5. Kapitel
Alexander bedeutete Kiril, die Flügel der großen Salontür zu schließen. Achtzehn Augenpaare folgten dem Prinzen, während er selbst mit langen Schritten das Zimmer durchquerte. Er blieb vor dem Kamin stehen, in dem ein munteres Feuer prasselte. Er mochte Feuer. Das Flackern eines Feuers, die gelben, roten und blauen Flammen wirkten beruhigend auf ihn, der eigentlich nie richtig entspannt, der immer auf der Hut war.
»Alexander?«
James Murray, Herzog von Atholl und Oberhaupt des Nordclans, thronte wie ein König in dem ausladenden Kaminsessel. In seinem schwarzen Smoking, dem perfekt gebundenen Schlips und mit seinen dichten braunen Haaren, die ihm bis zum Hemdkragen reichten, war er eine überaus würdevolle und elegante Erscheinung.
James erhob sich stolz und trat vor den Kamin. Seiner Erscheinung nach war er ein gesunder, durchtrainierter Mann von vierzig, doch in seinen Augen lag die Erfahrung von Jahrhunderten.
»Wir haben uns lange nicht gesehen, Alexander.«
»Das stimmt. Du siehst gut aus, James.«
»Du auch. Danke, dass du so kurzfristig kommen konntest. Es ist mir überaus peinlich, zugeben zu müssen, dass wir nicht allein mit diesem Problem fertig werden.«
Das konnte Alexander gut nachfühlen. Er legte dem Freund tröstend die Hand auf die Schulter.
James schaute ihn überrascht an, was Alexander nicht entging. Er zog seine Hand zurück. Er war kein Mensch, der andere gerne anfasste oder sich anfassen ließ.
»Lasst uns beginnen.«
James nickte und wandte sich den Anwesenden zu. Alexanders Geste hatte ihn einen Moment lang an seinen alten Freund erinnert, mit dem er viele gute, sorglose Zeiten durchlebt hatte. Aber Helenas Tod hatte alles verändert. Der Mann, der nun vor ihm stand, war ein ganz anderer, ein Einzelgänger, der die Gesellschaft anderer mied.
»Jenen, die noch nicht die Ehre hatten, möchte ich hiermit Alexander Borissowitsch, Prinz Kourakin, Oberhaupt des Ostclans, vorstellen.«
Schweigen. James fuhr fort.
»Wir haben Alexander hierhergebeten, damit er uns hilft, Sergej Petrowalitsch zur Strecke zu bringen. Ihr alle wisst, wie gefährlich dieser Vampir ist. Er hat bereits viele getötet.«
Alexander blickte sich um. James war ein Mann der leisen Töne, ein einfühlsamer Mann. Doch gerade deshalb war er ein sehr guter Clanführer und wurde von seinen Leuten respektiert und geliebt. Auch jetzt hörten sie ihm gebannt zu.
Alexander hielt es zwar für äußerst unwahrscheinlich, dass sich unter den Anwesenden ein Verräter befand, doch war es seine Gewohnheit, immer alles genau zu überprüfen.
Während James also seine Rede hielt, lehnte sich Alexander an die Wand und begann, sich die Anwesenden genauer anzusehen. Ihre Gedanken waren mehr oder weniger dieselben, sie hassten und fürchteten Sergej.
Er war schon beinahe beim letzten Mitglied angelangt, als er auf eine Sperre stieß.Von den meisten war sein Eindringen überhaupt nicht bemerkt worden, und die beiden, die ihn bemerkten, hatten sich nicht gewehrt. Hier jedoch schien einer den Helden spielen zu wollen. Warum, das konnte sich Alexander nicht denken. Er musterte den Vampir neugierig: braunes Haar, braune Augen, Durchschnittsgröße … eigentlich in keinerlei Hinsicht bemerkenswert. Wenn James mit seiner, wie gewöhnlich ziemlich langen, Rede fertig war, würde er versuchen, mehr über den Mann herauszufinden. Aber jetzt hatte er keine Zeit und keine Geduld für Spielchen.
Mit einem winzigen Schubs durchbrach Alexander die Barriere des anderen und durchforschte seine Gedanken.
Der Mann schaute ihn mit großen Augen an. Er schien eher schockiert als verärgert zu sein. Alexander wurde klar, dass der Mann nur deshalb versucht hatte, ihn abzublocken, weil er ihn auf die Probe stellen wollte. Das verstand Alexander.
Kompliment. Deine Sperre ist sehr stark.
Wie hast du das geschafft? Bis jetzt ist es noch niemandem gelungen, meine Sperre zu durchdringen!
Ich bin nicht irgend jemand.
Bitte entschuldige, Prinz. Sergej hat meine Frau getötet. Jetzt habe ich nur noch meinen Sohn, der noch minderjährig ist. Ich musste sichergehen, dass diese Unternehmung, die mich vorübergehend von ihm trennen wird, Aussicht auf Erfolg hat. Ich sehe nun, dass dies der Fall ist. Ich stehe zu Diensten.
Wir erwischen ihn, und wir werden ihn vor Gericht stellen.
Damit verließ Alexander die Gedanken des Mannes und wandte sich dem nächsten zu.
»… wird Prinz Kourakin die Jagd auf Sergej anführen«, beendete James seine Einführung. Er nahm wieder in seinem Sessel Platz.
Alexander war kein Mann großer Worte. Wie es seine Art war, kam er direkt zu Sache. »Sergej ist stärker als die meisten hier, wenn nicht alle. Und er kann besser töten als ihr. Sein Geist ist stärker, sein Überlebensinstinkt schärfer.«
Er hielt inne, um seine Worte auf die Anwesenden wirken zu lassen. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her; einige waren aufgestanden als natürliche Reaktion auf eine vermeintliche Bedrohung.
»Ich sage dies nur, damit ihr euch eurer größten Stärke bewusst werdet: Ihr seid nicht allein. Sergej schon. Er ist zwar stärker als jeder Einzelne von euch, aber ihr seid ihm als Gruppe überlegen. Es ist daher von jetzt an eure Pflicht, ihm niemals allein gegenüberzutreten.
Zwei Vampire aus diesem Clan wurden getötet. Zwei äußerst fähige Vampire. Beide zusammen hätten Sergej überwältigen können. Allein hatten sie keine Chance.«
Alexander blickte jeden Einzelnen an, dann sprach er weiter. »Ich werde keine Todesfälle in den eigenen Reihen mehr hinnehmen! Fehler werden nicht toleriert. Ist das klar?«
Ein allgemeines, lautes »Ja« schallte durch den Raum.
»Also gut. Ladies und Gentlemen, Sergej ist hier in London, und es ist unsere Aufgabe, ihn zu finden. Ich möchte, dass ihr in nächster Zeit auf so viele Veranstaltungen wie nur möglich geht und besonders viele gesellschaftliche Anlässe besucht. Haltet Augen und Ohren offen. James wird in drei Tagen einen Ball geben, ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis. Wenn Sergej so unverfroren ist, wie ich ihn einschätze, könnte er dort durchaus auftauchen. Ich erwarte daher ohne Ausnahme eure Teilnahme.«
Damit war die Versammlung beendet, und die Vampire machten sich auf den Heimweg. Alexander grübelte, während er zusah, wie sie einer nach dem anderen den Raum verließen. Die Frau im blauen Kleid war nicht gekommen. Es hatten zwar drei Clanmitglieder gefehlt, doch waren diese entschuldigt, weil sie sich im Westterritorium aufhielten. Sie dagegen hatte keine solche Entschuldigung.
Alexander setzte sich vor den Kamin und legte sinnierend die Fingerspitzen zusammen. Sie war ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen, seit er sie gesehen hatte. Sie hatte etwas an sich …
»Bist du der Prinz Kourakin, der die Rebellion von 1678 ganz allein niedergeschlagen hat?«
Alexander drehte sich stirnrunzelnd zur Seite. Vor ihm stand ein halbwüchsiger Knabe.
Der Mann, mit dem er sich zuvor in Gedanken verständigt hatte, trat rasch herbei und legte seinen Arm um den Jungen. »Verzeih! Das ist mein Sohn. Er ist noch jung und weiß es nicht besser.«
Junge Vampire waren, in Alexanders Augen, immer ein Risikofaktor und konnten unter Umständen großen Schaden anrichten. Er erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und trat auf den Jungen zu, der nun mit großen, ängstlichen Augen zu ihm aufblickte.
Alexander legte seine Hand auf die Stirn des Jungen.
Was macht er da?
Er will mich umbringen!
Dieses Haus ist größer als unseres.
Ich darf mir nichts anmerken lassen, sonst macht sich Vater Sorgen.
Mutter, du fehlst mir.
Alexander nahm seine Hand von der nun schweißnassen Stirn des Jungen.
»Ich habe es nicht allein geschafft«, sagte er sanft. »Ich hatte Hilfe. Wie heißt du, Junge?«
»Christopher Langdon«, antwortete er schüchtern.
»Und wie alt bist du, Christopher?«
»Dreizehn.«
Vampirkinder waren eine Seltenheit, und Alexander hatte schon lange kein so junges mehr gesehen. Der Knabe musste seit kurzem von der Blutgier geplagt werden, keine leichte Sache für einen Vampir, geschweige denn für einen heranwachsenden Vampir.
Alexander konnte sich noch gut erinnern, wie es bei ihm gewesen war. Er war wochenlang mit rot glühenden Augen und ausgefahrenen Fangzähnen herumgelaufen und hätte am liebsten jeden gebissen, der ihm über den Weg lief … Diesen Zustand vor der Welt zu verbergen, war verflucht schwer gewesen.
Der Junge schien so weit in Ordnung zu sein, aber Alexander wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Wildheit in seine Augen trat. Und bevor das geschah, musste der Initiationsritus vollzogen werden: die Aufnahme des Jungen in den Clan und dessen strenge Gesetze.
Alexander trat vor den Kamin und sprach Christophers Vater an.
»Er muss bald initiiert werden.«
Henry Langdon nickte. »Ja, Prinz Kourakin. Aber der Herzog hat entschieden, dass wegen der momentanen Krise die übliche Drei-Tages-Zeremonie ausfallen muss; doch der Ritus selbst soll so bald wie möglich stattfinden. Christopher quält bereits die Blutgier.«
Alexander konnte James’ Entscheidung nur zustimmen. Christopher musste lernen, dem Durst zu widerstehen, bevor er von ihm überwältigt wurde. Und hierzu diente die Initiierung. Sie durfte nicht zu lange aufgeschoben werden.
»Gut. Ich werde mich um die Einzelheiten kümmern.«
Henry schluckte mühsam. Der Tod seiner Frau war ein großer Schock gewesen, den er noch nicht überwunden hatte. Er war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass er ja nun jemanden suchen musste, der den Platz seiner geliebten Kristina bei der Initiation seines Sohnes übernahm. Gewöhnlich war es die Mutter, die den Säugling besorgte, der für die Zeremonie benötigt wurde. Wie hatte er das bloß vergessen können?
»Dafür wäre ich überaus dankbar, Prinz Kourakin«, sagte Henry erleichtert und drückte seinem Sohn die Schulter, zum Zeichen, dass sie nun gehen mussten.
»Wiedersehen, Prinz Kourakin«, lächelte der Junge.
Alexander blickte den beiden nach. An Kinder hatte er überhaupt noch nicht gedacht, aber das sollte er wohl. Nicht viele Vampire erreichten ein Alter, in dem es ihnen möglich war, sich fortzupflanzen. Es war seine Pflicht seiner Rasse gegenüber, ein Kind zu zeugen.
Aber das musste warten, bis er mit dieser leidigen Angelegenheit hier fertig war.
»Wie wär’s mit einem Drink?«
James trat auf ihn zu und reichte ihm ein Glas mit einer blutrot schimmernden Flüssigkeit. Alexander nahm einen genießerischen Schluck.
»Willst du hier schlafen, James?«
»Nein. Ich muss gehen. Margaret und ich, wir erwarten unser erstes Kind, und es fällt mir schwer, sie auch nur für kurze Zeit allein zu lassen.«
Alexander hob überrascht die Brauen. »Gratuliere! Ich hätte eigentlich wissen müssen, dass nur ein solcher Grund Margaret davon abhalten konnte, zu kommen. Sie konnte noch nie still zu Hause sitzen.«
James fuhr sich lachend mit den Fingern durch die Haare. »Nun, ich gestehe, dass es meine Idee war, sie zu Hause zu lassen. Wenn es nach ihr ginge, würde sie in ganz London herumschnüffeln und selbst nach Sergej suchen.«
Alexander schüttelte belustigt den Kopf und schenkte sich noch ein Glas ein. Das Blut brannte in seiner Kehle und sammelte sich warm in seinem Magen.
»Wie um alles in der Welt hast du das geschafft? Ich weiß noch, wie schwer es war, das Mädchen dazu zu überreden, einem auch nur so was wie eine Tasse Tee zu bringen, geschweige denn sie von etwas abzuhalten, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte.«
James stellte sein Glas ab und zog sein Jackett glatt. Über seine Frau zu reden, machte ihn nur noch nervöser. Er wollte nach Hause, zu ihr.
»Nun, es hat seine Vorteile, Clanoberhaupt zu sein, Alexander. Sie muss mir ebenso gehorchen wie alle anderen auch. Und jetzt werde ich, mit deiner Erlaubnis, zu meiner wütenden Gattin heimkehren.«
Alexander brachte seinen Freund zur Tür. Dabei fiel sie ihm wieder ein.
»Ehe ich es vergesse: Habt ihr jemanden zu Besuch hier in London? Einen Vampir aus einem anderen Territorium?«
»Nicht, dass ich wüsste.« James runzelte die Stirn. »Warum fragst du?«
»Weil ich heute auf dem Ball eine Vampirin gesehen habe, die ich nicht kannte. Nun, sie wird wohl gerade erst angekommen sein und sich morgen bei dir melden.«
James nickte. »Ich werde sie natürlich über die Lage informieren und sie warnen.« James warf einen Blick hinaus auf die nachtdunkle Straße, dann zog er seinen Hut vor Alexander und ging.
Alexander kehrte in den Salon zurück und starrte nachdenklich ins Feuer, wo die restlichen Holzscheite zu Asche verglühten. Sie erinnerten ihn an ihn selbst; er war wie dieses Holz, in dem die rote Glut allmählich erstarb.
In seinen frühen Jahren hatte Alexander großen Spaß am Leben gehabt: immer auf Partys, immer eine Frau im Bett, und als auch dieses Vergnügen allmählich schal wurde, fand er einen neuen Zeitvertreib im Krieg und in der Kunst. Er hatte Ölmalerei studiert und einige Perfektion darin erlangt. Es war Nahrung für seine Seele gewesen. Wie lange er nicht mehr daran gedacht hatte …
Und jetzt schien es, als wäre seine innere Glut am Erlöschen, so wie das Feuer im Kamin. Als würde er verzweifelt an der Restglut festhalten und auf einen frischen Wind hoffen, der sie wieder anfachte.
Der Rauch stieg tanzend in den Kaminschacht auf.
Eine zierliche, anmutige Gestalt schien sich daraus zu bilden … Helena.
Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück, eine ferne Vergangenheit, in der seine Schwester fröhlich um ihn herumtanzte …
»Ach, komm, Alexander - bloß ein Tanz!«
Helena umkreiste ihn mit wehendem Haar und einem Lächeln wie Sonnenschein.
»Ich habe keine Zeit zum Tanzen, Helena. Wir stehen kurz vor einer Schlacht, falls du es noch nicht bemerkt hast.«
Helena blieb vor ihm stehen, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Alexander Kourakin! Ihr steht doch immer kurz vor irgendeiner Schlacht - das zählt nicht! Komm, jetzt tu mir schon den Gefallen. Was gibt es Schöneres als zu tanzen, um das Leben zu feiern?«
Alexander schüttelte lächelnd den Kopf und strich seiner Schwester eine vorwitzige Locke hinters Ohr.
»Was täte ich nur ohne dich, Süße? Wer würde mich ermahnen zu lächeln, wer würde mich schimpfen, dass ich viel zu ernst bin? Wer würde mich kurz vor einer Schlacht zum Tanzen überreden?«
»Ach, mach dir deswegen keine Gedanken! Ich habe den tapfersten Bruder auf der ganzen Welt, weißt du? Der würde nie zulassen, dass mir etwas zustößt. Nein, ich werde noch lange auf dieser Welt verweilen, noch lange!«
Sie wurde ernst. In ihren hellgrauen Augen lag ein unendlich zärtlicher Ausdruck. »Und jetzt tanz mit mir, bevor uns die Türken den Spaß verderben.«
Alexanders Magen krampfte sich zusammen, und er schlug mit der Faust an die Wand. Aber noch bevor der Putz auf den Boden geprasselt war, hatte er sich wieder unter Kontrolle.
Traurigkeit war ein Gefühl, mit dem Alexander nicht sehr vertraut war. Er war viel zu stolz, zu selbstbewusst, um in Trauer oder Verzweiflung zu versinken, wie so viele andere.
Doch die Schuld war sein ständiger Begleiter, und nur ganz selten einmal ließ sie ihn für einen Augenblick in Ruhe.