Kapitel VII
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Claire wusste nicht, ob es schlau war, in aller Frühe die verschneite Auffahrt zur Straße entlangzugehen, anstatt Fabian ihren Range Rover benutzen zu lassen, der in der Garage stand und ihr gehörte. Notfalls konnte sie es weiterhin auf die Nachwirkungen der Entführung schieben, dass Marlene von Bechstein sich merkwürdig oder zumindest anders benahm als früher.
Sie hatte sich Kleidung aus dem fremden Fundus genommen, in einen schwarzen Pullover und schwarzen Rock geworfen, die flachsten Stiefel ausgesucht, die sie fand, und sich vor dem Erwachen der Bewohner aus dem Haus gestohlen. Der dicke graue Designermantel schützte vor der Kälte, und die Lederaktentasche neben der Tür, auf die das silberne Monogramm LvB gestickt war, nahm sie aus einem Gefühl heraus.
Das Unternehmen befand sich im Industriegebiet Seehausen, noch hinter dem Messegelände, wenn sie es auf der Karte richtig gesehen hatte. Wie lange man bei dieser Witterung bis dorthin brauchte, wusste sie nicht. Dafür kannte sie sich zu wenig in Leipzig aus.
»Guten Morgen«, grüßte sie im Vorbeigehen einen Mann in Parka und mit Tschapka auf dem Kopf, der gerade die Einfahrt mit einer breiten Schaufel vom Schnee befreite.
»Guten Morgen, Frau von Bechstein«, erwiderte er verblüfft und hielt mit dem Schippen inne. »Schon ins Büro? Sie haben es aber eilig.«
»Da sagen Sie was.« Claire wusste nicht, wie er hieß, doch offenkundig gehörte er zu den Bediensteten der Familie. »Ich muss im Labor ein paar Dinge prüfen.« Sie hastete weiter.
»Ist der Range Rover kaputt, Frau von Bechstein?«, rief er ihr nach. »Soll ich die Werkstatt anrufen?«
»Nein. Bewegung ist gesund«, erwiderte sie rasch und beschleunigte ihre Schritte, um ein verwundertes Nachfragen zu verhindern. »Ich werde abgeholt und gehe meinem Chauffeur entgegen. Grüßen Sie meinen Mann, wenn Sie ihn sehen.«
Claire erreichte die Einfahrt und ging nach rechts, stapfte durch den Schnee; dabei hob sie den linken Arm zum verabredeten Zeichen. Sie begab sich an den Straßenrand und wartete.
Kaum stand sie an der Kante, startete ein Motor, und Scheinwerfer flammten auf. Gegen das aufsteigende Unwohlsein vermochte Claire sich nicht zu wehren.
Das Auto näherte sich.
Sie erkannte zu ihrer Erleichterung den dunkelgrünen Audi A6 Allroad Quattro. Der Wagen hielt an, auf dem Fahrersitz saß Fabian, wie vereinbart in einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd und dünnem schwarzem Schlips.
Er nickte ihr zu und lehnte sich herüber, um die Tür zu öffnen. Er wirkte ein bisschen zu klein für Kleidung und Auto.
Claire zog sie auf und stieg ein. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen.« Er reichte ihr einen DIN-A4-Umschlag. »Bitte sehr. Damit wir das nicht vergessen: mein unterschriebener Anstellungsvertrag, die Referenzen liegen schriftlich anbei.«
Sie nickte und drehte die Düsen so, dass die warme Luft gegen sie strömte. Der Umschlag verschwand in der Aktentasche im Fußraum.
»Gehen wir rasch durch, was Sie offiziell noch von Ihrem Leben als Marlene von Bechstein wissen?«
»Ich bin die Co-Chefin der Von Bechstein Laboratories, ein Zulieferunternehmen für Kosmetikartikel, das international handelt. Außerdem wollen wir eine eigene Duftserie starten«, sagte sie auf. »Durch die Schlappe in einem Patentstreit habe ich beinahe all mein privates Vermögen verloren. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch, nachdem persönliche Tragödien dazukamen: eine Fehlgeburt, mein Bruder ist verschwunden, und meine Eltern starben bei einem Unfall, woraufhin ich mich vorerst aus dem laufenden Betrieb zurückzog«, gab sie die offizielle Variante wieder.
»Korrekt.« Fabian fuhr los. Der Audi A6 pflügte unbeirrt durch den Schnee, als gleite er auf Schienen dahin.
»Ich wurde entführt, konnte mich befreien und erlitt durch den Schock eine Teilamnesie, was sich inzwischen als Gerücht herumgesprochen hat«, fuhr sie fort. »Um schneller in mein Leben zu finden, kehre ich zurück in meinen alten Job.« Sie zögerte. Ein Job, von dem ich nichts weiß. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Es sind so viele Details, die Sie mir schickten und die ich mir merken muss.« Sie rang das aufsteigende Gefühl der Panik nieder.
Claire hatte in ihrem alten Leben die größten Widrigkeiten gemeistert. Doch mit dem unfreiwilligen Wechsel in diesen dünneren, zierlicheren, zerbrechlicheren Körper schien auch ihr Selbstbewusstsein extrem reduziert.
Fabian schaltete runter und ließ die Motorbremswirkung ihren Dienst verrichten, anstatt auf das Pedal zu treten. »Keine Sorge, ich kenne die Details, die wir über das Leben von Lene Bechstein einholen konnten. Ich instruiere Sie im Büro weiter und springe ein, wenn es eng wird. Wie gesagt« – er sah einen Moment lang zu ihr –, »wir haben den Vorteil der Amnesie. Niemand wird Verdacht schöpfen.«
Claire nickte und fuhr sich über die Ärmel, fühlte die Wunden unter den dünnen Verbänden. Schon sah sie das Innere des Rettungswagens vor sich, in dem sie erwacht war.
Die Nachrichten hatten über die brutale Schießerei berichtet, doch keiner konnte sich erklären, was es damit auf sich hatte.
Die Mutmaßungen der Medien gingen dahin, dass Kriminelle einen Rettungswagen stehlen wollten, um ihn bei einer anderen Tat zum Einsatz zu bringen. Doch wer die Toten waren, wusste niemand. Vorerst mussten Spekulationen über Motorradgangs und Russenmafia herhalten. Manche Journalisten mutmaßten, es habe ein Pate in dem Transporter gelegen.
»Schmerzen?«
Claire sah durch die winkenden Scheibenwischer auf die Straße. »Nicht mehr. Vor zwei Tagen dachte ich, es sei eine Blutvergiftung, aber es ist wohl der Heilungsprozess.« Mit Fabian an ihrer Seite fühlte sie sich sicherer als bei Eugen.
»Sehr gut. Aber rufen Sie das nächste Mal lieber an, damit wir was in die Wege leiten. Kein Risiko, was Ihre Gesundung angeht.« Er deutete auf ihre Aktentasche. »In dem Umschlag sind auch Ihre aktuellen Blutwerte. Wir haben eine Probe untersuchen lassen, als Sie im Hospiz waren. Keine Anzeichen von Leukämie. Die Werte sind gefälscht worden. Anastasias Werk, um Lene von Bechstein emotional in den Abgrund zu stürzen.«
»Das wird Eugen eine Angst nehmen.«
»Ihnen nicht?« Fabian schenkte ihr einen kurzen Blick. »Sie sollten ihm die Ergebnisse bald zeigen und eine Erklärung präsentieren, bevor er eigene Nachforschungen anstellt.«
»Vertauschte Proben, werde ich sagen. Das ist das Naheliegende.« Claire überlegte. »Wie viele Leben hatten Sie schon?«
Er lächelte verständnisvoll. »Freut mich, dass Sie Interesse an denen zeigen, zu denen Sie gehören. Wir hatten kaum Gelegenheit seit damals …«
»Seit damals sind acht Tage vergangen. Ungefähr«, murmelte sie. Ich gehöre nicht zu euch. Ich wurde zu einer von euch gemacht.
Fabian folgte den Anweisungen des Navigationsgeräts und bog nach Norden auf die Lützner Straße ab. »Ich starb zum ersten, aber nicht letzten Mal an meinem dreißigsten Geburtstag. Bei einem profanen Marsch in den Bergen, als wir nach den Kühen auf der Alm sehen wollten. Ich rutschte mit dem Fuß vom schmalen Pfad und verlor das Gleichgewicht«, erzählte er trocken. »Die entsetzten Gesichter meiner Söhne, die meinen Sturz verfolgten, vergesse ich nicht. Alles in allem werden es dreihundert Meter bis zum Aufschlag gewesen sein, und plötzlich löste sich meine Seele aus dem Leib.« Er schwieg mehrere Herzschläge lang. »Was danach geschieht, kennen Sie: Dunkelheit, Blitze, eine Art Wetterleuchten, Angst, Einsamkeit und das spürbare Verblassen, gegen das ich mich wehrte. Ich landete in einem freien Körper – dummerweise gehörte er zu einem verurteilten Verbrecher. Er hatte aus Verzweiflung Selbstmord begangen. So kam ich an meine zweite Chance.«
Claire versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. »Sie stammen demnach aus Süddeutschland?«
»Gebürtig in Krün. Ich war Bergbauer. Nichts Weltbewegendes, eine kleine Herde, eine große Familie, eine Alm. Nach dem Sturz wandelte sich mein Dasein.« Fabian bog in die Jahnallee und gab Gas, um an den langsamen Wagen vorbeizugelangen. Der Allroad spielte seine Stärken auf dem tückischen Untergrund gegen herkömmliche Autos aus. »Oh, der Verbrecher war übrigens zum Tode verurteilt«, fügte er lachend hinzu. »Das nennt man schlechtes Timing.«
»Gab es die Todesstrafe in Deutschland noch?« Claire kam sich in der gleichen Sekunde töricht vor. Wer mehrere Leben gelebt hatte, konnte durchaus alt werden. Oder besser gesagt: seine Seele. Eine alte Seele.
»Ich glaube, dass es sie noch gab. Oder wieder. Aber ich sagte nicht, dass der Verbrecher in Deutschland lebte.« Fabian steuerte den Audi A6 souverän durch das Blech- und Schneegestöber die Straße entlang. »Sie hatten Glück im Unglück, was die Landung anging.«
Und wieder kam sich Claire naiv vor. Sie musste sich daran gewöhnen, dass es für eine Seele, die anscheinend nichts anderes als eine Form besonderer Energie darstellte, um es halbwegs wissenschaftlich zu betrachten, keine räumliche Begrenzung gab. »Wo sind Sie … sagt man erwacht?«
»Kann man sagen.« Er legte eine Hand an seinen Hals. »Ich kam auf dem Boden der Zelle zu mir, mit einem Gürtel um die Kehle, den die Wärter abgeschnitten hatten. Sie mussten mich wiederbelebt haben. Und ich kann Ihnen sagen: In Russland waren die Gefängnisse schon 1884 nicht schön.«
Claire schluckte. »Russland.«
»Im Zarenreich. Ohne einen einzigen Brocken Russisch zu können. Woher auch? Aus dem tiefsten Bayern mitten nach Irkutsk.« Fabian musste lachen, auch wenn es nicht glücklich klang. »Du meine Güte. Wenn ich daran denke.«
»Wie alt waren Sie?«
»Ich schlug im Körper eines kriminellen Straßenjungen auf.«
»Nein, davor.«
»Dreißig«, wiederholte er nachsichtig. »Nach meiner Flucht aus dem Gefängnis lebte ich dreiundsechsig Jahre, anschließend fünfundfünfzig, und in diesem Körper«, er zeigte an sich hinab, »bin ich seit zwölf Jahren unterwegs. Alles in allem der beste bislang. Er sieht gut aus, ist gut in Schuss – was will man mehr?«
Hundertsechzig Jahre, addierte Claire. Geboren 1854, und sterben wird er vermutlich niemals mehr.
Er grinste. »Sie haben gerade ausgerechnet, wie alt ich bin.«
Sie nickte.
»12. Mai.«
»Bitte?«
»Mein Geburtstag. Nun, mein erster Geburtstag als Mensch. Falls Sie mir was schenken wollen.« Fabian zog quer über die Bahnen und zwang den Audi A6 mit einem leichten Driften von der Delitzscher auf die Essener Straße und in die Maximilianallee. Warnsignale im Display flammten auf, er schaltete die elektronischen Fahrunterstützungsprogramme aus.
Die VoBeLa, die Von Bechstein Laboratories, waren bereits ausgewiesen, damit die Lastwagen der Zulieferer den Weg fanden.
Das Messegelände flog rechts vorbei, das Industriegebiet Seehausen rückte näher.
Nicht allzu weit entfernt von der kreuzenden Autobahn erhob sich zwischen den übrigen Unternehmenshallen ein etwa dreißig Meter hoher, kastenförmiger Gebäudekomplex. Scheinwerfer machten ihn in der winterlichen Dunkelheit sichtbar, und die Schneeflocken mutierten zu abstürzenden Motten, die sich schier ohne Verstand am Licht vorbei auf die gefrorene Erde warfen.
Die Wände des großen Gebäudes waren grau, weiß und dunkelgrün gestrichen, das Logo bestand aus einem stilisierten Kolben mit den VoBeLa-Silben von oben nach unten darin. Darunter neonleuchtete: Inventing Health & Care.
In Claire regte sich beim Anblick der Firma nichts. Keine Marlene-von-Bechstein-Erinnerungen flackerten auf. Kommen überhaupt welche, oder sind sie mit der Seele ausgezogen? »Wie viele Leben hatte das Triumvirat?«
»Das ist aber eine schicke Bezeichnung. Würde ihnen gefallen.« Fabian lachte leise. »Sie hatten viele Leben. So genau verraten das die Mächtigsten niemals, aber anhand ihrer Fähigkeiten lässt sich abschätzen, wie alt sie sind.« Er bog in das Industrieareal ab.
»Sie meinen Fähigkeiten wie meinen Schrei?« Den Umstand, nicht nur ein zweites Leben, sondern eine Besonderheit erhalten zu haben, hatte sie verdrängt.
»Exakt. Das ist ein nicht unwesentlicher Ansporn, die Seelenwanderung zu durchlaufen. Nicht zu vergessen das stärker werdende Charisma.«
Das beleuchtete Einfahrtstor mit dem unprätentiösen wohncontainerartigen Gebäude daneben rückte näher, die Schlagbäume hoben und senkten sich für die wenigen Autos, die auf das Gelände durften. Die Arbeiter parkten auf dem großen Platz davor oder wurden aus Bussen gespien.
»Und was sind Ihre drei Superkräfte?«
Fabian beließ es bei einem geheimnisvollen Lächeln.
Der Audi A6 schwenkte auf die Einfahrt zu, doch der Zugang wurde ihnen verwehrt. Das Auto war dem Werkschutz unbekannt.
Im Innern des kleinen Häuschens erhob sich eine Gestalt und trat aus der Tür, näherte sich dem Wagen.
Siedend heiß durchfuhr es Claire, dass sie nicht an einen Ausweis gedacht hatte. Sie kramte in der Aktentasche, suchte und wühlte, während Fabian das Fenster auf ihrer Seite nach unten gleiten ließ. »Ganz ruhig«, raunte er ihr zu.
»Oh, guten Morgen, Frau von Bechstein«, hörte sie den Wachschutz sagen.
Langsam richtete sie sich auf und lächelte den Mann an. »Guten Morgen.«
Die gelb-schwarze Schranke vor der Motorhaube schnellte in die Höhe und blieb leicht federnd senkrecht stehen.
»Schön, dass Sie wieder da sind.« Er tippte sich an den Mützenrand.
»Ich freue mich auch.« Claire behielt die Freundlichkeit auf ihren Lippen. »Notieren Sie den Wagen und das Kennzeichen, dann klappt es das nächste Mal ohne Anhalten.«
»Natürlich. Verzeihen Sie das Versehen, Frau von Bechstein.«
Claire nickte lächelnd, und Fabian fuhr los. Sie muss beliebt gewesen sein … nein, sie ist beliebt, ging es ihr durch den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, mit wem sie in der Firma befreundet ist«, sprach sie ihre Befürchtungen aus und spürte, wie ihr Herz schlug.
»Amnesie. Damit kriegen wir alles hin.« Fabian blieb unbeeindruckt und steuerte den Wagen auf den Parkplatz neben dem Haupteingang, wo ein Schild mit Fr. v. Bechstein deutlich machte, wer hier halten durfte.
Er schaltete den Motor ab, löschte das Licht, bevor er sich ihr zuwandte und aufmunternd in die Augen sah. »Sie schaffen das.« Er nahm ihre Hand und drückte sie kurz. »Ich bin bei Ihnen.«
Aber du bist nicht Finn. Claire presste die Lippen zusammen, dann öffnete sie die Tür und verließ den Wagen. Währenddessen setzte sie eine Sonnenbrille auf, die sie in der Aktentasche entdeckt hatte. Sie wusste, dass es um diese Uhrzeit überhaupt keinen Sinn ergab, doch sie fühlte sich dahinter ein wenig vor den Blicken der Leute geschützt.
Gemeinsam betraten sie die Schleuse und mussten keine Ausweise zeigen. Im hellen Licht war ihr markantes Gesicht gut zu erkennen. Für Fabian erbaten sie eines der Besucherkärtchen, damit er nicht ständig von einem Aufpasser angehalten wurde. Spätestens in einer Stunde bekäme er seinen eigenen Ausweis.
Mit dem vollbesetzten Fahrstuhl ging es aufwärts.
Unterhaltungen kamen nicht auf. Claire vermied es, einen der Passagiere anzuschauen oder auf die Spiegelwände zu blicken. Sie wollte die fremden Züge nicht sehen, die sie seit acht Tagen trug.
Aber verhindern ließ es sich letztlich nicht.
Claire erschrak, wie schlecht das Gesicht aussah. Bleich, eingefallen und mehr tot als lebendig, das Kaltlicht tat sein Übriges. Eine lebende Leiche. In den Filmen, die ihre Tochter schaute, müsste sie gleich als Zombie über die Umstehenden herfallen und ein Massaker in dem Lift anrichten.
Tatsächlich fühlte sich Claire, als wäre sie selbst das Opfer: unverhohlen beobachtet, heimlich angestarrt, von allen bemitleidet. Niemand schien Lene von Bechstein das Unglück zu gönnen, das über sie hereingebrochen war.
Langsam atmen. Die deutlich spürbare Sympathie brachte Claire dazu, sich leicht zu entspannen.
Von Stockwerk zu Stockwerk leerte sich die Kabine zusehends. Im achten Stock waren sie und Fabian endlich alleine.
Wenigstens das ist geschafft. Claire setzte zu einem Satz an, aber er zeigte kurz an die Decke, wo sie jetzt erst eine Kameralinse wahrnahm. Die Beobachtung ging weiter, daher schwieg sie.
Der Lift hielt an, die Türen öffneten sich – und vor ihnen standen zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Spalier, um ihre angeschlagene Chefin mit herzlichem Applaus zu empfangen, was wohl als Geste der Ermunterung gedacht war.
Claire hingegen versteifte wie beim Empfang der beiden fremd-eigenen Kinder in der Bechstein-Villa.
Sie vermochte nicht einen Schritt zu tun – und plötzlich brachen unbekannte Erinnerungen über sie herein und schwemmten ihr eigenes Denken davon.
* * *
Russland, Oblast Wologda, westlich von Belosersk
Der Hubschrauber zog in knappem Konturflug über die laublosen Birken dahin, die Unterseite war keine zwei Meter von den Wipfeln entfernt. Seine häckselmesserhaften Rotoren pusteten den Schnee von den Ästen und Zweigen, die Schnauze stand leicht schräg nach unten. Mit höchster Geschwindigkeit donnerte der Kamov Ka-62 vorwärts.
Eric saß neben dem stoischen Piloten Piotr, den er dank Fainas Handy und einer fingierten SMS glauben machen konnte, alles habe seine Richtigkeit, als er alleine auf dem Flugfeld auftauchte und transportiert werden wollte. Die Familie Zacharov zahlte genug Lohn, um keine Fragen zu stellen, auch wenn die Anweisungen kryptisch erschienen, wie zum Beispiel mit 300 Stundenkilometern so tief wie möglich zu fliegen.
Der Ort, an dem die Organisation etliche Kilometer außerhalb der Großstadt ihr Zelt aufgeschlagen hatte, lag laut der Karte abseits und westlich des Weißen Sees.
Im Internet war von einem verlassenen Mönchsgut die Rede, das nach der russischen Revolution in einen Bauernhof umfunktioniert wurde. Bis vor wenigen Jahren befand sich ein kleines Museum darin, dann war es von Investoren aufgekauft worden, behauptete man im Netz. Die Pläne, um daraus ein Luxushotel für Oligarchen zu machen, schienen ins Stocken geraten zu sein.
Eric sah nach vorne, wo sich der Wald lichtete und eine breite Schneise aufwies.
Auf einem baumfreien Fleck von geschätzten 500 Metern Durchmesser erhob sich ein Gehöft, dem man dank der Zwiebeltürmchen sowie dem Glockenspiel im höchsten Gebäude seinen alten Klostercharakter ansah. Ein Hauptgebäude, das wohl die Kirche oder das Kloster gewesen sein musste, stand alleine für sich und wurde von den Stallungen flankiert.
Ein breiter, aber unbefestigter Weg führte auf das Gehöft zu, ein Parkplatz hinter der rechten Scheune wurde angelegt, wie die planierte Fläche zeigte.
Der Helikopter schoss knatternd auf die Häuseransammlung zu.
Besser, als auf einem verschneiten Auflieger zu reisen. Eric war der Polizei auf dem Lastwagen entkommen und hatte sich auf der kalten Mitfahrgelegenheit quer durch die Stadt kutschieren lassen, bevor er nahe des Bahnhofs an einer Ampel vom Hänger sprang. Irgendwann auf seiner Flucht musste er das Amulett verloren haben, was ihn ärgerte, sich aber nicht ändern ließ. Den Privatflughafen hatte er schnell erreicht, nun befand er sich bei Einbruch der Dämmerung und später als geplant an seinem Ziel.
Zumindest führten keine frischen Reifenspuren zu dem Gut, ein Pick-up war unter einer hohen Schneeschicht zu erahnen. Aus den Kaminschloten stieg kein Rauch, der auf laufende Heizungen oder brennende Kamine hinwies.
Ist es verlassen? Eric überschlug die Abmessungen des Kamov Ka-62 und deutete auf den Innenhof. »Landen.«
Der Pilot nickte knapp und drückte die Schnauze nach der letzten Birkenkrone abrupt abwärts, so dass sie über den verschneiten Boden jagte, als würde sie Panzer hetzen. Das leise surrende Geräusch zeigte an, dass die Räder ausgefahren wurden. Erst im letzten Moment fing Piotr den Hubschrauber ab, Erics Magen sackte tief nach unten. Unwohlsein breitete sich in ihm aus.
Umspielt von weißen Schleiern, setzte die Maschine auf, die Rotoren wirbelten weiter.
»Schalten Sie in den Leerlauf. Sie warten«, befahl Eric dem Mann auf Englisch.
»Njet. Das war nicht die Anweisung, die Sie mir zeigten.« Piotr wies auf den Ausstieg. »Es war nur die Rede von herbringen.«
Dieses Spiel kannte er. Vor den Augen des Mannes wollte er keine weitere SMS tippen, daher ging er den direkten Weg. »Wie viel kostet es mich, dass Sie warten?«
»Tausend Euro …«
»Einverstanden.«
»… pro fünfzehn Minuten.« Piotr hielt die Hand auf. »Anzahlung von zweitausend, bitte. Oder Sie lassen sich zurückfahren.«
Weil er keine Zeit hatte, nickte Eric zunächst freundlich, um dem Mann keine Sekunde darauf den Ellbogen mit Wucht gegen die Schläfe zu schlagen. Außer Gefecht gesetzt und mit verrutschtem Headset hing der Pilot in den Gurten.
»Die erste halbe Stunde ist kostenlos«, murmelte Eric und verließ die Kanzel, um auf das Haupthaus zuzurennen.
Niemand stürmte heraus, um den ungewollten Besuch abzufangen, und das machte ihn noch aufmerksamer.
Das schwirrend peitschende Geräusch der Rotorblätter und das leise Fauchen des Winds überlagerte jeglichen sonstigen Laut und gab möglichen Feinden Deckung. Der Wind wirbelte den Schnee zwar auf und hüllte Eric im Gestöber ein, doch dafür sah und roch er kaum etwas.
Seine Anspannung hatte Auswirkungen: Das Dämonische in ihm regte sich, drang an die Oberfläche und machte sich bereit. Das Böse wollte zum Zug kommen.
Hoffen wir, dass ich es nicht brauche. Eric erreichte den Eingang und warf sich mit Wucht gegen die Tür, um sie zu öffnen und mit einem großen Sprung ins Innere zu hechten.
Er rollte sich über die Schulter ab, und während er auf die Füße kam, blickte er sich sichernd um – und fand sich allein.
Eric kniete mitten in der Eingangshalle, um die sich eine Galerie erhob. Das dunkle Holz, aus dem die Wände zu bestehen schienen, sonderte einen alten Geruch ab. Zwei antike Deckenlüster verbreiteten sterbendes Licht, das nicht bis in die letzten Ecken reichte und die Türen im Erdgeschoss im Schatten liegen ließ. Polierte Messingknäufe schimmerten schwach und verrieten, wo sich ein Durchgang befand.
Eric sah und hörte niemanden, witterte vorsichtig.
In der Luft hing der schwache Hauch von Politur, von Essen, verschiedenen Aftershaves sowie Frauenparfüm, Druckergeruch und Papier, und nicht zu vergessen: Waffenpflegemittel.
Langsam stand er auf und ging einige Schritte zur Seite, blickte aus dem Fenster.
Der Helikopter steckte in seinem Kokon aus trudelnden Flocken, der Hof war ansonsten leer und verwaist.
Wo immer die Leute stecken, hier sind sie nicht. Eric entspannte sich und drängte das Dunkle zurück, das bereits erste Hitzewellen durch seinen Leib schickte, um die Verwandlung zu erleichtern. Da ihn niemand störte oder gar versuchte umzubringen, betrachtete er die Halle in Ruhe.
An den dunklen, mit Teakholz vertäfelten Wänden hingen Ikonen verschiedener Heiliger, klassisch düster und mit viel Blattgold. Kreuze, orthodoxe und andere, waren dazwischen positioniert.
Je mehr sich seine Augen an das diffuse Licht gewöhnten, desto mehr Symbole erkannte er überall an den Wänden und Stützpfeilern der Galerie. Keltische, indische, südamerikanische und astrologische; dazu gesellten sich chinesische und japanische Schriftzeichen, das sehende Auge der Ägypter, Ankhs, die Schutzhand, die Schwarze Sonne und Swastiken mit verschiedenen Ausrichtungen der Hakenenden für männlich und weiblich. Wegen der Kombination mit den sonstigen Symbolen glaubte Eric nicht daran, es mit mystifizierenden russischen Neonazis zu tun zu haben.
Sie brachten alles, was man zum Schutz nutzen kann, hier an. Er legte aus einer Eingebung heraus den Kopf in den Nacken und sah an der Decke ein großes Zeichen aufgemalt. Das Waage-Symbol!
Er senkte den Blick und musterte die kaum erkennbaren Türen um ihn herum. Eine sah aus wie die andere.
Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als jede einzelne zu öffnen und nachzuschauen, was diese Truppe für ihn parat hielt. Eric ging nicht davon aus, dass sein Einbruch weiterhin reibungslos vonstattenging. Die Falle konnte jederzeit zuschnappen.
Er betrat den ersten Raum, von dem klassischer Küchengeruch ausging. Ein kurzer Blick hinein genügte, um seine Untersuchungen nicht zwischen Töpfen und Pfannen und dreckigem Geschirr fortzusetzen.
Unmittelbar daneben schloss sich die sehr große Vorratskammer an, in der ungewöhnlich viele Gefriertruhen standen. Auch hier zeigte das schnelle Öffnen: nichts Besonderes, wenn man von der Vorliebe für Hamburger-Pattys absah. Es mussten Hunderte sein.
Nach einer knappen Viertelstunde stand fest, dass sich im Erdgeschoss die Mannschaftsquartiere, der Speisesaal und alles Weitere befand, was eine Gemeinschaft brauchte, um zusammenzuleben.
Die Anzahl der Betten ließ auf fünfzehn Leute schließen, die persönlichen Sachen in den Spinden, der Geruch von Aftershave und süßem Parfüm sprach für gemischte Belegung.
Aber wo stecken diese Menschen?
Es machte tatsächlich nicht den Eindruck, dass die Arbeiten für ein Luxushotel der russischen Oligarchie im Haupthaus vorangingen. Weder wurde umgebaut noch abgerissen. Hinweise auf Zacharova: Fehlanzeige.
Eric pirschte die Treppe hinauf und hoffte, endlich auf Büros zu stoßen.
Er rechnete jederzeit damit, dass die Mannschaft des Gehöfts zurückkehrte, und dann müsste er improvisieren. Vielleicht waren sie vor dem Schneefall in die nächste Stadt für Besorgungen oder zur Patrouille aufgebrochen. Solange sie ihn nicht störten, würde er jede Sekunde zum Suchen nutzen.
Der erste Raum unmittelbar neben dem Aufgang offenbarte eine positive Überraschung: Er hatte einen Besprechungsraum gefunden, dessen Wände zum einen mit Whiteboards, zum anderen mit dem gleichen Sammelsurium an Symbolen wie die Halle versehen waren.
In der Mitte ruhte ein altehrwürdiger Tisch, leere Flaschen und benutzte Gläser standen darauf; ein Beamer zielte auf eine Leinwand, ohne eingeschaltet zu sein. Das Zeichen der Waage war in die Mitte des Holzes eingebrannt worden.
Lange kann das Meeting nicht her sein. Eric sah die vielen Ausdrucke an den Tafeln prangen und spähte eilig darauf, um einen Eindruck zu gewinnen.
Es handelte sich um eine Kurzdossier-Galerie: Männern und Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Hautfarben waren fotografiert worden, den Perspektiven nach ohne ihr Wissen. Daneben standen ihre Wohnorte, Berufe und knappe Schlagworte zu ihren Gewohnheiten und Lebensumständen. Von unheimlich reich bis Prekariat war alles dabei.
Wäre er nicht an diesem ungewöhnlichen Ort, hätte Eric annehmen können, er stünde in einer Geheimdienst- oder Polizeizentrale, die versuchte, eine Organisationsstruktur unter den Verdächtigen zu erkennen, und einen Schlag gegen diese breit aufgestellte kriminelle Vereinigung plante.
Doch der Zusatz a-Speziesausprägung wich vom herkömmlichen Polizei- und Geheimdienstdossier ab.
Erics Augen huschten hin und her, erfassten die Einschätzungen der Beobachter. Typus Werwolf, Typus Vampir, Typus Wer-Tigerin, Typus Dämon, Typus Phagoi, Typus Spiritus.
Das a wusste er nicht einzuordnen. Stand es für den Gefährlichkeitsgrad? Manche Fotografien trugen ein in Grün handschriftlich eingetragenes Datum.
Er trat einen Schritt zurück und betrachtete das Sammelsurium an Kreaturen, die normale Menschen in Grusel- und Horrorfilmen wähnten. Diese Gruppe tut das Gleiche wie ich. Anscheinend ebenso weltweit.
Zwei der Fotografierten kannte er, sie standen ebenfalls auf seiner Prüfliste. Dass er auch sie bei den Unbekannten fand, sicherte seine Annahme ab. Die Speziesausprägung kennzeichnete sie als Wer-Schakal und Wer-Grizzly.
Am rechten Ende der Galerie hing das Bild von Nadeschda Zacharova. Das grüne Datum stimmte mit dem Tag überein, als die Vermummten im Casino aufgetaucht und die Wer-Tigerin mitgenommen hatten; darunter war umbuchen geschrieben worden. Zacharova bildete damit eine Ausnahme.
Großzügig verdeckt von einigen Faina-Fotografien, die anscheinend zum Spaß von der gutaussehenden Tochter geschossen worden waren, spitzte eine weitere Aufnahme hervor. Den Mantel, der ansatzweise zu sehen war, kannte Eric.
»Scheiße«, murmelte er und zog das Dossier hervor.
Sein Dossier.
Es zeigte ihn verwaschen und undeutlich im Salle Blanche, danach gestochen scharf aber aus weiter Entfernung an Bord seiner Refugio. Eric dachte sofort an die Frau, die ihn in jener Nacht beobachtet hatte. Wie versprochen hatten ihn die Unbekannten auf ihre Liste gesetzt.
Bei seiner a-Speziesausprägung stand ein Fragezeichen und vermutlich Dämon dahinter. Das hätte ihn nicht beunruhigt, wenn weiter unten nicht Mobilfunkdaten gefolgt wären. Bislang hatte er seine Spielzeuge für abhörsicher gehalten.
Oh, Scheiße! Unheilige Hitze rollte durch ihn hindurch: Sias Nummer tauchte am Ende der Liste auf. Er musste sich etwas einfallen lassen, um diese Organisation aufzuhalten, bevor sie herausfanden, was Sia war, und sich auf den Weg machten. Sie darf nicht zu einem Dossier werden.
Nur langsam realisierte Eric, dass sich in seiner Umgebung etwas geändert hatte. Die Rotoren waren verstummt.
Er machte einen Schritt zum Fenster und sah in den Hof hinab, wo sich die letzten Schneeschleier legten und die Sicht freigaben.
Die Turbinen des Helikopters waren ausgeschaltet, der Pilot fehlte.
Ein Dielenbrett in Erics Rücken knarrte verräterisch.
Noch bevor er sich umwenden konnte, sagte eine Frauenstimme auf Englisch: »Das ist nett, dass Sie sich die Mühe machen, zu uns zu kommen. Unsere Einheit in Sankt Petersburg wird Sie knapp verpasst haben.«
»So bin ich.« Langsam drehte er den Kopf und sah über die Schulter. »Ich hatte zudem meine Gründe.«
Auf der Schwelle verharrte eine kurzhaarige blonde Frau, die einen langen Dolch in der Hand hielt, dessen Schneiden aus Bernstein gefertigt schienen; das Mittelteil selbst bestand vermutlich aus Silber und war graviert. Von der Kleidung her erinnerte sie an eine Vorzimmerdame, in praktischem schwarz-weißem Kostüm. Die dickrandige Nerdbrille verlieh ihr Strenge. »Haben Sie?«
»Ich wollte herausfinden, wer versuchte, mich zu töten«, erwiderte er und rang das aufbrausende Dämonische nieder. Sein schlimmstes Ich wollte zum Vorschein kommen. Doch noch brauchte er es nicht, die Frau schien alleine zu sein. »Dabei tun wir offenkundig das Gleiche. Das sagte ich schon in Monaco.« Er wollte die Unbekannte dazu verleiten, mehr zu verraten, um Klarheit zu erlangen. »Wir könnten uns zusammentun.«
»Oh, da liegt ein Missverständnis vor«, widersprach sie. »Wir wollen Sie nicht töten.«
»Sondern?«
»Einfangen.«
»Und?«
Sie spielte mit dem Dolch und wirbelte ihn äußerst geschickt zwischen den Händen, wie es wohl nur eine Vorzimmerdame beherrschte, die mehrere Jahre Kampfkunst betrieben hatte. »Nichts weiter. Nur einfangen und wegsperren.«
Eric erinnerte sich, dass der Unbekannte im Salle Blanche eine ähnliche Aussage getätigt hatte. Eric wandte sich ganz langsam zu ihr um. »Weswegen machen Sie sich die Mühe, die Kreaturen wegzusperren, anstatt sie unschädlich zu machen?«
»Wir sind libra. Wir beschützen die Menschheit besser als Sie.«
Libra. Lateinisch für Waage. Er lachte böse auf. »Ich schicke die Diener des Bösen ins Jenseits. Was kann es Wirkungsvolleres geben?«
Die Frau schüttelte langsam den Kopf. »Sie unterliegen einem Irrtum, wie die meisten Menschen.«
»Ist das so?«
Die Blonde lächelte sehr mitleidig.
»Dann« – Eric setzte sich auf einen der Stühle – »klären Sie mich auf. Vielleicht lasse ich mich freiwillig von Ihnen einsperren, wenn die Geschichte gut ist.« Da er keine Geräusche vernahm, die auf weitere Menschen schließen ließen, gönnte er sich den Plausch. Ließ man Gegner reden, verrieten sie sich oftmals aus Selbstverliebtheit.
»Ihre Abgebrühtheit ist durchaus imponierend. Ich bin gespannt.« Die Unbekannte betrachtete ihn abschätzend. »Nun, es gibt kein Jenseits. Es gibt keine Hölle, aus der die Dämonen kommen, und auch keinen Himmel, aus dem die Engel schweben. Und es gibt keine Gnade.«
Eric horchte auf. »Welches Prinzip verfolgen Sie denn?«
»Ein universales, kein spezifisches, das an eine Religion gebunden wäre. Religionen sind Unsinn, und die meisten nutzen die menschlichen Schwächen aus, um ihre Anhänger gefügig zu halten.«
»Dann sind die Symbole im Eingang und hier Dekoration?«
»Oh, auf manche wirken sie. Weil sie glauben, sie müssten wirken.« Sie deutete mit der Dolchspitze auf Eric. »Apropos: Sie glauben vermutlich, Sie trügen einen Dämon in sich und machen Jagd auf Wandelwesen und Vampire.«
»Na ja. Wenn sich ein Mensch vor meinen Augen in einen Wolf verwandelt oder die Fangzähne ausfährt – was soll es sonst sein?« Er folgte ihren Ausführungen mit Interesse.
»Die Seele.«
»Etwas mehr Erklärung wäre schön.«
Sie goss erneut dieses wissend-arrogante Lächeln über ihm aus. »Das a vor der Spezifizierung steht für animus, lateinisch für Seele. Eine Seele wiederum ist nichts anderes als eine Energieform.«
»Eine Seele ist nicht messbar«, hakte er ein.
»Aktuell ist sie nicht mit Geräten messbar«, wehrte sie seinen Widerspruch ab. »Hätten Sie im Mittelalter einen Menschen in einen Kernspintomographen geschoben, um einen Kranken zu untersuchen, wären Sie als Hexer verbrannt anstatt als Arzt gefeiert worden.« Grinsend fügte sie hinzu: »Dämonenwerk, hätte man es genannt. Ich wette, in hundert Jahren sind Dinge messbar, von denen wir beide nicht mal etwas ahnen. Denken Sie an die Dunkle Materie.«
Eric konnte nachvollziehen, was sie meinte. »Seele als Energieform. Woher kommt sie?«
»Sie gehört zum Leben und ist einfach da. Wie das Universum.«
Eric lachte. »Damit machen Sie es sich sehr einfach.«
»Manchmal ist das Einfache die Wahrheit. Atome und kleinere Teilchen existieren ebenfalls, angeblich aufgrund des Urknalls. Aber wer sagt, dass es wirklich so war? Manche Beweise werden wir erst in etlichen Dekaden erbringen können. Bis dahin sehen wir es als gesichert, dass es so ist. Es gibt genug Indizien.«
»Schön. Aber wie geht das mit dem Körper einher?«
»Seele und Körper stehen in wechselseitiger Beziehung, wobei die Seele dominiert. Sie werden verstehen, dass Veränderungen der Seele, eben jener Energie, auch den jeweiligen Körper verändern.«
Eric zeigte auf die Whiteboards mit den Aufnahmen der beobachteten Menschen. »Das soll ausreichen, um derartige Kräfte und Begierden entstehen zu lassen?«
»Sicherlich. Im Laufe der Lebensjahre wird die Seelenenergie positiv oder negativ geladen, die meisten Kreaturen sind von Geburt an vorgeprägt. Manche sammeln viel Energie, andere geben sie ab oder verlieren sie«, führte sie weiter aus, als säße sie mit ihm bei Tee zusammen. Der Dolch in ihrer Hand schien sie extrem sicher zu machen. »Und plötzlich wird die Seelenenergie zu groß. Manche werden zu strahlenden Wesen, die Sie als Engel bezeichnen würden. Andere mutieren zu dem, was man blumig Vampire und Ausgeburten des Bösen nennen könnte. Sie werden aggressiv, niederträchtig, abgründig.«
Eric hörte zum ersten Mal von dieser ungewöhnlichen These. »Wie wird eine Seele Ihrer Meinung nach derart mächtig?«
»Das kann viele Auslöser haben. Meistens ist es Energie, die sich in der Seele anstaut und nicht genutzt wird. Sie sucht sich unkontrolliert ihren Weg. Diese Eruption geht bei schwachen Menschen oftmals mit psychischen Schäden einher, und je nach Vorprägung und Veranlagung des Menschen entstehen Bestien oder Engel, um es platt zu sagen.« Die Unbekannte schulterte die Waffe spielerisch. »Habe ich Sie überzeugt?«
Allerhöchstens ein bisschen. »Funktioniert das ebenso bei Tieren?« Eric dachte an den Wer-Menschen, den er getroffen hatte.
Die Unbekannte nickte. »Warum sollten sie keine Seele haben?«
»Damit kämen Sie bei manchen Religionen nicht durch.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich sagte bereits, dass Religionen Unsinn sind.«
»Gut, Sie überwachen die Länder, fahnden nach gewandelten Seelen …«
»Nur nach den gefährlichen. Die guten lassen wir ihre Arbeit tun. Sie haben es schwer genug, die Welt besser zu machen. Und unsere Erklärungen könnten sie verwirren und vom Handeln abhalten.«
Eric lehnte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Aber mir fehlt der Grund, warum Sie diese gefährlichen Menschen nicht umbringen. Weil Sie in Ihrem Kern Menschen sind?«
»Bitten Sie mich gerade, etwas mehr auszuholen? Heißt das, dass Sie mir glauben?«
»Wenn Sie wollen, dass ich mich Ihnen kampflos ergebe, will ich was geboten bekommen.«
Sie lächelte schwach und überlegte. »Mit jeder Geburt wird ein kleiner Teil aus der Masse der Seelenenergie geschöpft und in die neue Hülle gegeben. Nach dem Tod kehrt diese Seele in die Urmasse zurück und löst sich darin auf, bringt allerdings alles an Erfahrung, an Gutem und Schlechtem mit ein.« Wieder schwenkte die Waffe auf Eric. »Haben Sie begriffen?«
»Alles geht in diesen Topf ein«, folgerte er aus ihrer Erklärung. »Auch das Böse.«
Jetzt gab es ein belohnendes Lächeln. »Und wenn wir es nicht umbringen?«, sagte sie mit einem lehrerhaften Ton, als wollte sie einem begriffsstutzigen Schüler helfen, selbst auf die Lösung zu kommen.
»Verunreinigt es nicht die Ausgangsmasse und damit auch nicht die kommenden Leben.«
»Ah, Sie haben es begriffen.« Sie blickte auf die Uhr. Eric schätzte, dass sie kontrollierte, wann ihre Mitstreiter erschienen. Noch war es im Haus ruhig. »Es geht darum, die Gefahr abzuwenden. Solange wir noch keinen Weg gefunden haben, die Seelen zu reinigen, die Energie neutral zu laden, halten wir das Negative zurück. Wir sorgen für bessere Menschen, indem wir die positive Prägung stärken. Das Negative ist schon seit mehr als hundert Jahren auf dem Vormarsch. Jemand muss für die Ausgeglichenheit sorgen.«
»Enthalten Sie dem Pool nicht Nachschub?«
»Es sind kleine Mengen, die wir zurückhalten, im Vergleich zu den Tausenden Toten täglich«, konterte sie. »Aber das Potenzial einer zurückkehrenden bösen Seele wirkt giftig.«
»Und umgekehrt werfen Sie mir vor, alles zum Schlechten zu verändern, indem ich die Bestien töte, deren negative Ladung in die Masse sende und zum Schlechten verändere.« Eric musste gestehen, dass es sich durchaus schlüssig anhörte – sofern man den Ansatz akzeptierte, dass die Seele Energie sei und sich bei der Rückkehr in den Pool brav vermischte. Und wenn sie sich nicht vermengen? Wenn es für gut, schlecht und neutral eigene Töpfe gibt?
»Wegsperren ist besser als Exekution.« Sie erhob sich. »Das Gleiche machen wir auch mit Ihnen. Es wird Ihnen gut ergehen.«
Eric erhob sich ebenfalls. Zwar hatte er noch viele Fragen, doch er sah ihr an, dass sie nicht mehr erzählen würde. Allerhöchstens durch die Gegensprechanlage einer Zelle. »Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie.«
»Ich konnte Sie nicht überzeugen?«
»Nein. Und ich muss sämtliche Informationen aus der Einrichtung mitnehmen, die nützlich sind.« Eric bereitete sich sowohl auf einen eigenen als auch ihren Angriff vor.
»Ohne Piloten kommen Sie nicht weg von hier.«
»Sie haben ihn nicht umgebracht. Sie gehören doch zu den Guten«, hielt er dagegen. »Ich finde ihn bestimmt, wenn ich lange genug suche.«
Sie hielt den Dolch mit einer Hand senkrecht und richtete die breite Seite auf Eric. »Es wird nicht weh tun«, versprach sie. »Ihre Seelenkräfte werden Ihnen nichts nützen.«
Seelenkräfte. Hört sich viel schöner an als Fluch. Eric wollte sehen, ob sie bluffte – oder wollte es der Dämon?
Die nächste Hitzewelle ließ das Wesen hervorbrechen, das sich in kleine Flämmchen hüllte und Erics Äußeres zum Monströsen verwandelte. Er preschte los, einen Arm nach vorne gereckt, um die Waffe der Gegnerin an sich zu reißen.
Gleichzeitig umspielte ein warmgoldenes Licht die Klinge.
Honigfarben umhüllte ihn die Energie wie im Salle Blanche, und schon drang der Geruch von Tannenwald in seine Nase. Abrupt bewegte er sich zäh, wie in Harz gegossen; das unheilige blaue Feuer, das aus seinen Poren drang, waberte erstickend und erlosch.
Eric bekam keine Luft und vermochte nicht einmal, eine Lohe gegen seine Feindin zu senden. Er steckte gefangen in dem Geruch, umhüllt von Bernsteinlicht und unfähig, etwas zu hören oder zu sagen. Vor die Welt schien sich ein gewaltiger Glasbaustein geschoben zu haben, der die Sicht verzerrte.
Die Kraft wich aus seinen Gliedmaßen, der Hass verebbte, und der Dämon schwand von Herzschlag zu Herzschlag. Dieses Mal wussten sie ihn aufzuhalten.
Kurz vor der Ohnmacht löste sich sein Gefängnis auf.
Das ist unglaublich. Eric sackte auf die Knie, rang keuchend nach Atem und schaute zur Unbekannten – die hektisch auf einem Tablet herumdrückte und sich nicht mehr um ihn kümmerte. Hatte er zuerst geglaubt, der Sauerstoffmangel verdunkele seine Sicht, bemerkte er nun, dass das Licht im Raum erloschen war.
»Es kann sein«, raunte sie heiser, »dass wir Ihre Seelenkräfte doch noch brauchen.«
»Wie das?«, krächzte er.
»Damit wir überleben.« Sie fluchte und steckte das Tablet in die kleine Tasche zurück. »Wir müssen gehen.«
Eric kam mit dem Wechsel der Lage nicht zurecht, sein Hirn arbeitete nur halb so schnell. »Wollten Sie mich nicht eben noch einsperren?«
»Sehen Sie aus dem Fenster«, sprach sie grimmig.
Eric erhob sich und blickte durch den Spalt im Vorhang auf den Hof, der im Sonnenuntergang lag.
Aus den beiden Seitengebäuden kamen Gestalten gelaufen.
Sehr viele Gestalten.
Die verschiedensten Wandler, einige Vampire, Menschen, die im Rennen zu unaussprechlichen Kreaturen wurden und sich sofort auf Umstehende stürzten. Keiner von ihnen dachte ans Entkommen, sie warfen sich unverzüglich in den Kampf, als folgten sie einem lautlosen Befehl, alles zu attackieren, was ihnen begegnete.
Eric verstand, wozu die großen Bauwerke gedacht waren: Hier haben sie ihre Gefangenen aufbewahrt.
Aber aus irgendeinem Grund hielten die Zellen nicht länger stand.
Eric hörte auf zu zählen. Die ersten Kreaturen lagen bereits in Stücke zerfetzt und aufgeschlitzt auf dem Boden. Versprühtes Blut tränkte den Schnee und den Untergrund, das Rot spritzte meterweit, aufgebrochene Leiber dampften, die Wärme erzeugte weiße Schlieren, die sich in Luft auflösten.
Eine Wer-Löwin und ein Wer-Grizzly, die ihre Widersacher in Sekunden mit Bissen und Klauenhieben ausgeschaltet hatten, drehten die Bestienköpfe zum Haupthaus und witterten.
Die vom Blut feuchten Schnauzen öffneten sich, ein lautes Brüllen erklang. Die Lefzen zogen sich zurück, die langen Zähne wurden sichtbar, während rote Tröpfchen und Speichelfäden zäh vom Fell rannen.
Eric kannte diesen Hass, der sich entladen wollte. Sie wussten genau, wo ihre Wärter saßen. Dass er nicht zu ihnen gehörte, würde die buchstäblich entfesselten Wandler nicht kümmern.
Eine nackte, ältere Frau mit wirren, langen Haaren trat majestätisch aus dem rechten Gebäude und blickte direkt zum Fenster, hinter dem Eric stand. Keines der Wesen wagte es, sie zu attackieren. Sie lächelte und zeigte ihm ihre Vampirfänge wie zum Versprechen.
Eric durchzuckte es. Eine Gier stellte sich von einer Sekunde auf die nächste ein, die er bislang nur bei Sia verspürt hatte.
Das Gefühl war eine fatale Mischung aus dem Drang nach körperlicher Vereinigung und der vollkommenen Auslöschung des Gegenübers, zu der es keine Alternative gab. Das war umso grausamer, wenn man diese Person liebte. Doch das kümmerte die verfeindeten Dämonen nicht, die ihre Soldaten ins Feld schickten, um sich stellvertretend zu bekriegen.
Eric war verwirrt, während sich das Böse in ihm entzündete wie ein mit Gas gefüllter Raum an einem kleinen Funken. Seine Augen blieben auf die rotgelockte Vampirin gerichtet, die regungslos zu ihm hinaufstarrte. Sie fühlt meine Anwesenheit. Botis und Avnas drängen zum Zweikampf. Oder … ist es einfach nur Instinkt? Eine Seelenreaktion?
»Stehen Sie mir bei?«, hörte er die Unbekannte hinter sich sagen. »Wir müssen es bis zum Hubschrauber schaffen. Ich kann ihn fliegen.«
»Aber natürlich. Ladys first.« Eric wandte sich blitzschnell um und packte sie am Kragenaufschlag des Kostüms.
Ehe sie reagieren konnte, warf er sie in hohem Bogen durch das geschlossene Fenster hinaus.
* * *