23. Kapitel
Sie sehen wunderschön aus heute Abend.«
Angelica blickte an ihrem pastellgrünen Kleid hinab und fragte sich, wieso sie nicht Herzklopfen bekam, so wie am Abend zuvor, als Alexander das gesagt hatte.
»Danke.«
Nicholas legte leicht die Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
»Das klang ziemlich zerstreut, Angelica. Wo sind Sie mit Ihren Gedanken?«
Erstaunlich, dass Nicholas dies überhaupt aufgefallen war. Aber eigentlich sollte es sie nicht überraschen; er war eben einfühlsamer als die meisten Männer und obendrein sehr rücksichtsvoll. Ja, ein sanfter, einfühlsamer Mann, der in seinem gut geschnittenen Smoking obendrein fantastisch aussah.
Eigentlich unverständlich, dass sie sich nicht in ihn verlieben konnte. Man brauchte sich nur die anderen Frauen anzusehen, die im Empfangssalon der Summers herumsaßen oder -standen: Die meisten von ihnen warfen neidische Blicke in ihre Richtung.
»Ich gebe zu, ich war ein wenig abgelenkt. Aber es schmeichelt mir, dass Sie es überhaupt bemerkt haben.«
»Und das überrascht Sie? Angelica, Sie wissen doch, wie viel mir an Ihnen liegt!«
Angelica wurde glücklicherweise eine Antwort erspart, denn in diesem Moment tauchte ein Page auf.
»Eine Nachricht, Mylord.«
»Sie entschuldigen mich - ich bin gleich wieder da.« Nicholas hatte die Nachricht entgegengenommen und zog sich nun zurück, um sie zu lesen.
Angelica war erleichtert, was ihr jedoch gar nicht gefiel. Sie reckte den Hals, konnte ihren Bruder aber nicht unter den Gästen, die in kleinen Grüppchen beisammenstanden, entdecken. In letzter Zeit hatte sie immer ein schlechtes Gewissen, was ihn betraf, weil sie es zuließ, dass man ihn derart manipulierte.
»Er ist einfach göttlich.«
Joanna tauchte unversehens an ihrer Seite auf und machte mit einem kleinen Ellbogenstoß auf sich aufmerksam. Ihr Blick war auf die Tür gerichtet, durch die Nicholas soeben verschwunden war. »Ist mir im Park neulich gar nicht so aufgefallen, aber jetzt sehe ich es ganz deutlich. Wenn du ihn doch nicht willst, Schätzchen, ich nehme ihn gern!«
»Hast du meinen Bruder irgendwo gesehen?«
Joanna hob eine Braue. »Heißt das, du willst ihn nicht?«
»Joanna!«, beschwerte sich Angelica. Ihre Freundin war unmöglich, wenn es sich um das männliche Geschlecht handelte, egal ob Mensch oder Vampir.
»Schon gut, ich lass dich in Ruhe. Wortwörtlich sogar, denn da ist er schon wieder, dein Mr. Lovely.«
Angelica schloss kurz die Augen. Sie hoffte, dass ihre Wangen nicht so rot waren, wie sie sich anfühlten.
»Was war das denn?«, erkundigte sich Nicholas amüsiert, aber sie merkte dennoch am Klang seiner Stimme, dass etwas nicht stimmte.
»Ach, nur Joanna, wie sie immer ist.«
»Ach ja? Nun, wenn sie es schafft, Ihre Wangen so charmant zum Erblühen zu bringen, dann muss ich mal mit ihr reden und mir ein paar Tipps geben lassen.«
Angelica bohrte ihm lachend den Zeigefinger in die Brust. »Das würde ich Ihnen nie verzeihen - Ihnen nicht und Joanna auch nicht! Aber sagen Sie: Was ist passiert? Schlechte Nachrichten?«
Nicholas wurde ernst. »Ja. Meine Mutter ist krank. Sie ist schon seit einer ganzen Weile leidend, aber nun scheint es sich verschlimmert zu haben.«
»Ach, das tut mir so leid, Nicholas!« Sie nahm, ohne zu überlegen, seine Hand. »Sie müssen zu ihr gehen, nicht wahr?«
Er blickte ihr tief in die Augen und nickte. »Es fällt mir nicht leicht, mich von Ihnen zu trennen, Angelica, aber ich freue mich, dass Sie so besorgt um mich und meine Familie sind.«
»Natürlich bin ich besorgt! Ich wünsche nur das Beste für Sie.« Und das stimmte. Nicholas zog ihr zwar nicht den Boden unter den Füßen weg wie Alexander, aber sie mochte ihn von Mal zu Mal mehr. Vielleicht könnte sie ihn eines Tages ja sogar lieben?
»Dann werde ich Sie jetzt in der Obhut Ihres Bruders und Lady Joannas lassen. Würden Sie mich bei den beiden entschuldigen?«
»Dafür gibt es gar keinen Grund«, versicherte ihm Angelica. »Gehen Sie, kümmern Sie sich um Ihre Mutter.«
Nicholas beugte sich über ihre Hand.
»Vorsicht, Angelica, oder ich werde Sie nach Gretna Green entführen und heiraten, ehe Sie zur Besinnung kommen.«
Ohne auf ihre Antwort zu warten - um die sie ohnehin verlegen gewesen wäre -, verschwand er.
Aber sie wollte ihn doch heiraten, oder nicht? Und in Anbetracht der Tatsache, dass dies auch noch schnell gehen musste, sollte sie eigentlich wahnsinnig glücklich sein über die Fortschritte, die ihr Verhältnis machte. Nun, sie war auch froh, aber ›wahnsinnig glücklich‹ wäre doch übertrieben gewesen.
Dieser Alexander! Es war alles seine Schuld! Warum musste sie ihm auch begegnen? Konnte er nicht einfach wieder aus ihrem Leben verschwinden? Doch noch während sie dies dachte, schaute sie sich unbewusst nach ihm um. Vielleicht kam er ja auch …
Nein, das waren natürlich Hirngespinste. Aber immerhin entdeckte sie Mikhail, entschloss sich jedoch, nicht zu ihm zu gehen. Joanna flirtete gerade hingebungsvoll mit einem Mann, dem Angelica noch nicht vorgestellt worden war, und die Herzogin war noch nicht eingetroffen: einer der raren Momente also, in denen sie allein war.
»Meine liebe Prinzessin Belanow, Ihr Bruder hat so von Ihren Klavierspielkünsten geschwärmt; ich frage mich, ob es vielleicht möglich wäre, dass Sie etwas für uns spielen?«
So viel zum Alleinsein.
Angelica schaute zu ihrem Bruder, der sich wenige Meter entfernt mit Lady Summers unterhielt. Lord Summers schaute sie hoffnungsvoll an. Er hatte den Kopf bittend schief gelegt, was sein Doppelkinn noch mehr hervorhob.
»Gern, Lord Summers, es wäre mir ein Vergnügen.«
Lord Summers klatschte begeistert in die Hände und wandte sich an die sieben Gäste, die in kleinen Gruppen beieinanderstanden. »Ich freue mich, Ihnen ankündigen zu dürfen, dass sich Prinzessin Belanow bereit erklärt hat, uns mit ihrem Klavierspiel zu beglücken, während wir auf die letzten Gäste warten. Meine Liebe, wenn du vorangehen würdest?«, forderte er seine Frau auf.
Als Angelica das Musikzimmer betrat, verstand sie, warum Lord Summers so darauf drängte, dass sie etwas vorspielte. Der Raum war fantastisch, riesig. Eine ganze Wand wurde von hohen Fenstern eingenommen, die sich vom Boden bis zur Decke zogen und einen herrlichen Blick auf den romantisch illuminierten Garten freigaben. Vor dieser Glaswand stand ein blitzender Konzertflügel, und auch die Möblierung war ungewöhnlich: Normalerweise wurden Stühle in Reihen aufgestellt, doch hier bildeten mehrere geschmackvolle Sofas einen Halbkreis, der einen ebenso guten Blick auf den Klavierspieler wie hinaus in den Garten ermöglichte.
Die begeisterten Ausrufe der Gäste schienen Lord Summers denn auch aufs höchste zu entzücken.
Während sich die Gäste ihre Plätze suchten, führte der Lord Angelica zum Piano. »Wir haben eine ganze Reihe Partituren von unterschiedlichen Komponisten da, Prinzessin«, sagte er wichtigtuerisch. »Haben Sie irgendwelche Vorlieben?«
»Mozart«, antwortete Angelica ohne Zögern.
»Ah, ein beliebter Komponist, obwohl, ich gebe es zu, für eine Dame eine recht ungewöhnliche Wahl«, bemerkte Lord Summers, während er die Partituren durchblätterte.
Angelica sagte nichts. Sie wusste aus Erfahrung, dass viele Männer Mozart für zu temperamentvoll für einen weiblichen Klavierspieler hielten. Nun, das bekümmerte sie nicht. Solange sie dem Komponisten gerecht wurde, war sie zufrieden.
»Ich benötige keine Partitur«, sagte Angelica höflich.
Lord Summers schaute sie mit großen Augen an. »Sie spielen auswendig?«
»Ja«, antwortete Angelica schlicht.
Da es darauf nichts mehr zu sagen gab, nickte Lord Summers nur und setzte sich zu seiner Frau auf das dem Piano am nächsten stehende Sofa.
Angelica justierte den Sitz, sodass sie mit den glatten Sohlen ihrer Abendschuhe bequem an die Pedale kam. Dann wendete sie sich kurz an ihr Publikum, das erwartungsvoll verstummt war.
Mikhail saß links von ihr neben einem jungen Mädchen, das aussah, als würde es jeden Moment ohnmächtig werden. Lord Summers Töchterchen hatte das Glück, an diesem Abend Mikhails Tischdame zu sein. Angelica bezweifelte nicht, dass die Summers nichts dagegen hätten, wenn es zu einer Verbindung zwischen den beiden käme.
»Ich werde Mozarts Fantasie in d-Moll spielen«, erklärte sie.
Die Reaktion darauf war ein unruhiges Rascheln, doch Angelica achtete nicht darauf. Sie holte tief Luft, schüttelte kurz ihre Hände aus und platzierte sie über den Tasten.
Perlend stiegen die Töne auf und durchdrangen den Raum bis in den letzten Winkel. Zeit und Raum hörten auf zu existieren. Angelica war in einer anderen Welt, einer Welt ohne Sorgen, einer Welt voll Harmonie und Schönheit.
Ihr fehlerloses Spiel bezauberte selbst die ärgsten Kritiker unter den Gästen. Die Standuhr in der Eingangshalle tickte im Takt zu ihrer Musik.
Applaus brandete auf, als sie fertig war.
»Fantastisch, meine Liebe, einfach fantastisch«, schniefte Lady Summers und betupfte sich mit einem Taschentuch die Augenwinkel. »Würden Sie noch etwas für uns spielen?«
Angelica schaute Lord Summers an. Auch die anderen Gäste baten um eine Zugabe.
»Wir würden uns glücklich schätzen, wenn Sie noch ein Stück für uns spielten«, bat auch Lord Summers.
Angelica nickte und wandte sich wieder den Tasten zu. Dann jedoch zögerte sie. Die Lampions, die man draußen im Garten angezündet hatte, waren so zauberhaft. Sicher ein lächerlicher Einfall von ihr, aber sie entschloss sich, dennoch zu fragen.
Muss wohl der Einfluss der Herzogin sein, dachte sie reumütig, während sie sich abermals an Lord Summers wandte.
»Lord Summers, hätten Sie vielleicht etwas dagegen, wenn wir das Licht löschen würden? Ich brauche es nicht, da ich ohne Partitur spiele, und die Lampions draußen im Garten sind einfach zu bezaubernd, finden Sie nicht auch?«
»Was für eine wundervolle Idee!«, rief Lord Summers zu ihrer großen Erleichterung begeistert aus. »Meine Leute sollen sich sofort darum kümmern!«
Amüsiert beobachtete Angelica, wie sogleich einige Herren den Damen versicherten, dass sie im Dunkeln keine Angst zu haben bräuchten, weil sie ja da wären. Mikhail dagegen schien keine derartigen Versicherungen nötig zu haben: Seine junge Begleiterin wirkte ausgesprochen begeistert über die Aussicht, bei romantischer Musik im Dunkeln mit ihm sitzen zu dürfen.
Als Alexander die Musik hörte, wusste er sofort, dass sie es war, die spielte.
»Einfach bezaubernd, nicht?«, flüsterte Margaret, die Hand auf dem Arm ihres Gatten. Sie wurden von einem Dienstmädchen zum Musikzimmer geführt.
Alexander hörte James’ Antwort nicht, denn er war wie gebannt. Die Musik füllte seine Brust, brachte all seine Sinne zum Schwingen.
Atemberaubend, ganz so wie sie.
Alexander war einen Moment lang versucht, umzukehren und zu gehen. James hatte ihn dazu überredet, sie zu dieser Dinnerparty zu begleiten, weil er »ein wenig ausspannen müsse«, wie er sich ausdrückte. Hätte er aber gewusst, dass sie auch da sein würde, wäre er wohl nicht mitgekommen. Es wurde mit jedem Mal schwerer, ihr zu widerstehen.
Sie nicht zu berühren. Sie nicht zu küssen. Sie nicht zu besitzen.
Gestern Abend war es ihm noch einmal gelungen, sich von ihr zurückzuziehen, aber er bezweifelte, dass er es ein weiteres Mal schaffen würde.
Aber er ging nicht. Er konnte nicht. Und schon hatten sie den Eingang zu dem Zimmer erreicht, aus dem die Musik perlte.
Überrascht stellte er fest, dass sie im Dunkeln spielte. Er sah vage Gestalten auf Sofas sitzen, die um den großen, vom Mond beschienenen Konzertflügel gruppiert waren.
Margaret tauchte neben ihm auf, und alle drei standen stumm da und lauschten.
Angelica sah aus wie eine Verlängerung des Instruments, das sie so hervorragend beherrschte, das ihre Seele eingefangen hatte, so, wie sie die seine eingefangen hatte.
Wie gebannt lauschte das Publikum ihrem Spiel.
Als ihre Finger am Ende über den Tasten verharrten, herrschte tiefe Stille.
Sei mein.
Der Gedanke war ihm entwischt, bevor er es verhindern konnte. Er begehrte diese Frau, wie er noch nie im Leben eine Frau begehrt hatte. Viele Vampire hatten menschliche Sexualpartner, das war nichts Ungewöhnliches. Wenn sie seine Geliebte wurde, könnte er seinen Verpflichtungen als ihr Führer so viel leichter nachkommen.
Ja, sie war unschuldig und unentschlossen, aber sie begehrte ihn auch, dessen war er sicher. Und wenn sie einmal zusammen wären, würde er sie besuchen, wann immer es ihm passte. Und dieses unangenehme Feuer, das in ihm loderte, würde sich bald genug abkühlen. Dann könnte er sich wenigstens wieder auf seine Aufgabe konzentrieren, etwas, das ihm nicht mehr gelungen war, seit er sie kennen gelernt hatte.
Sei mein. Angelicas Hände zuckten von den Tasten zurück. Hatte sich ihre Blockade beim Klavierspiel aufgelöst? Die Stimme klang nach Alexander, aber das konnte nicht sein. Alexander war nicht hier. Und so etwas würde er sowieso nie sagen.
Ihr Blick schweifte suchend über das begeistert applaudierende Publikum. Nein, sie hatte sich von ihrer Musik hinreißen lassen, das geschah oft genug. Einmal hatte sie sich so vom Türkischen Marsch mitreißen lassen, dass sie glaubte, Trompeten und Trommeln zu hören.
»Unglaublich!«, rief Lord Summers ein ums andere Mal aus, während die Diener das Licht anzündeten. »Einfach fantastisch!«
»Danke.« Angelica machten diese Lobeshymnen allmählich verlegen. Der Applaus hatte immer noch nicht aufgehört. Ihre Wangen brannten.
»Ah, da sind ja auch unsere letzten Gäste.« Lord Summers eilte auf die Herzogin zu. »Eure Hoheiten, so geehrt, so geehrt! Und Prinz Kourakin! Willkommen, willkommen, was für eine wundervolle Überraschung.«
Angelica machte große Augen. Er war also doch da! Aber die telepathische Botschaft konnte doch nicht von ihm gekommen sein, oder? In diesem Moment vertrat ihr Mikhail die Sicht auf den umwerfenden Mann, der die Blicke aller anwesenden Frauen auf sich zog.
»Das war wundervoll.«
Ihr Herz, das bei Alexanders Anblick einen Schlag ausgesetzt hatte, führte nun einen verlegenen kleinen Tanz auf. Sie biss sich in die Lippe. Mikhails strahlende Miene machte ihre Schuldgefühle nur noch schlimmer, und die Distanz zwischen ihnen erschien ihr schier unerträglich. Sie wünschte so sehr, ihm alles sagen zu können.
»Danke.«
Ihr Bruder hob die Hand und schob eine Haarnadel in ihre Coiffure zurück.
»Superb gespielt, wenn auch - wie immer - mit undamenhafter Leidenschaft!« Er grinste. »Trotzdem: Ich bin stolz auf dich.«
Die Gefühle drohten sie zu überwältigen, und sie sehnte sich danach, ihre Arme um ihren kleinen Bruder schlingen zu können, wie sie es früher so oft getan hatte.
»Mikhail, ich hab dich von Herzen gern, das kann ich gar nicht oft genug sagen.«
Mikhail ergriff ihre Hände und blickte auf die schlanken Finger, die so wunderbare Musik hervorbrachten.
»Ich dich auch. Ich versteh’s zwar nicht, aber du fehlst mir.«
Angelica verstand es sehr wohl, durfte aber nichts sagen.
Mikhail tätschelte lachend ihre Hand. »Und wo ist Nicholas?«
Angelica zuckte mit den Schultern, froh, dass er das Thema gewechselt hatte. »Er musste weg, seine Mutter ist krank. Ich soll ihn bei dir entschuldigen.«
»Komisch, ich dachte, seine Mutter …«
»Guten Abend!« Joanna tauchte lächelnd neben Mikhail auf.
»Joanna, bist du meinem Bruder überhaupt schon offiziell vorgestellt worden?«, fragte Angelica.
Mikhail verbeugte sich lächelnd. »Mikhail Belanow, zu Diensten.«
Joanna lachte. Ihre Augen funkelten. »Nennen Sie mich bitte Joanna. Und es ist mir ein Vergnügen, ehrlich! Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Darf ich Ihnen dazu etwas sagen? Wenn Sie als Ehemann ebenso hingebungsvoll sind wie als Bruder, dann hätte ich da ein paar Freundinnen, die ich Ihnen unbedingt vorstellen möchte!«
Mikhail brachte dieser reichlich ungewöhnliche Auftakt ihrer Bekanntschaft keineswegs aus der Fassung. Angelica dagegen räusperte sich verlegen.
»Joanna … also wirklich«, begann sie halb lachend, wurde jedoch von ihrem Bruder unterbrochen.
»Heißt das, Sie sind schon vergeben, Lady Joanna?«
Angelica traute ihren Ohren nicht. Und Joanna lachte auch noch! Oh, diese beiden waren einfach unmöglich.
»Hört sofort auf, alle beide! Man wird euch noch hören, und dann ist mein Ruf ruiniert!«, zischte sie erzürnt.
Joanna legte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Aber du bist doch schon so gut wie verheiratet, mit diesem gutaussehenden Teufelskerl. Wozu brauchst du da noch einen makellosen Ruf?«
Mikhail lachte, Angelica schüttelte nur den Kopf. Glücklicherweise verkündete Lord Summers in diesem Moment, dass das Dinner serviert sei.
Mikhail entschuldigte sich und suchte Miss Summers auf, die bereits darauf wartete, zum Esszimmer eskortiert zu werden.
Joanna hatte gerade angefangen, sich bei Angelica über ihren entsetzlichen Tischpartner auszulassen, als Lady Summers zu ihnen trat.
»Ach meine Liebe, es tut mir so leid, dass Lord Adler im letzten Moment gehen musste. Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich schon, Sie Arme! Ich hoffe, es macht Ihnen nicht allzu viel aus.«
Weniger jedenfalls als ihrer Gastgeberin, wie es den Anschein hatte. Angelica beeilte sich, die Dame zu beschwichtigen.
»Bitte, machen Sie sich keine Sorgen, Lady Summers. Ich verstehe das vollkommen.«
»Sie kann meinen Tischpartner haben«, warf Joanna eifrig ein. »Als Witwe kann ich problemlos allein zu Tisch sitzen.«
Angelica warf Joanna einen verärgerten Blick zu.
Was fällt dir ein?, funkte sie ärgerlich.
Sie hörte Joannas leises Lachen in ihren Gedanken.
Na, ich will diesen aufgeblasenen Schnösel loswerden, den mir Lady Summers aufgehalst hat. Ich hatte schon mal auf einer anderen Dinnerparty das zweifelhafte Vergnügen. Sein Ego ist schlicht unerträglich.
Glücklicherweise nahm Lady Summers Angelica die Mühe ab, Protest einzulegen: »Aber Lord Jeffrey ist doch so entzückt von Ihnen, Lady Joanna. Sehen Sie, er wartet schon ungeduldig an der Tür auf Sie!«
»Es macht mir wirklich nichts aus, Lady Summers«, sagte Angelica, bevor Joanna noch einmal versuchen konnte, ihren unbequemen Tischnachbarn auf sie abzuwälzen.
Lady Summers war erleichtert. »Nett, dass Sie das sagen. Trotzdem! Wie unangenehm. Ich werde Ihren Bruder bitten, Sie zu Tisch zu bringen, sobald sich unsere Tochter gesetzt hat.«
Angelica wollte der Dame gerade versichern, dass das tatsächlich die beste Lösung sei, doch sie kam nicht dazu. Alexanders dunkle Stimme strich über ihre Haut hinweg und ließ sie erschaudern.
»Wenn Sie mir die Ehre erweisen würden?« Langsam, aber sicher bekam sie eine richtige Abneigung gegen seine Fähigkeit, sich völlig geräuschlos anzuschleichen.
»Prinz Kourakin!« Lady Summers war offensichtlich begeistert.
»Da ich selbst unangekündigt erschienen bin, fehlt mir leider auch eine Tischdame«, erklärte er.
»Ach, Sie haben uns so eine Freude mit Ihrem Kommen gemacht! Alle meine Freundinnen haben versucht, Sie einzuladen, und keine hat es geschafft. Wie sie mich beneiden werden! Und die arme Prinzessin Belanow, ohne Tischpartner … Sie sind ein Held, Prinz Kourakin, ein Ritter in schimmernder Rüstung!«
Wohl eher in schwarzer, dachte Angelica düster.
»Prinzessin?« Alexander bot ihr seinen Arm. Seine Augen funkelten spöttisch. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Nein, das war unmöglich, ihre Sperre war noch da.
Angelica legte ihre Hand auf seinen Arm und fühlte, wie sich seine Muskeln unter ihrer Berührung strafften. Stumm geleitete er sie an ihren Platz in der Mitte der langen Tafel.
»Da bist du ja!«, rief die Herzogin, als Alexander Angelica den Stuhl zurechtrückte. Margaret, die ihr gegenübersaß, drohte scherzhaft mit dem Finger. »Du hast nie gesagt, dass du eine so gute Klavierspielerin bist!«
James, der zur Linken seiner Frau saß, hob die Hand, um dem Kellner zu bedeuten, dass er kein Brot mehr wollte. »Ja, wirklich, es war bezaubernd. Ich hoffe, Sie werden auch einmal für uns etwas spielen.«
»Danke, das ist nett von Ihnen. Es wäre mir ein Vergnügen.« Unter Angelicas Nase tauchte nun ein Teller Suppe auf.
»Ein Toast!« Lord Summers erhob sich von seinem Platz am Kopf der Tafel. »Auf unsere Pianistin.«
Alle hoben ihre Gläser, und Angelica lief schon wieder rosa an.
»Geht es dir gut?«, fragte Alexander leise, und Angelica schaute ihn erstaunt an.
»Wieso denn nicht?« Es ärgerte sie, dass er sich auf einmal ganz anders benahm. Wo war seine kalte, arrogante Art, an die sie sich schon so gewöhnt hatte?
»Vielleicht, weil du ständig an mich denken musst.«
Angelica ließ beinahe ihren Löffel fallen. Woher wusste er das? Nein, er konnte es nicht wissen. Und überhaupt: Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Wie kam er auf die Idee, dass sie ständig an ihn dachte? Sie holte tief Luft, um ihn zurechtzuweisen, doch er sprach bereits weiter.
»Ich jedenfalls habe ständig an dich gedacht.«
Angelica verschluckte sich und ließ hustend ihren Löffel in die Suppe fallen, dass es nur so spritzte. Aus Furcht, sonst zu laut zu werden, entschloss sie sich, in Gedanken mit ihm zu kommunizieren. Sie klopfte, bildlich gesprochen, bei ihm an. Er ließ sie ein.
Was meinst du damit?
Ich meine, ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich immer an dich denken muss.
Das war nicht sein Ernst. Das konnte nicht sein Ernst sein! Letzte Nacht hatte er doch gekniffen! Sollte das ein Scherz sein?
Sie verschloss ihren Geist wieder. Es war besser, sich auf die anderen Gästen zu konzentrieren. Der Herzog und die Herzogin unterhielten sich mit Lady Summers, und Joanna tat alles, um Lord Jeffrey nicht zuhören zu müssen.
»So erbaulich Musik auch sein mag«, sagte er gerade, »wünschte ich doch, man würde die Frauen dieses großartigen Landes dazu ermuntern, ihre Kenntnisse auch auf andere Gebiete zu erweitern. Die Welt ist groß, wissen Sie. Als ich in Indien war …«
Angelica, die nicht an Lord Jeffreys Ergüssen über seinen Indienaufenthalt interessiert war, wollte sich schon abwenden, als ihr Bruder plötzlich sagte:
»Die Kenntnisse meiner Schwester beschränken sich nicht nur aufs Pianospielen.«
Angelica wünschte, Mikhail würde sich nicht auf einen Streit mit dem aufgeblasenen Lord einlassen. Sie kannte Männer wie ihn: Sie waren nur an ihrer eigenen Meinung interessiert, und es hatte gar keinen Zweck, seinen Atem an sie zu verschwenden.
Aber die Gäste schienen die plötzliche Anspannung gespürt zu haben und verfielen in Schweigen.
»Mein lieber Prinz Belanow, ich wollte wirklich nicht Ihre Schwester beleidigen, aber man kann doch kaum erwarten, dass die Dame auch über praktischere Kenntnisse verfügt. Dass die Hauptstadt des Osmanischen Reichs Konstantinopel heißt, zum Beispiel.«
»Ich versichere Ihnen, Lord Jeffrey, dass meine Schwester …«
»Bitte, Mikhail.« Angelica sah, dass ihr Bruder zornig genug war, um etwas zu sagen, das er später bereut hätte. »Das ist doch nur ein Missverständnis.«
»Und was für ein ›Missverständnis‹ sollte das sein, Prinzessin Belanow?«, fragte Lord Jeffrey mit einem arroganten kleinen Lachen.
Sämtliche Blicke richteten sich auf Angelica, die nun auch allmählich in Hitze geriet. Das war der eingebildetste Kerl, der ihr je untergekommen war!
»Nun, Lord Jeffrey, ich glaube, Sie unterliegen der irrigen Annahme, dass Musik unwichtig ist«, antwortete sie glatt. Sie wollte nicht persönlich werden, denn sie wusste, dass sie das nur bereut hätte.
»Nun denn, Prinzessin, dann erklären Sie uns doch mal, wieso Musik wichtig sein soll!«
Lord Jeffreys herablassende Art weckte in Angelica den unwiderstehlichen Wunsch, das arrogante Grinsen von seinem Gesicht zu wischen.
»Königin Elisabeth hat 1599 Thomas Dallam beauftragt, eine Orgel für Sultan Mehmed den Dritten zu bauen. Es war eine politische Geste, denn sie hatte von ihren Informanten erfahren, dass der Sultan, der in Konstantinopel residiert, was im Türkischen übrigens Konstantinniye ausgesprochen wird, ein großer Musikliebhaber ist.«
Lord Jeffrey lachte höhnisch, aber Joanna grinste begeistert.
»Giuseppe Donizetti, der Bruder des berühmten Opernkomponisten Gaetano Donizetti, wurde 1828 auf Geheiß Sultan Mahmuds des Zweiten zum Direktor der Kaiserlichen Militärmusikakademie ernannt. Noch ein Fall, bei dem die unbedeutende Musik eine bedeutende politische Rolle spielte.«
Diesmal fiel Lord Jeffreys Lachen schon deutlich kürzer aus.
»Und schließlich«, erklärte Angelica aufreizend sachlich, »erinnern Sie sich vielleicht noch an den Besuch von Sultan Abdul Aziz, vor vier Jahren. Aziz, der auf dieser Europareise übrigens Richard Wagners Bayreuther Festspiele mit einer großzügigen Spende unterstützte, besuchte eine Vorstellung von Aubers Masaniello, hier in Covent Garden. Eine Vorstellung, in der, wie die Times nachher berichtete, etliche nicht unwichtige politische Gespräche geführt wurden.«
Lord Summers hob lachend zum zweiten Mal an diesem Abend sein Glas auf Angelica.
»Kommen Sie, Lord Jeffrey, ich glaube, die Prinzessin hat uns ihren Standpunkt deutlich gemacht. Sie müssen zugeben, dass ihre Kenntnisse der Musik Ihren Kenntnissen über osmanische Padischahs in nichts nachstehen.«
»Danke«, sagte Angelica bescheiden.
Wenn sie es geschafft hatte, dem aufgeblasenen Lord mit ein paar Daten die Luft rauszulassen, dann war sie es zufrieden - obgleich sie dieses Gespräch lieber vermieden hätte.
Sie griff zum Löffel, um ihre nun inzwischen zweifellos kalte Suppe zu essen, als ihr der eigenartige Blick auffiel, mit dem Alexander sie betrachtete.
»Was?«, fragte sie gereizt. Hatte sie denn heute Abend keinen Moment Ruhe?
»Ach, nichts«, antwortete er beiläufig. »Ich fand es nur interessant, zu sehen, wie du deine Krallen zeigst.«
Angelica runzelte die Stirn. »Das habe ich nicht! Du hast doch selbst gesehen, dass Mikhail drauf und dran war, sich auf einen Streit mit diesem Mann einzulassen. Das wollte ich verhindern.«
»Indem du dich selbst auf einen Streit mit ihm einlässt?«, fragte Alexander belustigt.
»Das war kein Streit!«
»Wie du meinst, Prinzessin.«
Sie funkelte ihn zornig an.
»Es würde mich doch interessieren«, sagte Lord Jeffrey nun so laut, dass abermals alle verstummten, »ob die kluge Prinzessin Belanow weiß, wer 1645 in Frankreich regiert hat?«
»Wenn Sie Streit suchen, Lord Jeffrey, ich stehe Ihnen gern zur Verfügung«, sagte Alexander kalt.
Angelica schaute ihn überrascht an. Seine Miene war unbewegt, wie immer, aber Angelica wusste, dass Alexander nie etwas nur so zum Spaß sagte.
»Ach, kommen Sie, Prinzessin, müssen Sie sich unbedingt hinter dem Prinzen verstecken?«, höhnte Lord Jeffrey.
Angelica fing den besorgten Blick auf, den James Alexander zuwarf. War dieser etwa drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren? Schwer zu sagen, da er sich ja nie etwas anmerken ließ.
Angelica legte still ihre Hand auf sein Knie.
Danke für deine Hilfe, aber bitte lass dich nicht mit diesem Mann ein. Er ist ein lächerlicher Narr, gab sie ihm in Gedanken zu verstehen.
Ich werde nicht zulassen, dass er dich beleidigt.
Angelica hütete sich, zu viel in diesen Satz hineinzuinterpretieren, konnte aber nicht verhindern, dass sich ein warmes Gefühl in ihr breitmachte.
Er kann mich nicht beleidigen, dafür ist er viel zu unbedeutend.
Alexander nickte knapp, wenn auch mit offensichtlichem Widerstreben.
»Ah, ›sie schwankt, sie zögert, mit einem Worte: Sie ist eine Frau!‹«, zitierte Lord Jeffrey.
Einige Gäste lachten mit ihm, aber eher aus Erleichterung darüber, dass der drohende Streit zwischen den beiden Männern abgewendet zu sein schien.
Angelica sah aus den Augenwinkeln, wie James beschwichtigend seine Hand auf Margarets Arm legte. Das brachte das Fass zum Überlaufen!
»Wenn Sie Jean Racine so mögen, dann gefällt Ihnen ja vielleicht auch dieses Zitat«, sagte Angelica sanft. »›Die Freude der Böswilligen ist wie ein reißender Strom.‹«
»›Das Böse im Menschen hat Methode, es wächst kontinuierlich. ‹ Francis Beaumont«, zitierte Lord Jeffrey ungerührt.
»Ist es nicht interessant, dass zumindest das Böse im Manne erwachsen werden kann?« Angelica grinste, sie kam nun richtig in Fahrt. »Während ›Männer bloß zu groß geratene Kinder‹ sind? John Dryden.«
Mehrere Frauen lachten, und auch einige Männer schmunzelten.
»›Der Mann ist Teil des lebendigen Universums.‹ Ralph Waldo Emerson”, verkündete Lord Jeffrey großtuerisch.
Mehrere Gäste lachten mittlerweile offen und freuten sich an dem intellektuellen Schlagabtausch.
»Finden Sie es klug, alle Männer unter einen Hut zu stecken, Lord Jeffrey? Die Napoleons dieser Welt und die König Artus’ dieser Welt? Ich denke, Quintus Horatius hat recht, wenn er sagt, dass sich jeder Mann nach seinem eigenen Format beurteilen sollte.«
Hier wieherten einige Männer geradezu und die Frauen lachten herzlich. Lord Jeffrey, der durchaus verstanden hatte, worauf sie hinauswollte, lief rosa an.
»Denken Sie, Prinzessin Belanow? Ist das Denken, neben dem Klavierspielen, etwa Ihr zweites Hobby?« Seine Augen funkelten bösartig; er hatte jeden Versuch, humorvoll sein zu wollen, aufgegeben.
Es wurde still. Alle spürten, dass die Stimmung umgeschlagen war, aber Angelica ließ sich nicht beirren.
»Nur die Ruhe, Lord Jeffrey. Hat nicht Ralph Waldo Emerson auch gesagt, dass Männer die Beherrschung verlieren, wenn es darum geht, ihre Vorlieben zu verteidigen? Nun, Sie haben offensichtlich eine Vorliebe für Frauen, die wenig denken, aber Sie sollten es sich nicht allzu sehr zu Herzen nehmen, wenn ich nicht dazu gehöre.«
Lord Jeffreys Gesichtsfarbe war nun deutlich rot geworden. Er funkelte sie an, als wollte er Löcher in sie bohren.
»Die zwei Kardinaltugenden einer ehrbaren Frau sind es, zu schweigen und das Haus zu hüten.«
Diese beleidigenden Worte hallten geradezu im Raum wider. Angelica, die spürte, dass Alexander gleich aufspringen würde, überlegte rasch.
»Aber mein lieber Lord Jeffrey, haben Sie mir nicht vorhin erst vorgeworfen, ich wolle nicht auf Ihre Herausforderung antworten? Ihrer letzten Aussage nach hätte ich ja nun schweigen sollen.«
Sie nahm ihre Serviette, tupfte sich die Lippen ab und trank einen Schluck Wein. Sie konnte Alexanders Wut förmlich spüren wie etwas Lebendiges und war heilfroh, dass er noch immer schwieg. Der Blick in seinen Augen konnte es nur mit dem in den Augen ihres Bruders aufnehmen. Eine angespannte Stille hatte sich über den Raum gesenkt, aber das kleine Teufelchen, das auf Angelicas Schulter saß, wollte noch keine Ruhe geben.
»Die Tatsache, dass Sie sich ständig selbst widersprechen, ist ein Beweis Ihrer Schwäche«, fuhr Angelica im Plauderton fort. »Ich gestehe, ich habe selbst eine Schwäche; ich habe die Worte George Herberts zwar oft gelesen, aber erst jetzt richtig verstanden: ›Wenn dich ein Esel anschreit, schrei nicht zurück!‹«
Lord Jeffrey, dessen Ohren nun wie Signalmasten leuchteten, sprang erbost auf. »Sie … Sie unverschämte …«
»Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, Lord Jeffrey, dann sollten Sie auf der Stelle gehen.« Alexanders Stimme hätte Eis schneiden können. Lord und Lady Summers sahen aus, als wollten sie im Boden versinken. Ihr Bruder und der Herzog hatten sich ebenfalls erhoben.
Lord Jeffrey schaute sich ergrimmt um, konnte aber in keinem Gesicht Sympathien entdecken. Wütend stürmte er davon.
»Es tut mir so leid!«, entschuldigte sich Lord Summers, während der Herzog und ihr Bruder wieder Platz nahmen. »Es war unsere Schuld, wir hätten ihn nicht einladen sollen. Wir hätten wissen müssen, dass er Ärger macht, wie immer, wenn er irgendwo eingeladen ist. Er ist ein Verwandter meiner Frau, und da fühlten wir uns verpflichtet … nun ja, es tut uns sehr leid, meine Liebe.«
Angelicas Zorn war verraucht. Im Gegenteil, sie hatte nun selbst ein schlechtes Gewissen. »Bitte, Sie müssen sich nicht bei mir entschuldigen. Ich hätte meiner Zunge nicht so freien Lauf lassen dürfen, egal, welche Beleidigungen er auch äußerte.«
»Mach dich nicht lächerlich, Kind«, meldete sich da Margaret zu Wort. »Du hast nur ausgesprochen, was alle hier gerne gesagt hätten - und äußerst eloquent obendrein.«
Das brachte die betretenen Gäste zum Lachen, und die Anspannung löste sich. Nur Alexander schien davon unberührt. Er hatte seit seiner Drohung kein Wort mehr gesagt.
»Nun, darf ich dann den nächsten Gang servieren lassen?«, fragte Lady Summers munter, jetzt da ihre Gäste sich wieder miteinander unterhielten. Der Auftritt war zwar äußerst unangenehm gewesen, aber sie wusste, dass ihre Dinnerparty damit zum Stadtgespräch werden würde. Die Leute würden Schlange stehen, um bei ihrer nächsten Einladung dabei zu sein.
Ein leises Kribbeln unter der Kopfhaut verriet Angelica, dass Alexander mit ihr reden wollte.
Ja?
Sag deinem Bruder, dass du nach Hause gehen willst.
»Was?«, flüsterte Angelica erzürnt. Aber Alexander schaute nicht mal zu ihr her, sondern trank seelenruhig einen Schluck Wein.
Sag es ihm, oder ich schleppe dich eigenhändig nach draußen.
Aber wieso …
Sofort, Angelica.
Ich … na gut!
Angelica?
Was?!
Kiril ist draußen und wird dir folgen. Sobald dein Bruder dich sicher im Bett weiß, wird Kiril dich nach Hause bringen.
Du meinst in dein Haus!
Geh.
Widerspruch war zwecklos. Der verdammte Kerl würde sie wirklich aus dem Zimmer schleppen, wenn sie nicht gehorchte!
Angelica fing den Blick ihres Bruders auf und bedeutete ihm, dass sie gehen wollte. Er verstand nicht.
Um die Sache abzukürzen, konzentrierte sie sich und schickte die Botschaft kurzerhand telepathisch.
Können wir bitte gehen?
Mikhail schaute sie überrascht an, nickte aber. Sogleich erklärte er seiner jungen Tischnachbarin die Situation.
Dann erhob er sich.
»Lady Summers, Lord Summers, ich bedaure, aber wir müssen jetzt gehen«, verkündete er.
»Sie gehen schon, Prinz Belanow?« Lady Summers war sichtlich enttäuscht.
»Ich fürchte, ja.«
»Nun gut, wenn es unumgänglich ist... Aber danke nochmals, dass Sie kommen konnten, Sie und Ihre Schwester! Danke für das wunderschöne Klavierspiel«, sagte Lord Summers.
Mikhail warf einen letzten Blick in die Runde, verbeugte sich und streckte Angelica dann seine Hand hin. Kurz darauf waren sie fort.