13. Kapitel

 

Angelica zog hastig ein jadegrünes Reitkostüm an und machte sich in Begleitung eines Dieners, der in diskretem Abstand hinter ihr her ritt, auf den Weg. Sie saß auf einem herrlichen Wallach, ein friedliches Tier, was den Ritt umso angenehmer machte.

Sie blickte lächelnd zur Sonne auf - beinahe hätte sie laut gelacht. Sonnenschein, seit drei Tagen schon! Die Welt meinte es gut mit ihr.

Sicher, sie vermisste Polchester Hall, ihr Haus, ihr Pferd. Und ja, sie musste sich einen Ehemann suchen, und zwar schleunigst. Und ja, sie war einem überwältigenden Mann begegnet, aber das alles sollte sie heute einmal nicht bekümmern. Heute wollte sie froh sein, heute war sie glücklich und zufrieden.

Was vielleicht mit der aufwändig verzierten Visitenkarte zu tun hatte, die die Zofe ihr heute früh ans Bett gebracht hatte.

Lord Nicholas Adler, der Mann, den sie ganz sicher mochte und vielleicht sogar lieben könnte, hatte sie gebeten, mit ihm auszureiten.

Ein gutes Zeichen. Und Nicholas war, laut dem schier unerschöpflichen Wissen ihrer Tante auf diesem Gebiet, mehr als wohlhabend: Er war reich. Ein freundlicher, angenehmer Mann, in dessen Gegenwart sie sich wohlfühlte - ganz im Gegensatz zu vielen anderen Männern, die sie, zu ihrem Missvergnügen, kennen gelernt hatte. Er war der Typ Mann, den sie auf Distanz halten konnte, der vielleicht ja auch ein wenig Zeit für sich haben wollte. Der nie die Wahrheit über sie erfahren musste.

Wenn alles gut ging und Nicholas ihr einen Antrag machte, dann würden sie sich nie mehr um Geld sorgen müssen, weder sie noch ihr Bruder.

Und sobald sie verheiratet war, könnte sie ihr friedliches Leben auf dem Lande wieder aufnehmen, sie könnte lesen, reiten, Klavier spielen … ach, wie sehr sie ihr altes Leben vermisste!

Angelica atmete tief die frische Luft im Hyde Park ein, labte ihre Augen an den saftigen grünen Wiesen, dem schattigen Laub. Schon bald würde sie Nicholas treffen, und dann würde sie herausfinden, ob er ernste Absichten hatte oder nicht.

»Hoooh!«

Angelica blickte auf und wandte sich um. Am nächstgelegenen Parktor hatte eine rothaarige Schönheit Probleme mit ihrem Pferd. Das Reittier stieg und bockte, und die Dame hatte ihre liebe Mühe mit dem störrischen Tier. Die Frau hatte ein außergewöhnliches Gesicht: himmelblaue Augen, die einen merkwürdigen Kontrast zu den strengen, kantigen Zügen mit der kleinen spitzen Nase bildeten.

Die Lady machte alles richtig, doch ihr Pferd schien dies nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.

Angelica lenkte ihr Pferd herum, ließ ihren Diener stehen und ritt vorsichtig näher.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Die Rothaarige blickte auf und lächelte, doch verrieten die Falten an ihren Mundwinkeln, welche Kraft sie aufbieten musste, um ihr Tier unter Kontrolle zu halten. »Da können Sie nicht viel machen. Es war ein Kaninchen. Hat ihn erschreckt, und jetzt führt er sich ein bisschen auf. Der beruhigt sich gleich wieder.«

Wie auf Kommando tänzelte das Pferd noch ein, zwei Schritte zurück, dann blieb es schwer atmend stehen.

Angelica war beeindruckt. Die Frau hatte Nerven wie Stahl! Egal, wie gut ein Pferd abgerichtet war, es würde in so einem Fall immer erschrecken. Sie erinnerte sich, wie ihr einmal ein Kaninchen über den Weg gelaufen war. Shura hätte sie beinahe abgeworfen.

Die Lady mit den Nerven aus Stahl strich ihr Kostüm glatt und lenkte ihr Pferd auf Angelica zu.

»Aber danke für die gute Absicht. Ich heiße Joanna.«

Angelica gefiel Joannas ehrliches Lächeln, und sie erwiderte es.

»Ich heiße Angelica, und ich hätte Ihnen gern geholfen, aber wie ich sehe, war das nicht nötig.«

»Nun ja, aber es hätte sein können«, sagte Joanna und wischte sich ungehalten eine dicke rote Locke aus dem Gesicht. »Blöde Haare! Gehen einem dauernd im Weg um. Ich würde den Mopp am liebsten abschneiden!«

Angelica musste über Joannas komischen Gesichtsausdruck lachen. »Falls es Sie tröstet: Ihre Haare sind wunderschön.«

Joanna hob erstaunt die Brauen. »Eine Frau, die nicht von Eifersucht zerfressen ist, hier, in London? Ich glaube, Sie sind soeben meine beste Freundin geworden.«

Angelica lachte lauter und wies mit einer Armbewegung auf den Park.

»Möchten Sie mich ein Stück begleiten, beste Freundin? Ich treffe mich zwar später mit einem Bekannten, aber das hat noch Zeit.«

Joanna salutierte fröhlich und drückte ihrem Pferd die Fersen in die Flanken. »Dann lassen Sie uns losreiten, bevor sich mein Peter hier noch am Gras festfrisst.«

Angelica lächelte und lenkte ihren Wallach auf die Wiese. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass Joanna gar keinen Diener bei sich hatte.

»Sie sind ohne Begleitung?«, fragte sie erstaunt.

Joanna lachte über Angelicas Gesichtsausdruck. »Ich wünschte, ich wäre es«, seufzte sie. »Aber nein, Thomas, mein Diener, ist ein wenig aufgehalten worden. Er wird gleich da sein.«

Angelica hob eine Braue. »Aufgehalten worden? Ist das ein anderes Wort für abgehängt?«

Joanna grinste. »Na ja, wenn Sie es so ausdrücken wollen …« Sie zuckte die Schultern und wechselte das Thema. »Und jetzt sagen Sie mir, wo Sie sich versteckt haben. Ich habe in dieser Saison schon so viele Bälle, Dinnerpartys und Shows besucht, dass ich beinahe einen Lächelkrampf gekriegt hätte.«

Bevor Angelica etwas darauf erwidern konnte, drehte sich Joanna im Sattel zur Seite und deutete auf ihre Wange.

»Sehen Sie das?«, fragte sie dramatisch.

Angelica unterdrückte mühsam ein Lachen. ›Das‹ schien ein Grübchen zu sein.

»Ja?«

»Aha! Hab ich’s mir doch gedacht!« Als sie Angelicas verwirrte Miene sah, meinte sie düster: »Da ist ein Grübchen, nicht?«

Angelica nickte.

»Da haben Sie’s! Das hatte ich zu Beginn der Saison noch nicht. Das ist das sogenannte ›Saison-Grübchen‹, kommt vom dauernden Lächeln.«

Angelica konnte nicht anders, sie musste lachen. Ihre neue Freundin war wirklich verrückt!

»Warum gehen Sie dann hin, wenn es Ihnen so wenig Spaß macht?«

»›Ein Mensch, der die Gesellschaft meidet, weil er sich selbst genügt, ist entweder ein Tier oder ein Gott‹«, konstatierte Joanna.

»Aristoteles!«, sagte Angelica erfreut. Endlich hatte sie jemanden getroffen, dem es offenbar ebenso viel Spaß machte wie ihr, Tote zu zitieren.

»Genau«, erwiderte Joanna, ebenfalls beeindruckt. »Also, da ich nun weder ein Gott bin, noch ein Tier sein möchte, mische ich mich eben unter die Gesellschaft.«

Beide ritten weiter. Angelica ließ ihre Gedanken schweifen, während sie unter schattigen Bäumen und über sonnenbesprenkelte grüne Wiesen ritten. Sie hasste gesellschaftliche Veranstaltungen. Machte sie das zu einem Tier?

»Ich versuche mir einzureden, dass Aristoteles recht hat, Joanna, aber es will mir nicht gelingen.«

Joanna zügelte lachend ihr Pferd. »Sie und ich, meine Liebe, müssen uns öfter sehen, viel öfter.«

 

»Sie ist umwerfend, Mikhail, ich hatte einen Riesenspaß.« Angelica streckte den Arm aus und schnappte ihrem Bruder den Salzstreuer vor der Nase weg, bevor er sich noch ein weiteres Pfund davon über seine Rühreier kippen konnte. »Du weißt genau, dass das nicht gut für dich ist!«

Mikhail verdrehte die Augen und fügte sich in sein Schicksal. »Es ist nicht zu fassen, dass ein so kleiner Mensch ein derartiger Tyrann sein kann.«

»›Twixt Kings and Tyrants there’s this difference known: Kings seek their subject’s good; Tyrants their owne.‹«

Mikhails Gabel stoppte auf halbem Weg zum Mund. Er schüttelte den Kopf.

»Wie du dir bloß all diese Sprüche merken kannst, mit denen du um dich wirfst, ist mir ein Rätsel. Wo nimmst du sie nur immer her?«

Angelica nippte vornehm an ihrer zierlichen Blümchentasse.

»Dieses spezielle Zitat stammt aus Hesperides von Robert Herrick.«

Mikhail kaute energisch und deutete anklagend mit seiner Gabel auf sie. »Weißt du was? Ich werde die Bibliothek absperren! Niemand - weder Mann noch Frau - sollte so viel lesen.«

»Da irrst du dich, Bruderherz.«

Angelica schnappte Mikhail die Times weg und grinste. »Lesen ist der Schlüssel zur Weisheit. Und wie hat schon unser guter Freund Horaz gesagt: Wage es, wissend zu sein!«

»Prinzessin Belanow!« Lady Dewberrys missbilligende Stimme wischte das freche Grinsen von Angelicas Gesicht. Als sie merkte, dass sie die Times in der Hand hielt, überlegte sie fieberhaft, dann rief sie: »Mikhail, du hast mich angeschwindelt. Da sind ja gar keine Bilder drin!«

Mikhail prustete los, und Angelica warf ihm die Zeitung an den Kopf.

»Tut mir leid, Schwesterherz.« Er erhob sich und griff nach seiner Zeitung. »Ich muss gehen. Bis später, die Damen.« Er ging um den Tisch herum und beugte sich zu seiner Schwester, als wollte er ihr einen Abschiedskuss geben, und flüsterte ihr dabei ins Ohr: »›Bei allen Tugenden, bei allen Pflichten sucht man nur den Schein, ich suche die Wahrheit.‹«

Angelica blickte ihrem Bruder nach.

»Wer hat das gesagt?«

Aber Mikhail beachtete sie nicht weiter und ging zur Tür. Als er Angelica schnauben hörte, wurde sein Grinsen noch breiter. Seine Schwester war einfach zu clever; er genoss es, wenn es ihm einmal gelang, sie aus dem Konzept zu bringen.

Als ihm einfiel, wie Angelica heute wohl den Tag verbringen würde, musste er laut auflachen: Er konnte sie förmlich vor sich sehen, wie sie in der Bibliothek saß und jedes einzelne Buch nach diesem Zitat durchforschte!

 

Angelica blickte ihrem Bruder nach, dann wappnete sie sich und wandte sich ihrer Tante zu. Sie wusste, dass die Gute schon seit Tagen darauf brannte, mit ihr übers Heiraten zu sprechen, und scheinbar war sie nun mit den Vorbereitungen zu ihrer Rede fertig.

»Angelica.«

Diese informelle Anrede verhieß nichts Gutes; offensichtlich würde die Predigt eine ganz persönliche werden. Angelica lehnte sich resigniert zurück und sah zu, wie ihre Tante ihr gegenüber Platz nahm, dort, wo Mikhail eben noch gesessen hatte.

»Ich mache mir seit einiger Zeit große Sorgen um dich, Angelica«, hub ihre Tante an. »Es bleibt mir daher nichts anderes übrig, als ganz offen mit dir zu reden.« Lady Dewberry holte tief Luft und beugte sich vor. Angelica betrachtete sie voller Zuneigung. Jedes Härchen ihrer silbernen Frisur war an seinem Platz.

Was wäre wohl aus ihr geworden, wenn sie nicht die Fähigkeit gehabt hätte, anderer Leute Gedanken hören zu können? Wäre sie weniger eigenwillig? Würde sie sich weniger in Bücher vergraben und sich mehr in die Gesellschaft einfügen? Wäre sie vielleicht schon verheiratet … wäre sie mehr wie Lady Dewberry, kühl und gesittet?

»Deine Eltern sind zwar schon lange tot, aber ich weiß, wie schwer es für euch war, für dich und Mikhail. Ich habe bei eurer Erziehung geholfen, soweit es mir möglich war, aber nun mache ich mir ernsthaft Sorgen um dich, Angelica, weil du so gar kein Interesse am Heiraten zeigst. Und die Heirat ist nun mal das Wichtigste im Leben einer Frau.

Was glaubst du denn, warum ich mir solche Mühe gebe, dich in die Gesellschaft einzuführen, dich anständigen, ledigen Männern mit gutem Ruf vorzustellen? Aber du, meine Liebe, scheinst von der Aussicht zu heiraten nicht gerade begeistert zu sein. Und das macht meine Aufgabe so schwierig, so schwierig!

Obwohl deine Mutter sich mit dem Heiraten auch reichlich Zeit gelassen hat …«

»Ach ja?« Angelica richtete sich jäh auf. Sie hatte ihre Tante schon so oft nach ihrer Mutter gefragt, doch diese hatte nie wirklich über ihre verstorbene Schwester reden wollen. Dass sie es jetzt auf einmal tat und ihr noch dazu solche Details erzählte, elektrisierte Angelica.

»Ja«, nickte Lady Dewberry, »aber sie hatte, im Gegensatz zu dir, gute Gründe dafür. Es war letztlich ein Missverständnis, ein bedauerliches Missverständnis. Unser Vater, dein Großvater, hatte sich mit seinem Bruder, deinem Großonkel Robert, überworfen. Dein Großvater weigerte sich, auch nur ein Wort mit ihm zu sprechen. Und in einem Augenblick äußerster Dummheit hat Robert deine Mutter entführt und auf sein Anwesen in Schottland verschleppt.«

Angelica versuchte sich ihre Mutter vorzustellen, wie sie verängstigt in einer abgedunkelten Kutsche saß und in die Highlands verschleppt wurde, aber es gelang ihr nicht. Warum erfuhr sie das erst jetzt? Warum hatte ihre Tante ihr das nicht schon früher erzählt?

Lady Dewberrys Miene hatte einen entrückten Ausdruck angenommen. »Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, ist auch noch der Bote spurlos verschwunden, der die Nachricht über deinen Aufenthaltsort an deinen Vater hätte überbringen sollen. Robert hat zwar danach noch ein, zwei Boten geschickt, aber er konnte ja nicht wissen, dass dein Großvater inzwischen auf dem Weg nach Boston in den Vereinigten Staaten war. Er hatte nämlich einen farbenblinden, idiotischen Detektiv engagiert, der behauptete, deine Mutter an Bord der ›Elisabeth‹ gesehen zu haben.«

»O Gott! Wie lange hat Großvater gebraucht, um sie zu finden?«

»Fast zwei Jahre.«

»Zwei Jahre!« Angelica konnte es kaum fassen. Ihre Mutter hatte zwei Jahre bei ihrem Großonkel Robert gelebt und darauf gewartet, dass ihr Vater sie abholte? Was hatte sie empfunden? Was hatte sie die ganze Zeit getan?

»Ja, zwei lange Jahre. Du siehst also, es war nicht die Schuld deiner Mutter, dass sie erst so spät geheiratet hat. Tatsächlich hat sie deinen Vater kurz nach ihrer Rückkehr nach London kennen gelernt und innerhalb von einem Monat geheiratet.«

Das fand Angelica zwar ein wenig überstürzt, aber ihre Mutter hatte sicher ihre Gründe gehabt. Außerdem war ihr Vater der charmanteste, netteste, attraktivste, mutigste, klügste und anständigste Mann gewesen, den sie kannte. Welche Frau hätte sich nicht Hals über Kopf in ihn verliebt und ihn geheiratet?

»Du brauchst einen Ehemann, meine Liebe, jemanden, der sich um dich kümmert und von dem du Kinder bekommst.«

Lady Dewberry betrachtete sie stirnrunzelnd.

»Du willst doch Kinder haben, oder?«

»Natürlich.«

Angelica wollte sogar sehnlichst ein Kind, aber das hatte sie noch keiner Menschenseele anvertraut.

»Ah, gut.« Lady Dewberry nickte zufrieden. »Und da ich deine Leidenschaft für Zitate kenne, meine Liebe, werde ich dir jetzt selbst eins nennen: ›Dein Ehemann ist dein Herr, ist dein Erhalter, dein Licht, dein Haupt, dein Fürst …‹« Sie hielt inne, weil ihr der Rest der berühmten Zeilen aus Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung entfallen war.

Angelica wartete einen Moment, dann ergänzte sie sanft: »Er sorgt für dich und deinen Unterhalt, gibt seinen Leib mühsel’ger Arbeit preis, zu Land und Meer.«

»Ja, genau.« Lady Dewberry lächelte. »Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass du in Zukunft ein wenig mehr auf meinen Rat, was gewisse Gentlemen betrifft, hören wirst.«

Da dies keine Frage war, begnügte sich Angelica mit einem gehorsamen Nicken.

»Gut. Dann lass uns jetzt über damenhaftes Benehmen sprechen …« Eine halbe Stunde später gelang es Angelica endlich, sich in die Bibliothek zu flüchten, wo sie erst einmal tief Luft holte. Diese spezielle Benimmstunde war ihr besonders lang geworden, und wenn sie nicht aufpasste, dann würde sie noch anfangen, die Worte Ehe, Ehemann und Kinder wie irre vor sich hin zu brabbeln!

Die Ironie an der Sache war, dass Angelica schon selbst alles tat, um in den heiligen Stand der Ehe zu treten, was ihre Tante allerdings nicht ahnen konnte.

Und bis vor kurzem hatte sie auch geglaubt, dabei gute Fortschritte zu machen …

Nicholas hatte sie an der vereinbarten Stelle im Park erwartet, doch kaum war sie mit Joanna herangeritten, hatte er sich mit einer wichtigen Verabredung herausgeredet und war verschwunden.

Nun, zumindest hatte er ihr versprochen, es mit einer nachmittäglichen Kutschfahrt wieder gut zu machen.

Angelica warf einen Blick auf die Wanduhr. »Noch vierzig Minuten.« Sie lächelte. Liebevoll strich sie mit den Fingern über die langen Regalreihen voller Bücher: genug Zeit, um herauszufinden, von wem das verflixte Zitat stammte, das Mikhail ihr heute früh zum Abschied hingeworfen hatte!

»Prinzessin Belanow?«

Angelica, die soeben einen dicken Wälzer herausgeholt und aufgeschlagen hatte, blickte ungeduldig auf.

»Ja?«

Ein Dienstmädchen steckte den Kopf herein und machte einen Knicks.

»Vergebung, aber Lady Dewberry bittet Sie in den Salon. Sie haben Herrenbesuch.«

»Danke.«

Das Mädchen knickste erneut und verschwand. Herrenbesuch? Hoffentlich nicht dieser schreckliche Lord Anthony. Man hatte ihr gesagt, dass er fast jeden Tag vorsprach. Guter, alter Herrings! Der Butler war unnachgiebig, wenn er die Order hatte, bestimmte Leute nicht vorzulassen.

Auf dem Weg zum Salon ermahnte sie sich, besonders höflich und gesittet zu sein, wer immer es auch sein mochte. Die zermürbende Predigt ihrer Tante reichte ihr einstweilen.

Ob es Nicholas war? Vielleicht war er ja früher gekommen …

»Da bist du ja, meine Liebe!«, rief Lady Dewberry aus, als Angelica das Zimmer betrat. »Schau, wer zu Besuch gekommen ist.«

Angelica wäre beinahe die Kinnlade heruntergeklappt. Was hatte er hier zu suchen?

Sie versuchte es mit einem Lächeln, musste jedoch plötzlich an den Kuss denken und wurde prompt rot. Warum musste dieser Mann auch so eine Wirkung auf sie haben!

Eine winzige Sekunde lang wünschte Angelica, ihre Tante würde Alexander Kourakin in ihre Liste in Frage kommender Kandidaten aufnehmen. Sie wusste instinktiv, dass ihr mit diesem Mann nie langweilig werden würde. Er war klug, weit gereist, und falls der Vorfall vor zwei Tagen ein Anhaltspunkt war: einfühlsam und hilfsbereit.

Vor allem jedoch wusste er bereits, was sie war, und hatte trotzdem nicht die Flucht ergriffen. Im Gegenteil: Er war wie sie.

Doch dieser Gedanke löste sich in Luft auf, sobald er einen Schritt auf sie zutrat. Dieser Mann war schlichtweg zu willensstark, zu dominant. Er würde ihr keine Freiheiten lassen, würde vollkommenen Gehorsam erwarten.

Und Gehorsam war nicht gerade ihre Stärke.

Nein, nein, Nicholas war viel besser. Außerdem bezweifelte Angelica, dass Alexander überhaupt heiraten wollte. Sie aber musste heiraten, und zwar rasch. Nein, er kam nicht in Frage. Doch immerhin hatte sie von ihm das wertvollste Geschenk erhalten, das sie sich vorstellen konnte: inneren Frieden. Das musste genügen.

»Prinz Kourakin.«

Sie knickste andeutungsweise und lächelte zu ihm auf. In ihren Augen war er mehr oder weniger ein Held. Wenn auch ein gefährlicher.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie brav.

Er verzog keine Miene; kein Lächeln, auch nicht dieser hitzige Blick, den sie allmählich so gut an ihm kannte. Stattdessen sah er zu Lady Dewberry.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«, fragte ihre Tante.

»Das wäre sehr freundlich«, antwortete Alexander.

Zu Angelicas grenzenloser Verblüffung nickte ihre Tante daraufhin und meinte lächelnd: »Ich werde mich sofort darum kümmern. Für gewöhnlich würde ich meine Nichte natürlich nicht mit einem Herrn allein lassen, aber da Sie ein Freund von Prinz Mikhail sind, kann ich mich wohl auf Sie verlassen.«

Mit einem abschließenden Blick zu Angelica, der sagen wollte: »Benimm dich!«, ging sie.

»Auf Sie verlassen?« Angelica blickte ihrer Tante verwirrt nach. Wie hatte er das bloß geschafft? Normalerweise hätten keine zehn Pferde ihre Tante vom Fleck gebracht!

Alexander ging nicht weiter auf ihre Worte oder ihre Überraschung ein.

»Du wirst sofort damit aufhören.«

Angelica schaute verblüfft zu dem gebieterischen Mann auf.

»Wie bitte?«

Wie immer hatte Alexander weder Zeit noch Geduld für schöne Worte. »Ich will sagen, du wirst aufhören, dich mit Nicholas Adler zu treffen.«

Angelicas Verwirrung machte Empörung Platz. Wofür hielt sich der Kerl? Wie kam er auf die Idee, ihr vorschreiben zu können, was sie zu tun und zu lassen hatte?

»Ich habe keine Ahnung, wie Sie auf den Gedanken kommen, mir Vorschriften machen zu können. Ich treffe mich, mit wem immer es mir beliebt.«

Als Alexander sich von dieser Abfuhr erholt hatte, knurrte er: »Du weißt nicht, worauf du dich einlässt. Die Sache ist gefährlich! Und ich werde nicht zulassen, dass du wie ein Schaf vor der Nase des Wolfs herumtappst.«

Angelica konnte nur staunen.

»Sind Sie verrückt geworden? Wie kommen Sie darauf, dass Nicholas Adler mir gefährlich werden könnte?«

Aber Moment mal... Woher wusste er überhaupt, was sie vorhatte? Und dass sie und Nicholas miteinander bekannt waren? Ihre Augen wurden schmal, als ein Verdacht in ihr aufkeimte.

»Haben Sie mich etwa verfolgt?«

Er stieß ein kurzes, beleidigendes Lachen aus. »Ich habe Wichtigeres zu tun. Also, das ist mein letztes Wort. Guten Tag.«

Er machte eine knappe Verbeugung und wandte sich zum Gehen. Als er bei der Tür angekommen war, verspürte er ein unvertrautes Kribbeln in der Stirn.

Er fuhr zu Angelica herum.

Eisgraue Augen funkelten sie gefährlich an.

Sie stand neben dem Sofa und versuchte, so unschuldig wie möglich dreinzublicken.

Alexander schritt wortlos auf sie zu. Angelica rührte sich nicht, wich keinen Zentimeter vor dem stillen Zorn im Gesicht ihres Gegenübers. Er hat kein Recht, dir Vorschriften zu machen, dir Befehle zu erteilen, ermahnte sie sich. Der Mann war unerträglich und sie würde sich nicht von ihm einschüchtern lassen!

Was gar nicht so leicht war angesichts des Zorns, der in seinen Augen schwelte.

Als er sie bei den Armen packte und auf Augenhöhe hob, stieß sie einen erstickten Schrei aus.

Mit gefährlich leiser Stimme sagte er: »Tu das nie wieder, hörst du? Der Letzte, der versucht hat, meine Gedanken zu lesen, hat es bitter bereut!«

Angelica hing hilflos wie eine Puppe in seinem Griff. Gott, dieser Mann war unglaublich stark! Er stieß ein Knurren aus, das sie erschreckend an einen Löwen erinnerte. Sie bezweifelte keinen Moment, dass, wer auch immer versucht hatte, in seine Gedanken einzudringen, bitter dafür hatte büßen müssen …

Dennoch war ihre Angst mit einem Mal wie weggeblasen. Sie wusste, dass dieser Mann ihr nie wehtun würde. Woher sie das wusste? Es war einfach so.

»Weiß mein Bruder, dass du seine Gedanken liest?«

Angelica hatte keine Ahnung, wie sie darauf kam, aber es schien Alexanders Zorn merklich zu dämpfen. Er stellte sie langsam wieder auf den Boden und musterte sie.

»Ich werde mich weiter mit Nicholas treffen, ob Ihnen das nun passt oder nicht. Und sollten Sie mich noch einmal bedrohen oder gar anfassen, dann können Sie Ihre Freundschaft mit meinem Bruder vergessen, denn dann werde ich Mikhail verraten, dass Sie seine Gedanken lesen.«

»Wenn du es nicht anders haben willst, Prinzessin.«

Alexander verbeugte sich, doch diesmal wandte er sich nicht zum Gehen.

Er trat auf sie zu.

Zum ersten Mal, seit sie diese eigenartige Unterhaltung begonnen hatten, bekam Angelica es wirklich mit der Angst zu tun. Seine Lippen waren nur noch wenige Millimeter von den ihren entfernt, und Alexander war beängstigender denn je.

Dann küsste er sie, und Angelica war machtlos. Dies war kein langsames Erforschen wie bei ihrem letzten Kuss, sondern eine stürmische Attacke, ein Angriff auf ihre Sinne, der ihr die Luft raubte.

Mit zwei Schritten hatte er sie an die Wand genagelt. Ihre Knie hätten unter ihr nachgegeben, wenn sein Körper sie nicht aufrecht gehalten hätte.

»Alexander!« Es war eine Bitte, ein Flehen, ein sehnsüchtiger Wunsch. Ihre Finger vergruben sich wie von selbst in seinen dichten Haaren; er neigte seinen Kopf und vertiefte den Kuss, tastete sich weiter voran, über ihr Kinn, ihren Hals.

»Versprich es mir«, flüsterte er.

Seine Zungenspitze liebkoste die zarte Haut hinter ihrem Ohr, und sie erschauderte.

»W... was?«

»Versprich mir, ihn nicht wiederzusehen.«

Ihr war ganz schwindlig. Sie spürte, wie er mit zarten Fingern ihr Rückrat entlangstrich. Was machte er nur mit ihr? Was wollte er? Ein Versprechen …

»Nein.« Sie versuchte ihn wegzustoßen und wusste selbst, wie halbherzig ihr Versuch war. Sie wollte nicht, dass er sie losließ.

»Du spielst mit dem Feuer, Angel.« Seine Worte waren nur ein Hauch, eine Liebkosung, aber klar verständlich, und plötzlich wusste Angelica, dass er im Gegensatz zu ihr noch alle Sinne beieinander hatte.

Sie versteifte sich.

Er ließ sie nicht aus den Augen; sein warmer Atem strich über ihre Nasenspitze, ihre Wange. Sie musste ihm zeigen, dass sie sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Zur Hölle mit ihm, sie war eingeschüchtert!

»›Risikolos gewinnen heißt ruhmlos siegen.‹ Pierre Corneille.«

Angelica hatte keine Ahnung, von woher ihr dieses Zitat zugeflogen war. Aber wenn sie nervös war, rutschte ihr immer aller mögliche Unsinn heraus. Alexander musterte sie mit einem Ausdruck, den man auf den ersten Blick für Belustigung hätte halten können, dann trat er zurück.

Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, dann wandte er sich ab und ging.

Angelica blieb verwirrt und verlegen zurück. Eigentlich hätte sie triumphieren müssen, aber das tat sie nicht. Sie wünschte, er wäre nicht gegangen.

Sie wünschte, er hätte sie nicht losgelassen.

Sie hatte auf einen weiteren Kuss gehofft, das wurde ihr jetzt klar. Was war bloß los mit ihr? Hatte Lady Dewberrys Standpauke denn gar keinen Eindruck auf sie gemacht? Sie brauchte einen Ehemann. Und das bedeutete, dass sie sich von Männern wie ihm, Männern, die keine Zukunft hatten, tunlichst fernhalten sollte!

Sie wollte gerade wieder in die Bibliothek zurückgehen, als ihr plötzlich ein Gedanke kam.

Alexander hatte gesagt, dass der Mann, der das letzte Mal versucht hatte, seine Gedanken zu lesen, es bitter bereut habe. Der Letzte, der es versucht hatte?

Angelica blieb stocksteif stehen. Das bedeutete … das bedeutete … Es war also nicht nur Alexander, es gab auch noch andere!

Er kannte also noch andere, die waren wie sie. Warum hatte er das nicht gleich gesagt? Dachte er, sie wüsste es?

Sie raffte ihre Röcke und lief zur Tür. Sie musste es wissen. Gab es noch andere? Konnte es wirklich sein, dass sie keine Missgeburt war, dass es noch andere gab wie sie, eine Gemeinschaft, zu der sie gehörte?