Epilog

Ihre sehnige Hand schloss sich um die kräftigere des Mannes, der im Bett lag, an dessen Seite sie saß.

Er hing in einer Konstruktion aus Drähten und einem Stahlrahmen. In dem schwachen Nachtlicht wirkte es, als habe er sich in einer Falle verfangen. Ohne diese Lagerung würde sein Rückgrat gänzlich durchbrechen und er sein Leben verlieren. Die Lider waren geschlossen, eine Atemmaske lag über Mund und Nase.

Vieles fühlte sich an wie früher, in ihrem alten Leben. Als sie nachts Sitzwachen übernommen hatte, um Geld zu verdienen. Das Piepsen der Überwachungsmonitore und medizinischen Geräte im Zimmer, die leisen Unterhaltungen auf dem Flur, wenn das Pflegepersonal vorbeiging. Ab und zu tönte der Fernseher zu laut aus dem Aufenthaltsraum, dann zischten und tuschelten die Versammelten, bis der Ton wieder leiser gestellt wurde.

Leise pochte es gegen die Tür, eine Schwester streckte den Kopf herein. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Ein schmaler Lichtspalt zwängte sich in das dunkle Zimmer und fiel auf die Wachende. Ihr langes rotes Haar leuchtete auf, als sei es deswegen wütend.

»So weit«, erwiderte Sia leise. Knapp gab sie die Werte durch, von Sauerstoffsättigung bis Blutdruck.

»Dann komme ich in einer Stunde noch mal.« Die Frau nickte ihr zu und schloss die Tür, die Helligkeit huschte mit ihr hinaus, als fürchtete sie sich vor der Rothaarigen.

Aber Sia sah so gut, als würde die Sonne ins Zimmer scheinen. Sie drückte die Hand des Mannes, der daraufhin ein leises Seufzen von sich gab und die Augen aufschlug.

»Verzeihen Sie mir, Wilson. Ich wollte Sie nicht wecken«, raunte sie. »Schlafen Sie.«

Jeoffray Charles Wilson, ihr Butler, Mann für alles und Hüter ihrer Nichte, drehte den Kopf zu ihr. »Die Beruhigungsmittel verlieren ihre Wirkung, wie es den Anschein hat«, sagte er undeutlich unter der Maske. »Würden Sie das verfluchte Ding wegnehmen und die Sauerstoffschläuche in meine Nase stecken?«

»Sie sollen sich nicht unterhalten.«

»Schlagen Sie mich bewusstlos, wenn Sie es verhindern wollen.«

Sia lächelte schwach und tauschte die Maske gegen die dünnen Schläuche aus, die er tagsüber in der Nase hatte. »Sie wollen nur, dass ich Ihre Butlerin bin.«

Wilson erwiderte die Freundlichkeit. »Ich würde lieber meine alte Stellung einnehmen als das hier.« Er sah über die gespannten Drähte, die zu Halterungen führten, von denen einige in seinem Körper verschwanden, um das zertrümmerte Rückgrat zu stabilisieren. »Ich bin mir sicher, dass er es nicht mit Absicht tat. Ich habe ihn auch nicht erkannt, sonst wäre ich anders vorgegangen.«

»Ich frage mich, warum er es überhaupt tat.« Sia fand keinerlei Erklärung.

Wieder und wieder dachte sie darüber nach, warum Eric ihre Nichte entführt hatte und welche Macht es gewesen sein konnte, die den Nebel in etwas verwandelte, aus dem selbst sie sich nicht befreien konnte. Nicht mal die Windgestalt hatte funktioniert. Alles in ihr hatte durch den Kontakt mit den rätselhaften Energien gebrannt und geschmerzt, so dass sie sich danach eine Stunde lang kaum bewegen konnte. Dadurch entgingen die Entführer ihrem Furor. »Woher wusste er von dem Ausflug?«

Wilson zuckte mit den Augenbrauen. »Ich habe nichts verraten. Aber es wird mit dieser Organisation zusammenhängen, von der er Ihnen berichtete.«

»Er und libra?« Sia konnte es sich nicht vorstellen. Wahrscheinlicher fand sie, dass man Eric erpresste oder manipulierte.

Die Begegnung mit dem goldfarbenen Nebel, der an ihr geklebt hatte wie Pech, verwirrte sie. Solch einer Macht war sie zuvor nicht begegnet, auch wenn sie dadurch einen Vorteil erlangt hatte, den sie durch Zufall entdeckt hatte. Sie hoffte sehr, dass es so blieb.

Ob mein Vater es gewusst hätte? Er war als Alchemist auf der Suche nach unendlichem Leben manchen Formeln und Zaubern nachgejagt.

Das Tablet, das sie auf dem Tisch abgelegt hatte, leuchtete auf. Sie hatte eine Nachricht erhalten.

»Einen Moment.« Sie ließ Wilsons Hand los und beugte sich zur Seite, nahm das Gerät und entsperrte das Display.

 

Bonne nuit, mein kleines rothaariges Langzähnchen!

Das ist für Dich.

Sag Bescheid, wenn Du mich brauchst.

 

Justine, adorable et magnifique comme toujours

Sia musste grinsen. Die Absenderin der eingegangenen Mail war eindeutig.

Ohne lange Erklärung hatte die Französin mit der großen Klappe, die gespickt mit gefährlichen Zähnen sein konnte, sämtliche Informationen angehängt, die Erics gestohlenen Daten aus Russland entstammten. Mit Hilfe von findigen Köpfchen und besonderen Programmen war die Verschlüsselung von libra größtenteils geknackt worden.

Sie scrollte und scrollte und scrollte, überflog und verstand, dass es viel zu studieren geben würde, um Nützliches von Nutzlosem zu trennen. Es gab etliche Verstecke, etliche Widersacher und etliche Orte zu erkunden. Sie fand zudem eine Liste mit Zellenbelegungen, eingeteilt nach Seelen und deren Veränderungen: Wolfsartige, Vampirartige und Bezeichnungen, die ihr fremd waren.

Das genaue Lesen und Studieren wollte sie aber nicht im Krankenhaus beginnen.

Sia schaltete das Tablet aus und nahm ihren langen schwarzen Ledermantel. »Ich muss los, Wilson.«

»Wie Sie sehen, habe ich geduldig auf Sie gewartet«, gab er schwarzhumorig zurück. »Gute Neuigkeiten?«

»In gewisser Weise. Anhaltspunkte, um meine Tochter zurückzuholen. Ich werde ein wenig suchen müssen.« Sie hatte schon lange aufgehört, Elena als Nichte zu betrachten. Sie empfand sie als direkte Nachfahrin.

»Sie hätten dabei wohl keine Verwendung für einen fast Querschnittsgelähmten?«

Sia gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Welche von den hübschen Krankenschwestern soll ich als Wache reinschicken?«

»Wenn Sie einen hässlichen Mann sehen, dann bitte den. Damit mir das Einschlafen leichter fällt«, erwiderte der gebürtige Brite. »Sobald ich einen Rollstuhl fahren kann, komme ich nach.«

Sia öffnete die Tür und winkte ihm zum Abschied. »Wünschen Sie mir Glück.«

»Ich wünsche Ihnen Erfolg«, gab er zurück. »Finden Sie die Kleine wohlbehalten, und reißen Sie jedem, der Sie daran hindern will, den Hals auf.«

»Werde ich.« Die rothaarige Judastochter nickte und zog die Tür zu.

Im Stationszimmer gab es tatsächlich einen hässlichen Pfleger, den sie zu Wilson schickte, dann verließ sie das Krankenhaus und ging im raschen Trab zu ihrer Maschine, die abseits geparkt unter einer Laterne stand.

Es war eine BMW S 1000 RR, in Schwarz und versehen mit drei unscheinbaren weißen Dolchen am Tank. Ihr Zeichen. Das Zeichen der Judaskinder, das sie einst gehasst und nun zu ihrem Siegel gemacht hatte – als Beleg für ihren Triumph über die Spezies.

Einen Helm setzte Sia nicht auf, sie band lediglich die langen roten Haare zu einem Zopf, damit sie beim Fahren nicht ins Blickfeld wehten.

Sie stieg in den Sattel, steckte den Schlüssel ins Schloss und erweckte den Motor mit einem Knopfdruck zum Leben.

Dunkel grollend wie ein Raubtier rumorte die modifizierte S 1000 RR, sie spürte das leichte Vibrieren zwischen ihren Schenkeln. Von 0 auf 320 Stundenkilometer in knappen zehn Sekunden.

Ich werde dich finden, Elena. Sie legte die Hände an den Lenker. Sie würde nicht noch einmal zu spät kommen, wie bei deren Mutter.

Weder würde sie Gnade noch Mitleid erweisen. Auch wenn Eric sich ihr in den Weg stellte, bekäme er ihre Macht zu spüren.

Niemand stiehlt mir das Liebste und überlebt. Sia beschleunigte aus dem Stand und jagte die schwarze Maschine durch die nächtliche Stadt. Die BMW passierte röhrend eine Brücke, die sich über ein kleines Flüsschen spannte, das dahinziehende Wasser glitzerte malerisch im Schein der Gestirne.

Sia hatte keine Augen dafür. Ihr ruhiges, erfolgreiches Leben, an das sie sich gerade gewöhnt hatte, nahm ein ungewolltes, abruptes Ende.

 

* * *

Exkarnation - Krieg der Alten Seelen: Thriller
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