Kapitel IX
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Claire hielt den durchsichtigen Flakon aus Rauchglas in die Höhe, so dass das Sonnenlicht hindurchschien, während Fabian den Wagen zum Restaurant Princeps steuerte, wo sie Dubois vielleicht fanden.
Das Musterstück hatte eine konische Form, lag gut in der Hand und war mit einem umlaufenden abgerundeten Grat versehen, in dem Strasssteine und Silberflitter glitzerten. Es stellte einen ablaufenden Tropfen dar, gab dem Ganzen eine gewisse Dynamik und verhinderte, dass das Fläschchen aus der Hand der Benutzerin rutschte.
»Schlicht, elegant und passt in die Kulturtasche«, hatte sie dem Marketing verkündet und die sonstigen Entwürfe in den abstrusesten Formen zur Seite gewischt.
»Aber der außergewöhnliche Duft soll ein Gesamterlebnis sein, und die Wertigkeit der Herstellung zeigt sich auch im extraordinären Design des Flakons. Elegant, luxuriös und edel«, hatte einer der Herrschaften gejammert. »Unsere Kunden wollen das!«
»Ich denke eher praktisch«, hatte sie erwidert und Ella prusten hören.
Als der Mann erneut aufmuckte, fragte sie zuckersüß: »Kennen Sie einen Rolls-Royce mit Spitzen dran oder in Bananenform oder mit gigantischen Herzchen drauf? Ich nicht. Und dennoch gelten die Wagen als elegant, luxuriös und edel.«
Fabian hatte laut gelacht, Ella gegrinst, doch das Marketing vereiste im Kollektiv. Dennoch wurde ihr Flakon in Auftrag gegeben. Das Machtwort der Chefin.
Claire legte das Fläschchen auf den freien Rückbankplatz neben sich auf einen kleinen Stapel Papiere. Sie hatte es einfach mitgenommen, ohne darüber nachzudenken. »Vor der Namenssuche graust mir schon«, sagte sie.
»Dem Marketing sicherlich auch«, gab Fabian gutgelaunt zurück.
Leipzig zeigte sich wintersonnig, krachkalt und schneeweiß leuchtend, so dass es in den Augen schmerzte.
Claire fand eine Sonnenbrille in der Tasche und setzte sie auf. An den fremden Körper gewöhnte sie sich allmählich, die Schmerzen der Wunden waren nach der letzten Tablette verschwunden und blieben es hoffentlich auch.
Am meisten gefiel ihr, dass sie nicht aus der Puste geriet. Lene von Bechstein hatte viel Sport getrieben, als wollte sie an einem Marathon teilnehmen oder Miss Fitness werden. Zusammen mit den kleinen schönheitsmedizinischen Korrekturen ergab es das rundum ansprechende Bild einer Erfolgsfrau. Anastasia hatte bei der Auswahl ihres neuen Zuhauses Geschmack und Scharfsinn bewiesen.
»Was ist, wenn ich in die anderen Städte reisen muss? Tarnen wir das mit einem Urlaub?«, erkundigte sie sich.
»Würde ich vorschlagen. Niemand wird Ihnen diesen Wunsch abschlagen.«
Außer den Kindern, huschte es durch Claires Kopf.
Es waren nicht ihre, aber sie fühlte die Verantwortung und konnte trotz des Körperwechsels paradoxerweise nicht aus ihrer Haut. Charlene und Pauline hatten ihre Mutter verloren, ohne es zu wissen, und das Nichtwissen sollte aufrechterhalten bleiben, solange es ging.
Zuerst Dubois. Sie zog die Ausdrucke, die ihr Fabian gegeben hatte, unter dem Flakon hervor.
Sie blickte auf das kantige Gesicht eines fünfzigjährigen Mannes mit faszinierenden haselnussbraunen Augen; die Züge und Bartstoppeln passten zu einem verwegenen Helden ebenso wie zu einem smarten Schurken, die dunkelblonden Haare trug er im Nacken ausrasiert und mit sportlichem linken Seitenscheitel.
Auf den anderen Zetteln standen Details zu Anastasia, soweit sie bekannt waren, die sie seit acht Tagen auswendig lernte, um Dubois täuschen zu können, obwohl sie Zweifel daran hegte, dass es ihr gelang.
Langsam senkte sie die Blätter. »Ich habe Angst, Fabian.«
Er sah in den Rückspiegel, ihre Blicke trafen sich. »Alles andere hätte ich Ihnen auch nicht geglaubt«, sagte er mit beruhigender Stimme. »Ich bin in der Nähe, falls es schiefgeht.«
Claire dachte daran, wie sie in der Seitengasse mit ihrer Stimme für Vernichtung gesorgt hatte. Mit einem lauten Schrei. Ob sie damit notfalls einen mächtigen Seelenwanderer in die Knie zwingen könnte?
Der Audi A6 Allroad hielt am Rand der Katharinenstraße an.
Fabian wandte sich auf dem Fahrersitz um und nahm ihre Hand. »Sie schaffen das. Sie sind schlau, Claire.«
Als sie ihren alten Namen aus seinem Mund hörte, kam ihr wieder in den Sinn, dass er dem Triumvirat verschwiegen hatte, wer wirklich in Lene von Bechsteins Körper eingefahren war. Danach muss ich ihn unbedingt noch fragen.
»Wenn Sie das sagen.« Claire drückte seine Finger und genoss die Nähe, die ihr erneut etwas Aufregung nahm. Ihr Herz schlug laut, pochte scheinbar gegen den Brustkorb und versetzte den dünnen Körper in Schwingung. Die Wärme seiner Haut tat ihr gut.
»Achten Sie darauf, dass er Sie nicht ohne Handschuhe berührt.«
»Wie … meinen Sie das?«
»Bei direktem Hautkontakt kann es passieren, dass er in Ihre Gedanken eindringt. Es gibt Seelenwanderer, die eine solche Gabe beherrschen. Bei ihm sind wir nicht sicher.«
Auch das noch. Claire wurde sofort mulmig, ihre Zuversicht sank. Sie war froh, dass sie dank des Winters ihre Handschuhe unverdächtig anbehalten konnte. Sie würde einen Platz im Freien wählen, unter einem der Wärmepilze. Vor ihrem Besuch hatte sie sich über die Bar informiert, auch über den Weg, den sie gehen musste.
Sie seufzte und stieg aus.
Ohne sich umzuwenden, nahm sie eine Abkürzung durch mehrere Gässchen und Höfe, bis sie im Barfußgässchen vor dem Princeps stand.
Zu ihrer Erleichterung hatte der Gastronom die laternenartigen Wärmestrahler aufgebaut, und so wählte sie einen Platz im Freien, aber nahe dem Eingang, um die Gasse, den Platz und den Innenraum mit nur einer leichten Kopfdrehung ohne Schwierigkeiten beobachten zu können.
Sie fühlte sich wie ein Lockvogel, wie ein Wild, das auf eine Lichtung trat, an der ein tödlicher Jäger im Dickicht lauerte. Als die Bedienung auftauchte, bestellte sie einen Kaffee mit Cognac, in der Hoffnung, dass der Alkohol die Aufregung dämpfte.
Unentwegt zog sie die Handschuhe zurecht, die ihren Schutz vor sofortiger Entdeckung bedeuten konnten.
Nach zwei Stunden saß sie immer noch vor dem Princeps, hatte ihren dritten Kaffee getrunken, eine Kleinigkeit gegessen, Zeitung gelesen und mit Ella telefoniert, um weitere Termine für den nächsten Morgen abzusprechen. Das Marketing wollte wegen der PR- Kampagne rasch einen Namen für den Duft finden. Sie erbat sich von der Sekretärin eine Probe des Produkts, das anscheinend bereits fertig gemischt war. Der Parfümeur wies darauf hin, dass eine gewisse Reifezeit abzuwarten sei, doch ihre Neugier verlangte nach einer Impression.
Eine weitere Stunde verbrachte Claire damit, Namensvorschläge zu notieren, die ihr allesamt nicht gefielen. Solange sie nicht wusste, wie das Parfüm roch, konnte sie nur falschliegen, wie bei einem neuen Gericht, das man erst kosten musste, ehe es seine Bezeichnung erhielt.
Sie verschwand auf die Toilette und erschrak beim Händewaschen nicht mehr über das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah. Claire hatte die neue Hülle ebenso wie die Umstände akzeptiert und gleichzeitig die Sorgfaltspflicht übernommen.
Hübsch. Aber zu dünn, dachte sie und zupfte am schwarzen Pullover herum, fuhr sich durch die Mahagonilocken. Ich sollte noch etwas bestellen. Sie grinste. Mit viel Butter.
Auf dem Weg nach draußen streifte sie die Handschuhe über und nahm ein Aftershave wahr, das sie sehr gut kannte.
Finn! Claire blieb stehen, blickte sich um, als könnte ihr ermordeter Mann allen Ernstes im Princeps sitzen, was ihr in der gleichen Sekunde unsinnig erschien. Doch gegen die Gefühle, die sie bei dem vertrauten Duft überfielen, war sie machtlos.
Am Tisch neben der kleinen Schneise in Richtung Ausgang hatte sich ein Mann mit dem Rücken zu ihr niedergelassen, der seine kurzen Haare mit linkem Seitenscheitel und Fassonschnitt trug.
Als Claire ihn anstarrte, senkte er langsam den Tabletcomputer, auf dem er gelesen hatte. Er drehte den Oberkörper leicht, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Sie erkannte die Schlagzeile, die von einem tragischen Unfall in einem kanadischen Wasserpark handelte.
Es war Gregor Dubois, in dessen Blick sich Unglaube und Freude spiegelten. Gewandt erhob er sich, legte das Gerät auf den Tisch und näherte sich ihr.
Die charismatische Wirkung, die er verströmte, brandete gegen sie. Das Aftershave war seines, und es roch kein bisschen nach dem ihres Mannes. Anscheinend hatten sich Erinnerungen von Anastasia in ihrem Unterbewusstsein emporgeschoben.
Dubois trug einen dunkelgrauen Anzug, darunter ein schwarzes Hemd, eine weiße Krawatte sowie eine schwarze Weste. Die Designerbrille verstärkte sein ungewöhnliches Äußeres.
Claire hatte das Gefühl, sämtliche Gäste des gut besuchten Princeps hielten inne und schauten zu ihnen herüber. Es schien leiser zu werden, Gespräche verstummten.
Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass Lene von Bechstein durchaus erkannt werden konnte und ebenfalls attraktiv war. Für Zuschauer musste die Szene filmreif wirken: Held und Heldin trafen aufeinander.
Dubois nahm ihre Hand und deutete einen Kuss darauf an. »Frau von Bechstein, wie schön, Sie hier zu sehen.« Er sah sie glücklich und fragend zugleich an. Er war überzeugt, Anastasia vor sich zu haben, und erwartete ein Signal, dass es sich wahrlich so verhielt.
»Monsieur Dubois«, erwiderte Claire etwas atemlos. »Es ist wundervoll, Sie hier zu treffen. Lassen Sie uns über vergangene Zeiten sprechen, als wären wir alte Seelen.«
Er lächelte und führte sie galant an seinen Tisch.
Flink wie Wiesel eilten die Kellner heran und brachten ein zweites Gedeck, fragten sofort nach Wünschen und stellten ein Glas Champagner vor Claire ab. Ein Dritter brachte die Zeitung herein, die sie draußen an ihrem Platz gelassen hatte, ein Vierter half ihr aus dem Mantel. Die übrigen Besucher blickten neidisch aufgrund der überdurchschnittlichen Aufmerksamkeit, die dem Paar angedieh.
»Was ist geschehen, Anastasia?«, fragte er leise. »Wieso hast du dich nicht wie vereinbart gemeldet?«
Ihr Herz schlug rascher – aber nicht vor Angst, sondern vor: Glück? Claire erinnerte sich genau an die Schmetterlinge, an die herrlichen innerlichen Begleiterscheinungen inniger Zuneigung, sobald Finn in ihrer Nähe gewesen war.
Doch wie konnte das passieren, wenn man einem Fremden gegenübersaß?
Claire kannte nur eine Erklärung: Anastasias Emotionen griffen auf sie über. In ihrem Körper kribbelte es unbändig, Leidenschaft erwachte. Es gab ein sehr, sehr starkes Band zwischen Dubois und ihr.
Oh, Himmel: Sie waren ein Paar! Davor hätte Fabian mich warnen müssen! Das Lächeln entstand von selbst auf ihrem Gesicht.
Da Liebe bekanntlich blind machte, musste sie den Umstand bei Dubois für sich ausnutzen, solange ihr die Anastasia-Gefühle nicht in die Quere kamen.
»Du hast mitbekommen, was alles schieflief«, erwiderte sie und legte eine Hand auf seine, verließ sich voll und ganz auf die dünne Lederschicht um ihre Finger, die sie vor Entdeckung bewahrte.
Und doch freute sie sich, ihn zu berühren. Es half nichts, sich zu sagen, dass es fremde Gefühle waren, denen sie aufsaß. Ihr Körper reagierte dennoch. Deutlich.
»Das Triumvirat hat ein Abfangkommando geschickt und meine Leute ausgeschaltet, bevor ich richtige medizinische Versorgung bekam. Nach der Schießerei wurde ich in ein Krankenhaus eingeliefert, und mein Mann« – Claire betonte es absichtlich verächtlich – »ließ mich vom Hausarzt mit Beruhigungsspritzen vollpumpen.«
Er hörte sehr achtsam zu. »Das Triumvirat? Du meinst Taronow und die beiden anderen?«
»Ja. Ich finde die Bezeichnung passend.«
»Zu edel für sie. Ich hatte dir eine Mail mit einem Link geschickt«, sprach er betont. »Wieso hast du dich nicht über diesen Zugang gemeldet?«
»Ich habe das Passwort vergessen«, gab sie zu.
Dubois lehnte sich nach hinten. »Vergessen?«, erwiderte er eisig. Die haselnussbraunen Augen verloren die Freude, Misstrauen hielt deutlich Einzug. Langsam zog er seine Hand unter ihrer hervor.
»Ich habe nicht nur das vergessen. Beim Überfall wurde der Rettungswagen umgeworfen, ich knallte mit dem Schädel gegen die Wand. Die Ärzte sprachen von einer Teilamnesie, wie sie bei harten Schlägen auf den Kopf gelegentlich vorkommt. Es wird wieder weggehen.« Claire lächelte und ergriff seine Finger wieder. Sie wollte nicht, dass er sich ihr entzog. Es fühlte sich gut an, ihn zu spüren.
Fremde und zugleich vertraute Bilder flackerten in ihren Gedanken auf.
Sie sah Dubois beim Sex mit ihr, in einem opulent eingerichteten Schlafzimmer, wie es sie nur in Schlössern gab; dann saßen sie gemeinsam in einer Mischung aus Labor und Bibliothek mit uralten Büchern und modernsten Gerätschaften; sie sah sich gleich darauf auf der Lederbank eines Jets und wieder beim Sex mit Dubois …
Claire tauchte aus den Erinnerungen auf, die sich echt anfühlten. So echt, dass es in ihrem Unterleib verlangend zog und klopfte.
»Woran dachtest du gerade?«
Sie lächelte. Warum nicht aussprechen? »Wie wir es im Jet getrieben haben. Und in diesem herrlichen riesigen Bett mit dem k.-u.-k.-Monogramm darüber.«
Dubois lachte auf. »Für einen Moment hatte ich Zweifel, wen ich vor mir sitzen habe, doch ich spüre deine Gegenwart ganz deutlich, Anastasia.« Er umfasste ihre Hand mit seinen beiden. Die Kuppe des Mittelfingers kam der ungeschützten Haut am Handschuhrand gefährlich nahe. »Weißt du noch, wie das Hotel hieß?«
»Welches Hotel?«
»Mit dem riesigen Bett.«
Claire entsann sich der Aufschrift am Kopfende. »Schloss Bensberg.« Es entspannen sich weitere Erinnerungen. »Und bevor du fragst, wir flogen danach von Köln mit dem Jet nach Marrakesch, und dort kaufte ich mir eine Kette aus Weißgold. Du sagtest, dass sie mir gut stünde, weil die …«
Er hob lachend eine Hand. »Genug, genug. Ich glaube dir.« Dubois legte die Finger auf ihren Unterarm, ein auffälliger Ring blitzte dabei auf. »Sie steht dir noch immer gut.« Er beugte sich vor.
Claire wusste nicht, was sie tun sollte. Zuckte sie zurück, um dem Kuss auszuweichen, könnte er Verdacht schöpfen, den sie gerade ausgeräumt hatte; gleichzeitig wollte sie seine Lippen spüren und ihn kosten.
Aber sein Mund strich knapp an ihr vorbei und näherte sich ihrem Ohr. »Vor allem, wenn du nackt bist. Du hast dir wieder einen phantastischen Körper ausgesucht. Wie schade, dass jedermann Lene von Bechstein kennt, sonst würde ich dich küssen.«
Sie schauderte, als sein Atem und sein Duft sie umspielten. Erneut entstanden Bilder in ihrer Vorstellungskraft, ausgelöst durch den Wunsch, sich mit ihm zu vereinigen. »Nichts hätte ich lieber«, erwiderte sie. Fast wäre es ihr egal, ob beim Sex alle Geheimnisse aufgedeckt würden.
»Bald.« Er setzte sich wieder aufrecht. »Du solltest unbedingt die Jakobsmuscheln bestellen. Die schmecken köstlich.« Dubois hob ansatzweise den Arm, und schon stand der Kellner an ihrem Tisch. »Zieh doch die Handschuhe aus.«
Claire gab mit leichtem Zögern das schützende Leder um ihre Finger auf, bestellte und nahm noch einen Kaffee. Die emotionale Verwirrung machte ihr zu schaffen, und Leidenschaft in diesem Ausmaß verstärkte das innere Durcheinander.
Das Essen wurde rasch gebracht, verbunden mit dem warnenden Hinweis, dass sich zwei Fotografen vor dem Eingang eingefunden hatten, die darauf warteten, dass Frau von Bechstein sich zeigte.
»Vielen Dank.« Dubois gab dem Kellner einen Zwanziger. »Wir nehmen dann den Hinterausgang.«
»Sicherlich.« Der Mann verschwand.
Er sah Claire nach zwei Bissen an. »Wie weit bist du mit der Formel?«, erkundigte er sich.
»Es gibt noch einige Unsicherheitsfaktoren«, wich sie ins Unbestimmte aus. »Aber es sieht gut aus. Mit Hilfe des Bechstein-Labors habe ich das rasch bereinigt.«
Er wirkte verwundert. »Wie sollen dir die Salbenrührer dabei nützen?« Er schnitt sich ein Stückchen von dem weißen Fleisch ab und bewunderte die perfekte Konsistenz. »Sie sind unwissend, Anastasia.«
»Natürlich«, gab sie rasch zurück und tat, als habe sie etwas anderes gemeint. »Es geht um das Binden der Substanzen, weniger um die Gewichtung der Zusammensetzung.«
»Die Bindung?« Er senkte das Besteck. »Was redest du da?«
Sie sah ihn vorwurfsvoll an, um ihm die Schuld zurückzugeben. Innerlich geriet sie in Panik. Eben noch hatte ein Rädchen ins andere gegriffen, jetzt hakte es gewaltig.
»Damit es stabiler wird«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Was nutzt uns das Serum, wenn es nicht hält?« Ich hoffe, ich plappere nicht zu viel Unsinn.
Dubois schwieg und kaute, schnitt, schob sich den nächsten Bissen in den Mund, kaute. »Wenn ich es nicht besser wüsste und dich fühlte«, sagte er nach dem Schlucken und blickte auf ihre Hände, »wäre ich sehr unsicher, ob ich die wahre Anastasia vor mir habe.«
Ich muss ihn beschwichtigen. »Das findest du ganz sicher noch heraus«, erwiderte Claire mit einem verführerischen Augenaufschlag.
Dubois lächelte überlegen. »Lass uns ins Labor fahren. Ich habe meinen Teil fertig.«
»Oh«, entfuhr es ihr. »Das ist … wundervoll.«
»Ich helfe dir, die Stabilität in den Griff zu bekommen, wie du sagtest. Keinesfalls sollen die Pillendreher die Formel zu Gesicht bekommen. Sie wüssten ohnehin nichts damit anzufangen.«
Siedend heiß fiel Claire der Umschlag ein, auf der Ablage, mit Anweisungen für Ella. Die Sekretärin würde den Auftrag nicht übersehen. Unauffällig sah sie auf die Uhr. Ich könnte rasch auf die Toilette und …
Dubois hatte ihren Blick bemerkt. »Noch weitere Termine, Frau von Bechstein?«
»Ich habe den Kindern versprochen, ihnen heute Abend etwas vorzusingen«, log sie.
»Mon dieu!« Dubois lachte schallend. »Du hast deine Kinderliebe entdeckt? Was hat dir der Arzt noch alles gegeben?«
Claire lachte mit. »Ich muss meine Rolle spielen. Sonst gerät der Plan ins Wanken. Morgen früh ist ein wichtiges Meeting.«
»Das stimmt wohl.« Er zwinkerte und legte das Besteck auf den inzwischen leeren Teller. »Wenn der Wind gut steht, schaffen wir es sogar bis dahin. Notfalls machst du die Gören heute Nacht wach, um sie wieder in den Schlaf zu singen.«
Der Wind? Claire nickte einfach. Sie wandelte auf einem sehr schmalen Grat und wollte durch neuerliche Fragen keine Unstimmigkeiten generieren. Er will mit mir irgendwohin fliegen.
»Wo ist dein Ring?«
Sie zeigte auf ihren Ehering.
»Nein, nicht der. Den ich dir habe machen lassen. Als Pendant.« Er tippte auf seinen, der sich bei näherem Betrachten als Skelettschädel mit eingefasstem Stein erwies.
»Oh, der liegt in der Villa«, antwortete sie geistesgegenwärtig, als wüsste sie, was er meinte. »Marlene von Bechstein würde ihn nicht tragen.«
Dubois lächelte. »Der Totenkopf würde merkwürdig an ihr aussehen, das stimmt. Aber ich mag das Symbolische. Wir sind eben unsterblich. Trage deinen Schnitterring das nächste Mal, bitte. Mach mir die Freude. Der alten Zeiten wegen.« Er erhob sich und zog ein Bündel Fünfhunderter aus der Tasche, als wäre es Monopoly-Geld, und drückte einen Schein in die Hand des ungläubigen Kellners. »Hier, stimmt so. Behalten Sie den Rest. Und teilen Sie bloß nicht mit Ihren Kollegen.« Er half Claire in den Mantel, sie streifte sich die Handschuhe über und vermied jeglichen Hautkontakt.
Gemeinsam verließen sie das Lokal durch den Hinterausgang.
»Hast du seinen Blick gesehen?« Dubois lachte fies. »Er wird die knapp 380 nicht teilen. Und dann kommt raus, wie viel Trinkgeld er gemacht hat, und die anderen werden ihn hassen.« Er bot ihr den Arm an. »So gefällt uns das, nicht wahr? Kleine Bosheiten erhalten die Feindschaft unter den Menschen.«
»So gefällt uns das.« Claire spürte die pure Gemeinheit des Mannes, die in starkem Widerspruch zu Anastasias Zuneigung zu ihm stand.
Er führte sie in eine Seitenstraße zu einem silbergrauen Maserati, wie der Dreizack auf dem Kühlergrill verriet, öffnete ihr galant die Tür und schloss sie wieder hinter ihr. Sie hatte die Übersicht verloren, wo sie sich befand, und wollte das Smartphone für eine Ortsbestimmung nicht herausholen.
Gleich darauf stieg er ein, sie fuhren los.
Mit einer selbstverständlichen Bewegung legte er die Hand auf ihr Knie und streichelte es behutsam.
Claire fühlte sich angezogen und abgestoßen. Sie genoss seine Berührung, wünschte sich die Finger an anderen Stellen ihres Körpers, in dem ein Echo von früherem Sex nachhallte, der exorbitant gut gewesen sein musste.
Sie schämte sich sogleich für ihre lüsternen Gedanken: Es war Verrat an Finn. Ein Verrat, den sie nicht wollte und den sie nicht kontrollierte.
»Was zum …?« Dubois stieg auf die Bremse und stellte den Sportwagen mitten auf der kleinen Gasse quer, blockierte sie. Sämtliche Warnlichter leuchteten auf dem Armaturenbrett auf.
Hinter ihnen erklang das Quietschen von Rädern.
Claire hatte vom Beifahrersitz aus gute Sicht auf die Fahrbahn und sah Fabians dunkelgrünen A6 Allroad, der ruckartig und mit Vollgas zurücksetzte, um zu entkommen. Der verbrennende Reifengummi zog wie Nebel über die Straße.
Dubois stieg aus und vollführte eine ausholende Bewegung mit der rechten Hand.
Eine helle Explosion erfolgte unter dem Wagen ihres Verfolgers, und das Auto wurde gut fünf Meter nach oben katapultiert. Im Aufsteigen fing es Feuer, Flammen schlugen aus den berstenden Fensterscheiben. Die zerstörerischen Kräfte leisteten ganze Arbeit.
»Nein«, stöhnte Claire entsetzt.
Krachend schlug der A6 in der Gasse auf, eine neuerliche Detonation zerriss den Innenraum und ließ Metall- sowie Plastikteile durch die Gegend fliegen. Grüne Stichflammen züngelten aus Motorraum und Heck. Die Glasfronten eines Cafés gingen durch die Druckwelle zu Bruch.
Dubois kehrte auf den Fahrersitz zurück. »Diese modernen Autos«, kommentierte er spöttisch. »Ständig geht die Elektronik hoch und reißt alles mit ins Verderben.«
Fabian. »Wer war das?«, zwang sie sich zu fragen, ohne dass ihre Stimme dabei verräterisch brach oder kippte.
»Keine Ahnung. Vermutlich ein Reporter. Oder ein Spitzel der Gegenseite. Ich dachte mir, dass sie dich beschatten lassen. Und nach meinem kleinen Streich, den ich mir mit Taronow leistete, sind sie bestimmt sauer.« Er startete den Maserati und fuhr sportlich weiter, der Motor brüllte auf. »Ist egal. Das ist nicht mehr unser Problem.«
Dubois blieb seelenruhig, als habe er nur kurz angehalten, um an den Straßenrand zu pinkeln. Er bog an einer Ampel nach rechts ab und landete auf einer breiten Straße, die zum Bahnhof führte. Dann aktivierte er das eingebaute Telefon.
»Ja, Herr Dubois?«, kam es aus der Freisprechanlage.
»Kevin, ist der Jet startklar?«
»Jederzeit, Herr Dubois.«
»Wie schnell sind wir in Wien?«
»Einen Augenblick, ich checke das Wetter.« Kevin schwieg, im Hintergrund klapperte es. »Die reine Flugzeit beträgt dank Rückenwind etwa fünfundvierzig Minuten.«
Eine Katze erschien am Fahrbahnrand, tigerte geschmeidig auf die Straße und bemerkte den nahenden Wagen. Schnell rannte sie zurück.
Claire atmete auf.
»Gut. Wir sind gleich bei Ihnen. Und sorgen Sie dafür, dass wir gegen einundzwanzig Uhr wieder in Leipzig-Halle landen können.« Er zog den Lenker abrupt nach rechts.
Der flache Maserati sprang raubtiergleich den Bordstein hinauf und überrollte, spürbar für Claire, etwas Weicheres. Knackend platzte etwas unter dem Reifen, bevor der Mann das Auto auf die Straße zurückzwang.
»Wird gemacht, Herr Dubois.«
Er legte auf und sah in den Rückspiegel. »Wer sagt es denn? Sieben Leben auf einen Streich.« Dann grinste er.
Claire krallte sich angewidert in den Sitz. Ihr lagen hunderttausend Schimpfworte auf den Lippen, doch sie hielt sie zurück. Anastasia würde so nicht reagieren.
Sie betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.
Wesen wie Dubois bereiteten Qualen aus reiner Freude. Er schubste Verzweifelte von der Kante, anstatt sie zu retten, oder richtete Ölkatastrophen an oder warf in einen Raum voller Hungernder eine Scheibe Brot und fünfzig Gewehre samt Munition hinterher. Weil Wesen wie er sich am Elend weideten und nährten.
Diese alte Seele war durch und durch pechschwarz, verrottet und teuflisch.
Claire verstand, warum das Triumvirat befürchtete, dass er und Anastasia Schlimmstes im Schilde führten: weil sie es vermochten und durchzogen. Weil es ihnen Vergnügen bereitet.
Feuerwehr und Polizei rasten an ihnen vorbei, vermutlich zum Unglücksort, an dem der Audi explodiert war.
Da wurde Claire bewusst, dass sie ihren Schutzengel verloren hatte.
* * *
Deutschland, Sachsen, Leipzig
»Jaja, ich weiß: Professor Ingerling ist nicht zu sprechen!« Eugen von Bechstein hörte die Ausrede zum elften Mal innerhalb weniger Tage. »Richten Sie dem Feigling aus, dass ich den ärztlichen Leiter des Universitätsklinikums sowie das Direktorium von seinem unglaublichen Pfusch in Kenntnis setzen werde.« Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel.
Frederik kam mit frischem Kaffee ins Heimbüro der Villa. »Das Gute an deiner Schreierei ist: Ich muss nicht fragen, was der Arzt gesagt hat.«
Eugen sah auf den neusten Befund der Blutwerte seiner Gattin, die sie aus dem Büro gefaxt hatte. Sie war an diesem Morgen seiner Bitte nachgekommen und hatte sich im Eiltempo prüfen lassen, was ihn sehr freute und von einer Sorge befreite. Alle entscheidenden Werte lagen im grünen Bereich. Das bedeutete, dass Ingerling einen fatalen Fehler begangen hatte.
»Dieses unverantwortliche Arschloch weiß genau, dass seine Diagnose falsch war.« Er schlug mit der flachen Hand gegen den Ausdruck, es klatschte lauter als gewollt. »Nicht der Hauch von Anzeichen auf Leukämie oder irgendeine entzündliche Krankheit. Sie ist kerngesund.« Kopfschüttelnd legte er das Papier auf den Schreibtisch. »Das hat ein Nachspiel.«
Der Gedanke der Rache beschäftigte ihn seit einigen Tagen. Nicht nur wegen des Arztes.
Sein Hass auf die Entführer gebar einen Entschluss: Er würde ein Kopfgeld aussetzen, auf jeden Einzelnen von ihnen, und es spielte keine Rolle, dass sein Vorgehen illegal war. Sie werden leiden. Er musste nur noch eine Möglichkeit finden, sein Vorhaben ohne Spuren, die zu ihm führten, auf den Weg zu bringen.
Von draußen erklang fröhliches Kinderrufen, Charlene und Pauline rannten auf der Galerie auf und ab.
Eugen lächelte bei den ausgelassenen Klängen.
Das eisige Wetter sorgte dafür, dass sich seine Sprösslinge gerade im Innern des Anwesens austobten, und dem hohen Quieken nach hatten sie einen unglaublichen Spaß dabei. Sie rannten umher, und gelegentlich versuchte die Nanny, sie ein wenig zur Ordnung zu rufen.
»Das Labor könnte schuld sein, nicht unbedingt Ingerling. Es muss zu einer Verwechslung gekommen sein.« Frederik stellte die Tassen ab. Er trug wie Eugen bequeme Casual-Kleidung im englischen Country- Look. Außerhalb der Firma verzichteten beide auf Anzüge, wenn es irgendwie ging. »Wieso hat sie der Hausarzt an Ingerling überwiesen?«
»Hat er nicht. Sie ging von sich aus zu ihm, wegen der schlechten Eisenwerte. Sie war früher schon mal bei ihm.« Eugen stieß die Luft aus. »Soweit ich weiß, wird das Blut bei Leukämie mehr als einmal untersucht.«
»Dann«, merkte sein Freund an, »wäre es Vorsatz.«
Eugen nahm den Kaffee und roch daran. »Wieso sollte der Leiter der Hämatologie meine Frau auf Leukämie behandeln, obwohl er wusste, dass sie gesund ist?«
»Nicht ganz legale medizinische Studie?«
Eugen glaubte es nicht recht. Der Name Bechstein war zu prominent, um seine Frau in illegale Testreihen hineinzuziehen. Der Skandal, der sich gerade anbahnte, würde die Universität ihre Reputation und bei einem Prozess einen Haufen Geld kosten.
Frederik überlegte. »Mir fiele sonst nichts ein, warum ich jemanden derart leiden lasse. Außer Rache.«
Eugen schwieg, dachte nach. »Nein, da gibt es keine offenen Rechnungen. Außerdem habe ich nichts getan, was so etwas rechtfertigte.«
»Nein, das gehört mir!«, krakeelte Charlene auf dem Flur.
»Ich habe es aber zuerst gehabt«, schrie Pauline erbost zurück und rannte an der offenen Tür vorbei. Sie trug die viel zu lange Kleidung eines Erwachsenen. Anscheinend hatten sie den elterlichen Kleiderschrank geplündert.
»Hey, ihr Frolleins! Finger weg von den teuren Anzügen!«, rief Eugen hinaus und wollte sich erheben. Die Nanny sollte nun doch eingreifen, bei allen Freiheiten, welche die Kinder normalerweise genossen.
Frederik gab das Grübeln nicht auf. »Es kann vielleicht sein, dass Von Bechstein Laboratories etwas tat.«
Eugen setzte sich wieder. Es war wichtig, mit den Gedanken bei der rätselhaften Thematik zu bleiben. »Du weißt, Herr PR-Manager, wir machen nicht mal Tierversuche.«
»Wie sieht es mit Dritten aus? Könnte doch sein, dass der Arzt Geld kassierte, um Lene das anzutun. Oder erpresst wurde.« Frederik lenkte die Überlegungen in andere Bahnen. »Einer unserer Gegenspieler auf dem Markt womöglich? Beim Deal mit Asian Cosmetiques haben wir einige unsaubere Konkurrenten ausgestochen.«
Eugen nippte am Kaffee.
Ihm war bewusst, dass das globale Geschäft rund um Salben, Pflegeprodukte und Parfüm mit harten Bandagen geführt wurde. Auch er konnte die Samthandschuhe ablegen, wenn man ihn dazu zwang. Wollte jemand seine Frau in ein Wrack verwandeln, damit sie sich umbrachte und er sich nach ihrem Tod aus dem Geschäft zurückzog? Das klingt an verflucht langen Haaren herbeigezogen.
»Gehen wir es rational an.« Eugen sprach seine Gedankengänge laut aus, um die Meinung seines Freundes zu erfahren. »Es braucht sehr viel Geld oder ein gutes Erpressungsmittel, um einen Professor gefügig zu machen. Solche Ressourcen besitzen Millionäre und Konzerne.«
»Korrekt.« Frederik setzte sich auf den Stuhlsessel ihm gegenüber. »Ach ja. Was wir nicht in Erwägung gezogen haben, ist, dass Ingerling schlicht wahnsinnig ist und auf die kranke Scheiße steht.«
»Stimmt.« Eugen kam zu der Erkenntnis, dass er das Klinikum in Kenntnis setzen musste. So oder so durfte der Arzt nicht mehr auf die Menschheit losgelassen werden. »Wir sagen den Gremien Bescheid und drohen mit der Presse.«
»Am besten sofort.« Frederik machte eine auffordernde Handbewegung. »Ich höre mich derweil bei unseren freundlich gesinnten Geschäftspartnern um, ob eine dritte Partei uns bekennend hasst. Ich hätte da einen Verdacht.«
»Die Patentangelegenheit?« Eugen öffnete den Laptop und schrieb eine Sammelmail an die Mitglieder des Klinikdirektoriums, von denen manche ihre Adressen auf der Website veröffentlicht hatten, und bat um einen Gesprächstermin.
»Warum nicht? Die kämpfen mit allen Mitteln, wenn es plötzlich schlecht für sie steht. Es kämen Millionenforderungen auf sie zu.« Frederik beschäftigte sich sogleich mit seinem Smartphone.
Eugen widmete sich indes weiter seiner Infomail, in den Anhang lud er die sich widersprechenden Befunde und Laborwerte; anschließend druckte er den gleichen Wortlaut aus, um ihn postalisch an die Mitglieder von Direktorium und Verwaltungsrat zu senden, damit sich niemand herausreden konnte.
Einen Brief gedachte er, an Ingerling persönlich zu schicken, damit dieser wusste, welcher Blitz ihn traf, und er sich dem Sturm besser gleich stellte. Er hatte sich ein Bild von dem Arzt auf der Website des Klinikums angeschaut und fand ihn alles andere als sympathisch, was es ihm noch leichter machte, wütend auf ihn zu sein.
Eugen las seine Mail laut vor, um Frederiks Meinung einzufordern. »Hinweisen möchte ich darauf, dass ich der Presse, regional und überregional, Informationen zu dem unglaublichen Vorfall zukommen lasse, sollte ich feststellen, dass meine Nachrichten an Sie keine Konsequenzen nach sich ziehen.«
Sein Freund nickte. »Bestens.«
Wieder rannte eines seiner Kinder an der offenen Tür vorbei.
Eugen erkannte, was seine jüngere Tochter auf dem braunen Schopf trug: Es war ein Spitzenhäubchen – und die gab es nur an einem Ort in diesem Haus, wo den Kindern das Herumwühlen verboten war.
Er stand auf und eilte auf die Galerie. »Pauline! Wie kommst du dazu, die alten Sachen anzuziehen?«
Die väterliche Stimme, die durch die Halle schwebte, ließ die Kinder an der Stelle verharren, wo sie sich gerade befanden. Die Nanny knöpfte Charlene gerade die Weste zu, die Eugens Großvater getragen hatte, und auf ihren schwarzen Haaren saß die abgetragene Mütze aus dem Ersten Weltkrieg. Auch das war eigentlich untersagt.
»Habt ihr meine Anweisungen vergessen?« Eugen näherte sich der Spielgemeinschaft, deren Ausgelassenheit zwar verging, die jedoch nicht von schlechtem Gewissen erfasst wurde. »Das sind Erinnerungsstücke, keine Spielklamotten.« Auch der weiße Kragen aus dem achtzehnten Jahrhundert war zum Einsatz gekommen. »Ausziehen und wegräumen.«
»Aber Mama hat es erlaubt«, widersprach Pauline trotzig.
»Sie hat gesagt, dass man mit den alten Sachen eh nichts mehr machen könnte«, fügte Charlene hinzu.
»Und es steht mir toll!«, krähte Pauline und schob sich das Häubchen in die Stirn.
Eugen öffnete den Mund, als die Nanny verteidigend einsprang. »Es stimmt, Herr von Bechstein. Ihre Gemahlin erlaubte es.«
Nun war er überzeugt, aber verwundert. Er lehnte sich über das Geländer und sah zur Garderobe, um herauszufinden, was Lene angezogen hatte – und sah die Schminkutensilien auf dem kleinen Tischchen herumstehen. Ungewöhnlich. Normalerweise wurden sie kurz vor dem Verlassen des Hauses benutzt und dann eingepackt.
»Wissen Sie, ob meine Frau ungeschminkt aus dem Haus ging?«, fragte er die Nanny.
»Ich weiß es nicht. Es war noch sehr früh, als sie das Anwesen verließ. Herbert hat gesagt, dass der neue Sicherheitsmann sie abholte.«
Eugen kratzte sich am Kopf. »Gut, dann … Im Grunde hat Mama recht. Wenn es euch Spaß macht, dann spielt damit. Aber nicht gleich kaputt …«
Die Kinder schrien vor Freude und nahmen das Rennen wieder auf; die Nanny lächelte dankbar.
Bevor Eugen ins Büro zurückkehrte, roch er den Duft von frischen Waffeln. Melanie betätigte sich in der Küche. Das Gebäck passte gut zu einem neuen Kaffee, den er sich holen wollte.
Er rief Frederik zu sich, gemeinsam folgten sie dem leckeren Geruch.
In der Küche stand die Haushälterin, die gerade die Waffeln von einem Teller nahm, der ohne Frage aus der Mikrowelle stammte.
»Oh, Waffeln zum Aufwärmen?« Eugen wunderte sich. »Dabei können Sie doch …«
»Die sind nicht aus der Packung. Die hat Ihre Frau gemacht.« Melanie klang so erstaunt, wie er dreinblickte.
»Lene hat gebacken?« Frederik lachte laut. »Das glaube ich jetzt nicht.«
»Ich wette, es schmeckt grauenhaft.« Eugen riss sich ein Stück vom angebotenen Fladen ab, kostete und traute seinen Geschmackspapillen kaum. »Das ist grandios!« Etwas knirschte leise zwischen den Zähnen, süßlich saurer Saft wurde freigesetzt. »Apfelstücke?«
Frederik nahm sich ebenfalls davon. »Eindeutig. Ist sie nicht allergisch dagegen?«
»Muss sie wohl vergessen haben.« Eugen ließ sich frischen Kaffee vom Vollautomaten brühen und ging mit seinem Freund in die Eingangshalle, um ungestört zu reden. »Wer auch immer da neben mir schläft, es ist nicht mehr meine Frau«, sagte er leise. »Das Trauma hat sie verändert. Wer weiß, was sie noch alles anstellt.« Jetzt, nachdem der Leukämieverdacht ausgeräumt war, blieb noch eine Tonne sonstiger Sorgen, die er sich machte. Er sah auf die Uhr. »Außerdem: Sie müsste schon lange zu Hause sein.«
»Viel los im Büro. Kennst du doch. Heute war die Flakonpräsentation.«
»Ella sagte, sie habe nach der Präsentation Feierabend gemacht.« Eugen dachte nach. »Wo kann sie ihn verbringen?«
Frederik kreuzte die Arme unter der Brust. »Jetzt brauchte man einen Tracker.«
Eugen steckte eine Hand in die Hosentasche. »Den haben wir«, erklärte er drucksend. Es kam ihm ungebührlich vor, die Sache anzusprechen, weil der Peilsender für den Notfall und nicht für die Bespitzelung seiner Gemahlin gedacht gewesen war.
Frederiks Lider verengten sich.
»Schau nicht so. Ich habe Wanzen in ihre Sachen einnähen lassen, damit sie im Falle einer neuerlichen Entführung gefunden wird und ich nicht zum Warten verdammt werde.« Eugen nahm das Smartphone heraus und wählte ihre Nummer. Nachdem sie nicht abhob, versuchte er die ihres Leibwächters.
Zweimal nichts.
»Kann ein Funkloch sein, wie in einer Tiefgarage.« Frederik nahm einen langen Schluck.
Eugen wollte Sicherheit. Zudem bekam er eben eine ausgezeichnete Möglichkeit, den Sender zu testen. »Ich hole mein Tablet.«
Er lief die Treppen zum Büro hinauf und nahm das Gerät, auf dem eine Ortungs-App gespeichert war. Der Hersteller versprach zusammen mit den Sendern eine Genauigkeit von plus/minus einem halben Meter in einem Radius von zwanzig Kilometern.
Frederik hatte bereits seine Jacke angezogen und stand abmarschbereit in der Halle. »Ich denke nicht, dass etwas geschehen ist«, betonte er nochmals.
»Das finden wir heraus.« Eugen wählte eine unauffällige Daunenjacke in Grau, setzte seine schwarze Schlägermütze auf und nahm den Schlüssel des Range Rover vom Haken. »Melanie, wir sind bald wieder da«, rief er und öffnete die Tür – und sah Ingerling die Auffahrt hinaufhasten.
Der Professor schien vollkommen durch den Wind zu sein. Graue Bartstoppeln ließen sein Gesicht älter wirken als auf dem Foto, Falten zogen sich tief über seine Züge. Der Anzug zeigte Knitterspuren, als habe er darin geschlafen.
»Herr von Bechstein!«, rief er flehentlich; in der Rechten hielt er eine abgegriffene Ledertasche, die nicht richtig verschlossen war.
Eugen hatte keine Klingel vernommen, folglich war der Mann über den Zaun geklettert. Am Tor sah er Herbert, der die Schneeschaufel zur Seite warf und sich anschickte, dem unangemeldeten Besucher zu folgen. Eugen signalisierte ihm, die Verfolgung abzubrechen.
»Sie müssen mir helfen!«, heulte Ingerling schnaufend und sah sich um.
Frederik begab sich an Eugens Seite. »Der hat tierisch Angst.« Sie gingen ihm gemächlich entgegen. »Sieh ihn dir an. Der war seit ein paar Tagen nicht unter der Dusche.«
»Seit meinem Anruf, würde ich sagen.« Eugen steckte die Hände in die Taschen und verbat sich Mitleid. Der Professor brauchte eine sehr gute Erklärung.
Ingerling war auf wenige Schritte herangekommen. Er griff bereits in die offene Ledertasche und nahm einen Tabletcomputer heraus. »Ich werde Ihnen sagen, was geschehen ist«, sagte er bittend. »Ich weiß, dass ich einen Fehler begangen habe. Aber Sie müssen mich beschützen!«
»Jetzt wird es spannend.« Frederik sah zu Eugen. »Dann steckte wirklich ein Konkurrent dahinter?«
Plötzlich spurtete Pauline an ihnen vorbei. Sie nahm sich im Rennen juchzend eine Handvoll Schnee, blieb stehen und warf die rasch gepresste Kugel zum Villaeingang, von wo helles Mädchengekreisch erklang.
Die Nanny rief die Jüngste von der Tür aus sofort zur Ordnung.
»Ah, junge Dame, hiergeblieben!« Frederik schnappte sich das übermütige Mädchen, das ohne Mantel und passendes Schuhwerk zur Flucht tiefer in den Garten ansetzen wollte. »Abmarsch ins Warme.«
Eugen wollte eben seine Tochter ermahnen, da erweckte die Ankunft des Paketwagens seine Aufmerksamkeit.
Jenseits des Zaunes und vor dem Gittertor hielt der gelb-rote DHL-Transporter mit viel Verve und rutschte über den Schneematsch; dabei schwang das Heck herum in Richtung des Anwesens, die hintere Tür sprang parallel zum stuntreifen Manöver auf.
Die haben es heute aber eilig mit dem Ausliefern. Eugen sah in das dunkle Innere, wo sich kein Postler zeigte.
»Wratsch, komm her«, erklang der laute Befehl einer Frau aus der Schwärze. Ein langer, dicker Gewehrlauf schob sich ins Helle.
Ingerling erstarrte und holte zum Wurf mit dem Tablet aus, um ihn Eugen zu überlassen.
Das Geräusch des schallgedämpften Schusses war kaum zu hören, die Wirkung hingegen unübersehbar: Die Brust des Arztes wölbte sich und platzte wie ein praller Mitesser, roter Nebel sprühte vor ihm in die Luft und sprenkelte den Schnee; gleichzeitig schrie Frederik auf und kippte nach vorne, fiel gegen Pauline und riss das Mädchen um. Das Tablet fiel auf den Boden.
Eugen duckte sich instinktiv. »Ins Haus«, schrie er der Nanny zu und hörte hinter sich den Einschlag der Kugel in der Sandsteinfassade; sie hatte ihren Flug fortgesetzt.
Ein neuerliches Projektil wurde gegen den taumelnden Hämatologen gespien, und Ingerlings Gesicht zerbarst. Abgerissene Kopfhaut klatschte nieder, die verstümmelte Leiche kippte auf den Kiesweg und ergoss Blut sowie Hirnwasser auf die Steinchen. Die Tasche landete daneben.
Eugen ließ sich flach auf die verschneite Erde fallen und sah nach Frederik, um den sich eine Blutlache bildete. Pauline unter ihm schrie wie am Spieß, doch sie war am Leben. Dann schaute er nach dem DHL-Wagen.
Der Lauf verschwand, stattdessen erschien eine Vermummte, die regungslos am hinteren Wageneingang stand und zu ihnen starrte.
Was tut sie? »Melanie, rufen Sie die Polizei«, schrie er zum Haus. »Die sollen ein MEK schicken!« Normale Beamte würden gegen einen Scharfschützen nicht bestehen.
Ruckartig bewegte sich die Leiche des Professors. Mit hoher Geschwindigkeit glitt sie durch den Kies, dann durch das Weiß, als würde sie von einer unsichtbaren Schnur angezogen, Schneefontänen stoben in die Höhe; dann folgten dem Toten die Aktentasche und das Tablet.
Auf welche Weise auch immer die Unbekannte das anstellte, sie riss gerade die Beweise dafür an sich, dass Ingerling strafbare Dinge angerichtet hatte. Eugen schaute dem Tablet fassungslos und bedauernd hinterher.
Seine Verwunderung verdoppelte sich, als sich jeder noch so kleine verlorene Haut- und Kleidungsfetzen, jeder noch so winzige vergossene Blutstropfen, der zum Arzt gehörte, ebenfalls erhob und auf den DHL- Wagen zuschoss. Leise sirrend jagte sogar die Kugel über Eugen hinweg, die in die Villafassade eingeschlagen war.
Derweil zog es den Toten mit brachialer Macht durch die Gitterstäbe. Weil der Abstand zwischen den Eisenstangen nicht ausreichte, brachen die Knochen im Leib mehrfach, und der Professor wurde regelrecht gefaltet und gestaucht; es krachte und knisterte. Knochenstücke stachen durch die Haut und die Kleidung.
Gleichzeitig flogen die Hinweise, die es für Ingerlings Anwesenheit gegeben hatte, an der vermummten Frau vorbei in den Transporter und verschwanden.
Das … kann nicht sein! Eugen sah mit an, wie die Unbekannte in die Dunkelheit des Wagens zurückwich und die vollkommen deformierte Leiche hineinflog.
Die Türen schlossen sich mit einem Knall, und der Transporter fuhr röhrend davon.
Was geschah hier eben? Er erhob sich, sah über den reinen, aufgewühlten Schnee sowie den Kies, in dem es keine verräterischen Spuren mehr gab. Welche Art von Technologie ist zum Einsatz gekommen? Es konnten unmöglich Drahtschlingen oder Ähnliches gewesen sein.
»Frederik!« Er rutschte zu seinem Freund und wälzte ihn behutsam von Pauline.
Die Nanny kam angerannt und trug das schreiende, aber unverletzte Mädchen davon.
Frederik hingegen hatte durch den Schock das Bewusstsein verloren, in seiner rechten Schulter klaffte ein großes Loch. Das flüssige Rot rann heraus, ein Gefäß musste verletzt worden sein.
Eugen richtete den Oberkörper seines Kumpels auf und presste die Hände auf die Wunden, um den Blutverlust zu minimieren, bis der Rettungswagen eintraf. »Das wird wieder«, sagte er zum bewusstlosen Frederik.
Er beschloss, nach Lene zu suchen, sobald sein Freund in der Obhut von Ärzten war. Für ihn bestand kein Zweifel: Jemand hatte es auf Von Bechstein Laboratories abgesehen, und dieser Jemand arbeitete mit allen Mitteln.
Scheiße. Eugen sah, wie das warme Blut zwischen seinen Fingern hindurchsickerte und sich nicht aufhalten lassen wollte.
* * *