Herzogin mit ihrem Schützling auf Lady Dewberry und Mikhail zusteuerte.
»Meine Liebe, er hat Angst, in meinem ›Zustand‹ böse auf mich zu werden«, erwiderte die Herzogin fröhlich.
»Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, fragte Angelica verblüfft.
»Nichts.« Margaret zuckte die Schultern. »Aber mein süßer James hat es sich in den Kopf gesetzt, dass Schwangere so etwas wie Invaliden sind. Er lässt mich nicht mal einen Teller anheben, und jetzt redet er sich auch noch ein, dass er mich in keinster Weise verärgern darf, da es dem Kind schaden könnte.«
Angelica musste lachen, und die Herzogin zuckte die Schultern. »Da dies die einzige seiner Spinnereien ist, die mir tatsächlich nützt, hüte ich mich, sie ihm auszureden.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Euer Hoheit, aber ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.«
Sie hatten die beiden Wartenden nun beinahe erreicht, und Margaret warf ihnen ein strahlendes Lächeln zu.
»Soll das heißen, Sie haben sich keine hübsche Brünette mit großen Brüsten und einem noch größeren Bauch vorgestellt?«
Angelica musste abermals lachen. Plötzlich war ihre Nervosität vollkommen verschwunden, und das hatte sie dieser sehr unkonventionellen Frau zu verdanken, die kein Jahr älter als vierzig aussah und mehr als nur ›hübsch‹ war.
»Ich muss mich bedanken, Hoheit, dass Sie uns unsere Angelica gebracht haben.«
Lady Dewberry strahlte wie eine zufriedene Glucke. Es freute sie, dass eine so hochgestellte Persönlichkeit wie die Herzogin von Atholl so offensichtlich an ihrer Nichte Gefallen gefunden hatte. Sie konnte es kaum abwarten, diese Neuigkeit überall herumzuerzählen.
»Ach, ich fürchte, ich muss Sie noch ein Weilchen vertrösten. Ich habe es mir in den Kopf gesetzt, Angelica das Haus zu zeigen.« Margaret lächelte zuerst die ältere Dame, dann den jungen Prinzen an.
Mikhail betrachtete seine Schwester voller Stolz, und Lady Dewberry beeilte sich zu versichern, dass das überhaupt nichts ausmache.
»Niemandem hier würde ich meine Nichte bereitwilliger anvertrauen als Ihnen, Eure Hoheit«, versicherte Lady Dewberry mit großem Ernst.
»Ihr kränkt mich, Madam!«, rief Mikhail mit geheuchelter Empörung. »Soll das heißen, dass man mir meine eigene Schwester nicht mehr anvertrauen würde?«
Margaret lachte, Lady Dewberry dagegen begann zu stottern: »Prinz Belanow! Du weißt ganz genau, dass ich nie …«
Angelica legte beruhigend die Hand auf den Arm der älteren Dame und warf ihrem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wir wissen alle, dass du nicht gemeint hast, was mein taktloser Bruder anzudeuten versucht.«
»Taktlos? Ja, weißt du denn gar nicht, dass …«
»›Schweigen zur rechten Zeit ist beredter als die eloquenteste Ansprache‹«, zitierte Angelica einen Satz von Martin Tupper und schnitt ihrem Bruder damit das Wort ab.
Mikhail grinste unbeeindruckt. »Und wer hat gesagt, dass Schweigen die Tugend von Narren ist?«
»Wahrscheinlich ein Mann, der sich selbst gern reden hört«, ging Margaret auf das Geplänkel ein. Sie zwinkerte Angelica zu.
Einige Zeit später saß Angelica mit der Herzogin in einer Ecke des riesigen Ballsaals und beobachtete die Tanzenden.
Es war das erste Mal, dass Schweigen zwischen ihnen herrschte, seit sie sich von Mikhail und Lady Dewberry getrennt hatten. Angelica stellte erstaunt fest, wie viel Spaß sie in der vergangenen Stunde gehabt hatte.
Die Herzogin, die darauf bestand, dass Angelica sie Margaret nannte, war die ungewöhnlichste, exzentrischste Frau, der sie je begegnet war. Sie sagte, was immer sie wollte, wann immer sie wollte - und niemand schien sich an ihrer auffallend unkonventionellen Art zu stören, im Gegenteil: Die Herzogin schien gerade in den erlauchtesten Kreisen sehr beliebt zu sein, wie Angelica in der vergangenen Stunde, in der sie allen möglichen Notabeln vorgestellt worden war, feststellen konnte.
»Sie sind tief in Gedanken, meine Liebe«, bemerkte Margaret und nahm einen Schluck Punsch.
Angelica fingerte an ihrem veilchenblauen Kleid herum. Sie fragte sich, ob sie es wagen konnte, über das zu reden, was ihr schon den ganzen Abend im Kopf herumging.
»Darf ich offen sein?«
Die Herzogin schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Aber natürlich, meine Liebe, sprechen Sie ganz offen - ich tu’s ja auch!«
»Ich weiß nicht, was ich jetzt zu erwarten habe, wo … wo ich einen Beschützer habe.«
Margaret verstand sofort, was sie meinte. Sie drehte sich zur Seite, um ihrem Gegenüber in die Augen blicken zu können. »Was haben Sie denn zuvor getan?«
Wo anfangen? Es war schwer, die Herzogin einzuschätzen, und Angelica wusste nicht, wie diese auf ihre Geschichte reagieren würde. »Ich bin auf Bitten meines Bruders nach London gekommen. Er hat vor kurzem sein Universitätsstudium beendet und, nun ja, er machte sich Sorgen wegen meines unkonventionellen Lebensstils.«
Die Herzogin hob eine Braue - die Aufforderung an Angelica fortzufahren.
»Unsere Eltern starben, als wir noch sehr jung waren. Unsere einzige noch lebende Verwandte, Lady Dewberry, hat eine Abneigung gegen das Landleben und gegen Kinder. Sie besuchte uns, so oft sie konnte, aber im Grunde sind Mikhail und ich in der Obhut der Dienerschaft aufgewachsen.
Als Mikhail dann zur Schule und später auf die Universität geschickt wurde, war ich mehr oder weniger allein, und so beschloss ich, das zu tun, was mir am meisten Spaß machte: Lesen, Reiten und Klavierspielen.«
Angelica rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. Soweit sie feststellen konnte, war die Herzogin nicht schockiert. Aber Angelica wusste, dass die meisten Menschen ihre Erziehung - oder besser den Mangel derselben - schlicht für skandalös halten würden.
Die Herzogin sagte nichts, gab Angelica aber einen Wink fortzufahren.
»Deshalb hat Mikhail auch darauf bestanden, dass wir nach London ziehen«, fuhr Angelica tapfer fort. »Wahrscheinlich hoffte er, dass ich mich in eine Art Society-Schmetterling verwandeln würde und das täte, was alle Frauen tun sollen, wenn ich nur erst einmal hier wäre.«
»Und was, bitteschön, sollen alle Frauen tun?«, erkundigte sich die Herzogin belustigt.
»Na, heiraten natürlich. Und glauben Sie mir, Hoheit, Heiraten war das Letzte, wonach mir der Sinn stand.«
»Ich sagte doch, Sie sollen mich Margaret nennen! Wenn Sie das noch mal vergessen, müssen wir uns duzen!« Die Herzogin lachte über Angelica, die wieder einmal tomatenrot geworden war. Es fiel ihr schwer, die eingetrichterten Benimmregeln so einfach abzuschütteln.
»Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie tun wollen.«
»Nun ja … gewisse … gewisse Notwendigkeiten haben mich dazu veranlasst, meine Meinung übers Heiraten zu ändern.« Sie holte tief Luft. »Ich bin also auf der Suche nach einem Ehemann.« Sie blickte zur anderen Seite des Saals hinüber, wo einige weißgekleidete junge Mädchen sittsam an der Wand saßen und darauf warteten, von einem geeigneten jungen Mann zum Tanzen aufgefordert zu werden. »Es ergeht mir nicht anders als diesen Debütantinnen«, sagte sie bekümmert.
Margaret stieß ein höchst undamenhaftes Schnauben aus. »Machen Sie sich nicht lächerlich, meine Liebe! Das Einzige, was Sie mit diesen jungen Hühnern gemeinsam haben, ist das Geschlecht. Mit Ihrer Schönheit, Ihrem Titel und Ihrem Vermögen sollte es Ihnen nicht schwerfallen, einen Mann zu finden. Ehrlich gesagt, es erstaunt mich, dass es Ihnen nicht längst schon gelungen ist.«
Angelica legte die Hände an ihre heißen Wangen. Sie zuckte die Schultern. »Zuerst konnte ich keinen finden, der mir geeignet erschien. Ich hörte ihre Gedanken, und die handelten nur von … von weiblichen Körperteilen, wenn sie mit mir redeten.«
Die Herzogin brach in herzliches Gelächter aus; ihr dicker Bauch wippte fröhlich auf und ab. »Na, daran sind Sie selbst schuld. Was müssen Sie auch ihre Gedanken lesen! Kein Wunder, dass Sie noch nicht verheiratet sind. Männer sind nun mal Männer, meine Liebe. Die schauen sich zuerst mal die Figur der Frau an, aber die guten brauchen nicht lange, bis sie die anderen Qualitäten ebenfalls zur Kenntnis nehmen.«
Angelica nickte. »Es geschah ja nicht aus Absicht. Ich hörte ihre Gedanken ganz unfreiwillig - ich wusste nicht, wie ich es verhindern kann. Ich habe das erst vor kurzem von Alexander gelernt.«
Margaret lachte erneut, doch als sie sah, dass Angelica völlig ernst blieb, verstummte sie.
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Doch.«
»Ach, du meine Güte …« Die Herzogin brach ab, denn sie erkannte, dass die Frau vor ihr kein Mitgefühl akzeptieren würde. »Man hat mir gesagt, Sie hätten einen sehr starken Geist - aber wie stark, ich glaube, das ist keinem von uns richtig klar. Bitte sprechen Sie weiter, Angelica. Was möchten Sie jetzt tun? Sie wollen sich also einen Ehemann suchen?«
Angelica zögerte nicht. »Ja.«
»Kein Problem!« Margaret klatschte begeistert wie ein kleines Mädchen in die Hände. »Das kriegen wir hin - und es wird ein Spaß, glauben Sie mir!«
Angelica fiel es schwer, zu glauben, dass es so leicht werden könnte. Aber warum eigentlich nicht?, fragte sie sich plötzlich. Warum sollte es nicht möglich sein? Was Mikhail betraf, hatte Alexander bereits recht behalten. Ihr Bruder war nicht im Geringsten besorgt, ja, er war sich nicht einmal bewusst, dass sich etwas in ihrem Leben geändert hatte. Und Joanna hatte auch gemeint, sie solle einfach so weiterleben wie bisher … die Herzogin sagte jetzt dasselbe. Vielleicht, ja, vielleicht würde das alles ja gar nicht so schlimm werden, wie es ihr auf den ersten Blick erschienen war …
»Glauben Sie wirklich, dass ich einen Ehemann finden kann, trotz … all dem?«
»Aber natürlich! Sie werden ja jetzt viel Zeit mit mir verbringen. Ich treffe sehr viele Leute, und an heiratsfähigen Männern herrscht kein Mangel!«
Margarets Lächeln war ansteckend.
»Ich danke Ihnen, Margaret.«
»Ach, keine Ursache.« Sie warf ihrem Schützling einen gewieften Seitenblick zu. »Und wenn wir uns besser kennen, meine Liebe, werden Sie mir vielleicht ja auch verraten, was Sie dazu bewogen hat, Ihre Meinung übers Heiraten zu ändern …«
»Vielleicht«, antwortete Angelica ausweichend. Sie war nicht bereit, über ihre finanziellen Nöte zu sprechen, zumindest nicht, bevor sie selbst alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte.
Heiraten, heiraten, dachte sie müde und verlor ihre neugewonnene Heiterkeit.
»Ah, da bist du ja.« Die Herzogin blickte über Angelicas Schulter, was diese dazu veranlasste, sich umzudrehen.
»Margaret.«
Alexander machte eine formvollendete Verbeugung und gab ihr einen Handkuss. »Ich hoffe, es geht dir gut.«
»Sehr gut, wie du siehst.« Sie tätschelte ihren dicken Bauch.
Alexander nickte und richtete seinen Blick dann auf Angelica.
»Prinzessin Belanow.« Noch eine Verbeugung.
»Prinz Kourakin«, antwortete sie nach kurzem Zögern ebenso formell. Warum nur hatte er eine derartige Wirkung auf sie? Ihr ganzer Körper begann zu zittern in seiner Gegenwart, und ihre Sinne waren wie betäubt, wenn sie seinen Geruch wahrnahm.
Alexander richtete seine nächsten Worte zwar an Margaret, doch ließ sein Blick Angelica dabei nicht los. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich wäre dir dankbar, wenn du James ausrichten könntest, dass ich seine erste Liste noch heute Abend durchgearbeitet haben werde.«
Angelica verstand zwar nicht, was er damit meinte, doch das kümmerte sie nicht weiter - sie war zu abgelenkt. Gott, der Mann sah umwerfend aus, in seinem schwarzen Smoking und den dichten, dunklen Haaren, die sich im Nacken ein wenig kräuselten. Wie die sich wohl anfühlten? Sie hätte zu gerne ihre Finger darin vergraben …
Plötzlich tauchte Alexanders Hand unter ihrer Nase auf und ließ die in bewundernde Betrachtungen versunkene Angelica aufschrecken.
»Darf ich bitten?«
Ob sie überhaupt ablehnen durfte, jetzt, wo er ihr »Führer« war, was immer das auch sein mochte? Nun, so oder so, es spielte keine Rolle, denn sie hatte nicht vor, nein zu sagen.
»Ja, gern.«
Sie legte ihre Hand in die seine, doch diesmal war sie auf das Kribbeln vorbereitet, das sofort ihren Arm hinauflief.
Kurz darauf drehten sie sich anmutig zu Walzerklängen auf der Tanzfläche.
»Und wie war der Abend so weit?«, fragte Alexander, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Sie musste ihren Kopf zurücklegen, um ihm in die Augen sehen zu können.
»Ist das die höfliche Art zu fragen, ob ich der Herzogin auf die Nerven falle?«
Alexander antwortete nicht. Er kam zwar mit wenigen Stunden Schlaf aus, doch in den letzten Tagen hatte er gar keinen gefunden. Er hatte keine Lust, sich zu streiten.
»Wie ich sehe, hast du deine Angst vor mir verloren.«
»Ich habe keine Angst vor dir!«
Und das stimmte. Aber warum dies so war, hätte Angelica nicht sagen können, und das machte sie unsicher. Daher wechselte sie das Thema. »In der Widmung dieses Buches steht etwas über die ›Auserwählten‹. Wer ist damit gemeint?«
Alexander wirbelte sie über die Tanzfläche. Dabei fielen ihm die vielen neidvollen Gesichter der anderen Männer auf. Gereizt antwortete er: »Die Auserwählten sind ein besonderes Menschengeschlecht, das eines Tages erscheinen und uns Vampire vor dem Aussterben bewahren wird.«
»Aussterben? Ich begreife nicht …«
»Ich habe zu tun. Ich bin sicher, Margaret wird dir alle deine Fragen bereitwillig beantworten.«
Er tanzte sie an den Rand, dann winkelte er seinen Arm ab und hakte sie unter.
»Kiril wird dich zum Haus zurückbringen. Ich habe ein paar von deinen Sachen in dein neues Zimmer bringen lassen; du musst also nicht erst nach Hause, wenn du dich umziehen willst, so wie heute vor dem Ball.«
Sie schritten an zwei offenen Terrassentüren vorbei. Ein frischer Frühlingshauch wehte herein, der Angelicas erhitzte Wangen kühlte.
»Aber wie...« Angelica hielt inne. An seiner Miene erkannte sie, dass dieser arrogante Kerl ihr nicht einmal zuhörte. Sie hätte ihm am liebsten eins mit der Bratpfanne übergezogen!
»Angelica?« Er sagte ihren Namen leise, mit plötzlich sanfter Stimme. Sie hatten Margaret fast erreicht.
»Ja?«
»Du siehst wunderschön aus heute Abend.«
Es war gut, dass Alexander sich gleich darauf verabschiedete, denn Angelica stand der Mund offen, und ihre Hände waren ganz feucht geworden.
»Sie sehen ein wenig erhitzt aus, meine Liebe.«
Angelica musste sich einen Ruck geben, um sich auf die Herzogin konzentrieren zu können.
»Ach, es ist nichts weiter. Ich habe bloß nachgedacht.«
Die Herzogin musterte sie forschend, dann winkte sie einem jungen Mann, den Angelica jetzt erst bemerkte.
»Peter, das ist Prinzessin Belanow.« Dann sagte sie zu Angelica, ein diebisches Funkeln in den Augen: »Lord Kingsley ist der Sohn eines guten Freundes.«
Lord Kingsley ergriff ihre Hand und beugte sich darüber. »Dürfte ich die Prinzessin um diesen Tanz bitten?«
Angelicas Blick huschte von der Herzogin zu dem lächelnden Mann. Er sah mehr als gut aus und schien obendrein nett zu sein. Nun, sie würde mit ihm tanzen, und sei es auch nur, um sich von Alexander abzulenken.
»Aber gern.«
Mitternacht war längst vorbei, als Kiril schließlich auf sie zutrat, um sie nach Hause zu geleiten.
»Erstaunlich, nicht? Es ist fast drei Uhr morgens, und keiner will gehen!«
Kirils Blick schweifte über den noch immer recht vollen Ballsaal, aber er ging nicht auf ihren Kommentar ein. »Sind Sie bereit?«
»Ja, obwohl ich nicht ganz verstehe, wie das funktionieren soll. Mikhail ist noch da; er wird sicher nach mir suchen.«
»Die Herzogin wird Ihrem Bruder sagen, dass Sie müde waren und sie sich erlaubt hat, Sie in ihrer Kutsche heimzuschicken.«
Angelica schaute sich stirnrunzelnd nach Mikhail um, konnte ihn aber nirgends entdecken.
»Er könnte sich Sorgen machen und nachsehen wollen, ob ich gut nach Hause gekommen bin.«
»Das wird ihm die Herzogin schon ausreden.«
So einfach war das. Obwohl Angelica inzwischen ahnte, dass die Vampire zivilisierter waren, als sie geglaubt hatte, gab es Momente, in denen ihr die überlegenen Kräfte dieser Rasse weiter Angst einjagten.
Sie musste an eine Stelle aus dem Gesetzbuch der Vampire denken, die sie heute Vormittag gelesen hatte: Vergiss nie, wie stark du bist. Ein Hieb kann einem Menschen das Genick brechen. Ein Stoß kann ihm die Knochen brechen. Vergiss nie, wie zerbrechlich Menschen sind.
»Angelica?«
Angelica blickte auf und sah in Nicholas’ Augen. Den hatte sie ja ganz vergessen! Er sollte sie doch zu dieser Ausfahrt abholen, das war ihr in all der Aufregung der letzten Stunden vollkommen entfallen. Was sollte sie bloß sagen? Er war ihr sicher böse; sie musste es wieder gut machen.
»Nicholas, ich …«
»Bitte, gestatten Sie mir, mich zu entschuldigen!«
Sein Blick fiel auf Kiril, der neben ihr stand. Angelica hatte keine Ahnung, wieso er sich entschuldigen wollte, aber es war klar, dass er vor ihrem »Aufpasser« nichts sagen würde.
»Ich komme gleich nach, Kiril.«
Kiril verstand und zog sich zurück. Angelica richtete ihre Aufmerksamkeit auf den vor ihr stehenden Lord.
»Ich werde nicht fragen, wer das war, das riecht zu sehr nach Eifersucht.«
Angelica lächelte nur, und Nicholas schüttelte zerknirscht den Kopf. »Das roch aber auch schon nach Eifersucht, nicht?«
»Nicholas, Sie sind unverbesserlich.«
Er wurde ernst und ergriff ihre Hand.
»Sie haben mir nicht auf meine Briefe geantwortet. Ich gebe zu, ich war vielleicht ein wenig übereifrig …. aber ich wollte Ihnen nur zeigen, wie ernst es mir ist.«
Angelica entzog ihm sanft ihre Hand. Sie wünschte, sie wüsste, was er ihr geschrieben hatte; sie war froh, dass es Nicholas ernst war, aber derartige Freiheiten konnte sie dennoch nicht dulden, wenn sie verhindern wollte, dass die Leute redeten.
»Ich war in den letzten Tagen unpässlich und konnte mich meiner Korrespondenz noch gar nicht widmen, bitte entschuldigen Sie.«
Er hob die Brauen. »Und ich fürchtete schon, Sie hätten meinen Antrag abgelehnt.«
»Ihren Antrag …?«, stammelte Angelica. Was sollte das heißen? Hatte er ihr etwa brieflich einen Antrag gemacht, nur wenige Tage, nachdem sie sich kennen gelernt hatten? War ihre Mission damit vielleicht schon erfüllt? Und warum war sie dann nicht erleichtert? Nicholas war nett und charmant und sah unheimlich gut aus. Eine Heirat mit ihm würde all ihre finanziellen Probleme lösen, und Mikhail würde keinen Anfall bekommen …
»Angelica, ich kann Sie praktisch denken sehen. Da kommt ja schon Rauch aus Ihren Ohren!«
Er lachte sie aus, aber Angelica war diesmal nicht nach Lachen zumute. Es war zu früh. Sie hatten sich ja viel zu selten gesehen.
»O Angelica, bitte verzeihen Sie mir, dass ich Sie so geneckt habe, aber so eine Art von Antrag meinte ich gar nicht. Ich hatte lediglich angefragt, ob ich Sie zu einer Dinnerparty, morgen Abend bei den Summers, begleiten dürfte, das ist alles.«
Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
»Das ist etwas anderes. Ja, gerne.«
»Wunderbar! Dann werde ich mich jetzt von Ihnen verabschieden. Bis morgen.« Er nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen.
»Bis morgen.« Angelica wandte sich der großen Flügeltür zu, die aus dem Ballsaal führte und neben der Kiril bereits auf sie wartete.
»Angelica?«, rief ihr Nicholas hinterher.
»Ja?«
»Der Antrag wird aber bald kommen!«