Kapitel XVII

Deutschland, Sachsen-Anhalt, Halle (Saale)

Der rauchende Lauf schwenkte herum.

Nein! Claire stieß einen hohen, langen Schrei gegen die Vermummte aus, noch bevor die Mündung auf den Schädel zeigte; ihrer Tochter hielt sie die Ohren zum Schutz gegen die Wirkung zu.

Sämtliches Porzellan in der Küche barst klirrend, innerhalb eines Wimpernschlags zeigten sich Risse in jedem Stück Glas.

Die Energie, die der Attacke innewohnte, schien zuzunehmen: Die Angreiferin wurde von ihr erfasst und zusammen mit dem Türrahmen in den Flur geschleudert, fluchend stürzte sie nieder.

Das versuchst du nie wieder! Sofort sprang Claire auf die Beine und folgte der Maskierten, die sich eben von den Trümmern befreite. Die schwere Halbautomatik mit dem langen Schalldämpfer lag zwei Meter neben ihr, halb unter den Holzsplittern verborgen.

Aber anstatt danach zu hechten, hob die Unbekannte die Hand.

Ein Flirren wurde sichtbar, das auf den Sturz über Claire zuhielt. Der Einschlag der unsichtbaren Kraft ließ einen Schuttregen auf sie niedergehen.

Umgeben von Bröckchen und Staub, stolperte Claire über die Trümmer vorwärts und griff nach dem flüchtenden Schemen. Wieso hat sie nicht versucht, mich zu treffen? Sollte das diese Yosha sein, von der Fabian sprach?

Sie bekam den Jackensaum zu fassen.

Mit einer geschickten Drehung entledigte sich die Unbekannte des Kleidungsstücks, nutzte den entstehenden Schwung, um Claire einen Tritt gegen das Knie zu verpassen.

Diese wich dem heranschießenden Fuß aus und schlug von oben auf das Kniegelenk der Gegnerin, ohne dass sie über die Bewegungen nachdenken musste. Es knackte.

Die Maskierte schrie auf und sandte ein weiteres Flirren, das sich aufspaltete und sowohl in die Decke als auch in die Wand rechts von Claire fuhr.

Erneut hagelten Putz und Staub auf sie, raubten ihr die Sicht. Sie will mich nicht umbringen. Warum?

Hustend und fast blind von den Schmutzschleiern behielt sie die Verfolgung bei. Dabei hob sie die Pistole auf und rutschte auf einem kleinen runden Gegenstand aus, der klackend unter ihrer Sohle davonrollte und in der Ecke zum Erliegen kam.

Die Angreiferin rannte zur Tür hinaus.

Wo steckt Fabian? Claire verließ ebenfalls das Haus und gab einen Schuss ab, der die Frau verfehlte. »Halt!«

Erneut entfaltete ihre Stimme ungewollte Effekte. Ein schnurgerader Riss jagte als Manifestation der freigesetzten Kraft durch den Boden, spaltete die Gehwegplatten und hielt auf die Flüchtende zu.

Die Energie holte die Maskierte von den Beinen, bevor sie die Gartenpforte erreicht hatte. Sie wurde seitlich in die Rabatten geschleudert und stieß einen lauten Fluch aus, wandte sich um und stemmte sich wieder auf die Beine.

»Wer sind Sie? Wer schickt Sie?« Claire näherte sich ihr und hob die Mündung.

Die Unbekannte starrte sie feindselig an. Unschlüssig sah sie dann auf die Waffe.

»Wer?« Claire zog den Schlagbolzen nach hinten, und nach einer Sekunde des Wartens drückte sie zu ihrer eigenen Überraschung ab.

Die Kugel verließ den Lauf mit einem gedämpften Knall und jagte der Maskierten durch den Oberschenkel. Sie schrie auf; zeitgleich flirrte die Luft vor ihr, und eine wabernde Wand jagte heran.

Claire wurde wie von einem unsichtbaren Schieber erfasst und nach hinten gedrückt. Hätte sich nicht zufällig die offene Haustür dort befunden, wäre sie an der Wand zerquetscht worden. Nochmals rutschte sie auf der kleinen grauen Kugel aus, der es Spaß zu bereiten schien, sie in Bedrängnis zu bringen.

»Mir egal, dass sie dich brauchen«, schleuderte ihr die Unbekannte hinterher. »Dem erus wird es recht sein. Alles hat ein Ende. Auch deine Seele, Claire Riordan!«

Rasche Schritte näherten sich dem Eingang.

Die Frau kehrte zurück auf die Schwelle, hielt eine zweite Pistole in der Hand. »Erst du, dann deine Tochter!« Die Mündung schwenkte hoch.

Claire schoss zuerst und unaufhörlich, verfehlte die abtauchende Gegnerin jedoch um wenige Millimeter. Die Eingangstür litt unter den Einschlägen.

Klick.

Das Geräusch war von der Maskierten gehört worden, sie trat erneut in den Flur, legte an.

Claire warf ihre leere Pistole und traf die Frau im Gesicht. Dumpf schlug das Metall gegen den Schädel, Blut spritzte, und ein Teil des Nylonstrumpfs platzte weg, so dass ihre Züge zum Vorschein kamen.

Claire nutzte die Verwirrung der Feindin und ging mit einem Satz in den Nahkampf. Sie schlug zu und zielte dabei auf die Körpermitte.

Mitten in der Hiebbewegung überfiel sie die Erkenntnis. Das ist die Frau, die mich überfahren hat! Claire sah ihre eigene Todesszene genau vor sich, in der die zierliche Unbekannte hinterm Steuer des Geländewagens saß und sie mit dem Rammschutz aufgabelte. Absichtlich. Heißer Hass durchströmte sie.

Die Gegnerin schaffte es nicht, der Attacke auszuweichen, und bekam die Faust mit Präzision auf den Solarplexus.

Erneut gab es eine Entladung, wie sie Claire zuvor bei Haider und Dubois gesehen hatte.

Eine leuchtende Sphäre umschloss die Getroffene, die einen grässlichen Schrei ausstieß und zuckend zusammenbrach. Das Krampfen endete nicht, als würde sie einen epileptischen Anfall erleiden. Die Augen waren aufgerissen, das Gesicht vor Schmerz und Angst verzerrt.

»Frau von Bechstein!« Fabian tauchte am Eingang auf, eine Pistole in der Rechten. Er kam näher, die Mündung auf die Unbekannte gerichtet, und sah zwischen der Besiegten und Claire hin und her.

Claire keuchte, ihre Fingerknöchel brannten und schienen innerlich zu glühen. »Mir geht es gut«, sagte sie und beobachtete die Frau, die in Spasmen auf dem Boden lag. »Ist das diese Yosha, die Sie erwähnten?«

Das Licht im Haus flackerte, und mit einem letzten Stöhnen lag die Frau plötzlich still.

»Nein. Das ist sie nicht. Aber bleiben Sie weg von ihr.« Fabian beugte sich nach vorne und prüfte behutsam den Puls an der Halsschlagader. Er betrachtete Claire mit einer Mischung aus Entsetzen und Ehrfurcht. »Tot. Was … wie haben Sie das gemacht?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich muss nach meiner Schwester sehen.« Sie eilte in die Küche, wo sich Deborah bereits um ihre Tante kümmerte.

Nicola saß schon wieder auf dem Stuhl. Der Schuss war ganz knapp über die Schulter gerutscht und hatte lediglich einen Kratzer hinterlassen.

Claire fühlte eine immense Erleichterung. »Es tut mir leid«, sagte sie.

»Es tut dir leid? Du hast uns das Leben gerettet«, erwiderte ihre Schwester, die noch recht bleich um die Nase war.

Deborah nickte ihr zu, während sie ein Küchentuch nahm und auf die Wunde drückte.

Fabian kam zu ihnen, Claire stellte ihn als ihren Leibwächter vor. Er besah sich die Verletzung und erbat sich klaren Schnaps, um sie zu spülen, und danach ein Erste-Hilfe-Set für einen Verband. »Ich weiß, es klingt rustikal«, sagte er grinsend. »Sie können das Zeug auch trinken, und ich nehme das Jod.«

Widerwillig ließ Nicola den Mann näher an sich heran.

Fabian legte die kleine graue Kugel auf den Tisch. »Die lag draußen, und …«

»Das ist nicht meine.« Deborah starrte den Fund an. »Ich habe meine Kugel ins Grab geworfen.«

»Deine Kugel?« Claire warf ihr einen Blick zu. »Wieso hattest du eine?«

Rasch erklärte Deborah, unter welchen Umständen sie ihre gefunden hatte: am Ort des Mordes an ihren Eltern. »Vielleicht war sie einer der Mörder?« Sie ging hinaus, um nach der Toten zu sehen, bevor Claire sie hindern konnte. Kaum war sie im Flur, erklang ihr leiser Schrei. »Die Augen! Ihre Augen sind …«

Alle eilten hinaus in den Korridor, wo Deborah langsam vor der Leiche zurückwich, deren Augäpfel sich weiß gefärbt hatten. Weder gab es Iris noch Pupille.

»Sie war auf der Beerdigung«, stieß Nicola überrascht beim Anblick der Leiche aus.

»Die Freundin des Geistes«, wisperte Deborah und schlang die Arme um sich. »Er hat sie zu uns geschickt!«

Claire sah zu Fabian, der mit einer Geste deutlich machte, dass er nichts verstand. »Beruhige dich, Kleeblättchen«, sagte sie abwesend und legte ihr eine Hand auf den Schopf. »Es gibt keine Geister.« Sie musterte die Tote, die paradoxerweise durch ihr eigenes Opfer ums Leben gebracht worden war. Nachträglich.

Fabian bückte sich und entfernte den Nylonstrumpf vom Kopf, braunes Haar kam zum Vorschein.

Claire war sich zu hundert Prozent sicher, die Fahrerin des Todeswagens vor sich zu haben.

»Er ist ein Geist. Er ist der derjenige, der unsere Familie verfolgt«, erwiderte Deborah überzeugt. Ungeschickt wühlte sie in ihrer Bademanteltasche und zog das Smartphone heraus, wies ihr die geschossenen Bilder von der Beerdigung. »Der ist es!«

Der Anblick des Grabes, der Menschen, der Särge versetzte Claire einen Stich mitten ins Herz, den sie ganz deutlich fühlte.

Das Unwiderrufliche wurde überdeutlich: Die bekannte Hülle war verloren, ihr Mann war verloren, ihr altes Leben ebenso. Sie konnte sich noch so sehr in Nicolas und Deborahs Nähe aufhalten, ihnen die Wahrheit gesagt haben – und doch hatte sich alles verändert.

Schwäche befiel Claire. Sie spürte einen unangenehmen Druck im Brustkorb, der ihre Lunge zusammenzupressen schien. Schwindel packte sie, sie musste sich an der beschädigten Wand anlehnen, ihr Mantel bekam zahlreiche weiße Schmutzflecken. Das Fokussieren fiel ihr schwer.

Nicht ohnmächtig werden. Sie starrte angestrengt wie eine Betrunkene auf das kleine Display und brauchte lange, bis sie etwas erkannte. Nein, bis sie jemanden am Rand der Beerdigung unter einer Birke entdeckte: Taronow. Er und die Unbekannte, die als Leichnam zu ihren Füßen lag.

»Wo soll jetzt der Geist sein?«, fragte Claire mit belegter Stimme.

»Na, er!« Deborah deutete auf den Seelenwanderer. »Er kam zu uns und kondolierte, aber er … hatte etwas an sich, eine Ausstrahlung von Macht und tiefer Freude, die einfach nicht passte«, erklärte sie viel zu rasch und schwer verständlich. »Niemand sonst freute sich, dass Mom … dass du und Dad gestorben wart. Niemand. Nur er. Er spielte den Betroffenen, aber der Triumph schoss aus seinen Augen, aus seinen Blicken, aus seiner Haltung.« Sie bebte vor Aufregung.

Claire schloss sie beruhigend in die Arme und suchte gedanklich nach einem Zusammenhang zwischen den Geschehnissen. Ich bin Taronow vor einigen Tagen zum ersten Mal begegnet, und auch Finn erzählte nichts, was auf eine Bekanntschaft zwischen ihm und dem Seelenwanderer hindeutet. Es gab keinen Zusammenhang. Oder spielt Fabian Spielchen?

Er sah auf die Uhr. »Was machen wir mit der Toten?«

»Keinesfalls die Polizei«, antwortete Claire, bevor jemand etwas erwiderte. Sie deutete auf den ramponierten Eingang zur Küche und die zerstörten Fenster. »Ich besorge Handwerker, die das Chaos beseitigen, und niemand wird etwas von dem Anschlag erfahren.«

Nicola runzelte die Stirn. »Warum keine Polizei?«

»Geht ins Wohnzimmer. Wir müssen gemeinsam überlegen«, verkündete Claire behutsam, da sie am Gesicht ihrer an sich resoluten Schwester ablas, dass diese vieles sagen und fragen wollte. Ich verstehe es gut. Das Herz raste in ihrer Brust. Taronow war nicht länger ein Verbündeter, sondern zu einem größeren Feind geworden als Dubois.

Tante und Nichte sahen sich an und gingen voraus.

»Kennen Sie die Angreiferin?«, flüsterte Claire Fabian zu.

Er schüttelte zweifelnd den Kopf und hielt seinen Blick auf die weißen Augen der Toten gerichtet. »Yosha ist es nicht. Und mit Taronows necessarii hatte ich nichts zu tun.«

»Was halten Sie von den veränderten Augen?«

»Es wird mit Ihrer Kraft zu tun haben.« Er setzte zu einem weiteren Satz an, verstummte jedoch. »Das sehe ich zum ersten Mal«, erwiderte er zögerlich.

Claire legte sich einen Plan zurecht. »Gut. Dann beseitigen Sie die Leiche, bitte. Und informieren Sie Stahl und Hochschmidt von der neuen Entwicklung.«

Fabian schürzte die Lippen. Seine Gedanken schienen einen anderen Weg zu gehen. »Ist das eine gute Idee?«

»Nun … was soll ich gegen Taronow ausrichten?«

»Spielen Sie das Spiel weiter wie bisher«, riet Fabian. »Ich versuche heimlich herauszufinden, was Taronow antreibt, gegen Ihre Familie vorzugehen.«

Claire drehte sich um und folgte ihrer Schwester und Tochter ins Wohnzimmer. »So machen wir es.« Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, und er zwinkerte.

Claire setzte sich Deborah und Nicola gegenüber auf den Stuhl und atmete tief ein, faltete die Hände zusammen, um sich selbst Halt zu geben. Nun müsste sie ihren Lieben erklären, was ihr genau zugestoßen war, und das, obwohl sie es selbst kaum verarbeitet hatte.

Gleichzeitig fühlte sie die aufkommende Erleichterung, vielleicht den Hafen zu haben, die Menschen zu haben, mit denen sie sich besprechen konnte, von denen sie Rat bekam und die sie liebten, trotz des veränderten Äußeren. Ich hoffe, das ist so.

Claire würgte den Speichel die Kehle hinab, der plötzlich aus zähfließendem Kleber zu bestehen schien und sich an ihrem Hals festsaugte.

Nicola hob unerwartet den unverletzten Arm. »Bevor du anfängst«, sagte sie und erhob sich. Sie nahm zuerst einhändig drei Gläser aus dem Schrank und holte danach die gute Flasche Whiskey und goss reichlich ein. »Slainté

Die drei Frauen griffen zu, prosteten und tranken einen ordentlichen Schluck, denn es würde ein sehr langer Vormittag werden. Da durfte man reichlich vom Uisce beatha trinken. Wasser des Lebenswie passend, dachte Claire und spürte den milden, aromatischen Geschmack am Gaumen.

 

Weit nach dreizehn Uhr fuhr Fabian Claire zum Bechstein-Anwesen zurück. Ständig prüfte sie ihr Make-up, das sie ausnahmsweise aufgelegt hatte, um die gröbsten Spuren des Heulens zu überdecken, und kaute zehn kleine Pfefferminzpastillen, um gegen den Whiskeydunst aus ihrem Mund anzugehen.

»Ihnen hat Ihre Familie sehr gefehlt«, konstatierte er.

»Es sind meine Schwester und mein Kind. Ich hätte niemals ohne sie leben können«, erwiderte sie offen. Gleich würde sie zu Lene werden müssen, und falls Eugen bemerkte, dass sie getrunken hatte, würde sie es mit Kummer erklären. »Ich fühle mich viel sicherer.« Sie atmete befreit durch. »Und jetzt würde ich gerne mehr von Ihnen hören.«

»Von mir?«

»Die Andeutungen, die Sie über Ihre Verbündeten machten, um den Einfluss der Seelenwanderer auf die Menschheit zu reduzieren.« Claire genoss die Vorzüge der Sitzheizung, aber die Wärme machte sie schläfrig. Sie benötigte Konzentration. Als Kompromiss ließ sie das Fenster runterfahren. »Was haben Sie vor, und wer hilft Ihnen dabei?«

Fabian schürzte wieder die Lippen. »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, Ihnen davon zu erzählen.«

Verwundert wandte sie sich zu ihm um. »Aber ich habe mich mit meiner Familie besprochen, um zu einer Entscheidung zu kommen.«

Er grinste. »Das höre ich mir gerne an. Wie hat der Familienrat entschieden?«

»Dass wir weitermachen«, erwiderte sie beschwingt, der Whiskey wirkte nach wie vor. Claire war froh gewesen, Tochter und Schwester von ihrer wahren Identität überzeugt zu haben; danach hatte das Organisations- und Planungs-Gen der Familie eingesetzt.

Nicola und Deborah hatten sie ermuntert, weiterhin mit dem Triumvirat zusammenzuarbeiten und eine Erklärung zu verlangen, warum der alte Seelenwanderer nach dem Tod der Familien Wensler, Wilmers und Riordan trachtete.

»Sie hatten recht«, sagte Claire zu Fabian. »Taronows Vorgehen und diese ganze Verlogenheit zeigten mir, wie wichtig es ist, die Seelenwanderer aufzuhalten. So viel Leid, ausgelöst von ihnen.« Sie warf die Hände in die Luft. »Nicht zuletzt auch mein Schicksal und das der armen Lene von Bechstein.«

»Denken Sie nicht zu pauschal?«

Claire lachte auf. »Sie wollten mich doch bei Ihrer Sache dabeihaben!«

»Ich versuche, des Teufels Advokat zu sein, um Sie zu prüfen«, erwiderte er verschmitzt. »Also: Wenn nun nette Exemplare unter ihnen sind? Angenommen, einer von denen hat das einende Potenzial eines zweiten Gandhi? Oder gar die Fertigkeiten von Jesus – würden Sie ihn umbringen?«

Claire sah nach vorne auf die Straße und grübelte. Darüber haben wir natürlich nicht gesprochen. Sie ärgerte sich, dass er eine Lücke in ihre Vorsatzwand geschlagen hatte. Ausgerechnet er, der sie anwerben wollte. »Wissen Sie, was ich denke?«

»Diese Gabe besitze ich nicht«, erwiderte er grinsend.

»Das mag egoistisch klingen, aber vorerst betrachte ich es als persönliche Sache«, entschied sie. »Ich bin sicher, es ging Stahl, Taronow und Hochschmidt niemals darum, die Menschen vor dieser Formel zu schützen, sondern einzig darum, das Mittel herstellen zu können, bevor es Dubois tut.«

»Ist bei dieser Einschätzung der gute irische Whiskey noch im Spiel?«

Sie überhörte sein Necken. »Diese Formel ist der Garant für einen schnellen Wechsel des Seelenwanderers in einen beliebigen Menschen, ohne lange Vorbereitung. Das können die Guten doch sicherlich ebenso sehr gebrauchen wie die Bösen. Habe ich recht?« Claire suchte ein Taschentuch in den Ablagen, ihre Nase lief wegen des kalten Winds. »Und Sie sagten, dass das Elysium im Grunde den gleichen Zweck verfolgt.«

»Elysium?«

»Das Hospiz.« Sie runzelte die Stirn und putzte sich die Nase. »Den schnelleren Wechsel.«

»Ach so. Genau. Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken.« Die Zufahrt zum Anwesen erschien, Fabian setzte den Blinker. »Was werden Sie also tun?«

»Ich gehe morgen ins Hospiz und rede mit dem Triumvirat.«

»Und geben Sie denen die Formel?«

Claire hob die Augenbrauen. »Sie haben den zweiten Teil doch verbrannt und den USB-Stick zerstampft. Mit meinem Teil alleine kommt man nicht weit.«

»Das stimmt.« Fabian steuerte die Kiesauffahrt hinauf. »Es hätte aber sein können, dass Sie sich erinnern.«

Claire schnaubte. »Dann hätte ich ja ein …« Während sie sprach, entstanden die Formeln vor ihrem inneren Auge: der Teil, den Anastasia entwickelte – und zu ihrem Erschrecken auch die Kolonnen, die auf Dubois’ Konto gingen.

Nein! Nein, ich will das nicht wissen! Sie musste sich beherrschen, damit Fabian nichts merkte. Auch wenn er vertrauenswürdig war, auch wenn er gegen die Seelenwanderer vorgehen wollte, musste sie sich klarmachen, dass das brandgefährliche Serum für ihn vielleicht auch von Interesse war. Es stellte eine starke Versuchung dar.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, ich dachte nur daran, dass ich einkaufen wollte. Um Pfannkuchen mit den Kindern zu machen«, überspielte Claire das Erschrecken und zeigte auf die Villa. »Heute gehöre ich meinen … Charlene und Pauline.«

Der Countryman blieb vor dem Eingang in die Villa stehen.

»Was haben Sie mit der Leiche gemacht?« Claire sah ihn an.

»Nicht im Garten vergraben«, gab er zurück und lachte. »Was Sie nicht wissen, belastet Sie auch nicht.« Er zeigte zur Tür. »Sie werden erwartet. Morgen um neun Uhr, Frau von Bechstein?«

Claire nickte und stieg aus.

 

Er blickte ihr nachdenklich hinterher. Die Frau sah schmal und zerbrechlich aus, die Hülle hatte nichts mit dem Körper von Claire Riordan gemein.

Er musste zugeben, dass er sich nach der Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, zu dieser Lene von Bechstein hingezogen fühlte. Umso mehr ärgerte er sich, beim Angriff von Tatjanna zu spät gekommen zu sein. Sie hatte sich gekonnt an ihm vorbeigeschlichen. Es hätte schlimm enden können.

Langsam ließ er den Mini anrollen und lenkte ihn die Auffahrt hinab, um Lausen zu verlassen.

Er bewunderte Claires Stärke, und das bezog er nicht auf ihre vielfältigen Gaben.

Aber wie war es ihr so rasch gelungen, mehr als eine Gabe zu entwickeln?

Und was hatte Taronow gegen die Familie?

Ich würde ihre Geheimnisse gerne ergründen. Er wünschte sich, länger in ihrer Nähe sein zu können, nicht nur als scheinbarer Leibwächter. Rund um die Uhr.

Allen Ernstes spielte er mit dem Gedanken, die alte Gefolgschaft zu kündigen und ihr neuer necessarius zu werden. Claire war allein, sie besaß keine necessarii. Es war ein Wunder, dass sie kurz nach ihrer Seelenwanderung ihre enormen Prüfungen bewältigt hatte. Da sie mehr Gaben besaß als er, stand sie über ihm.

Ob sie mich als Vertrauten annehmen wird? Geschähe das nicht, wäre er ein profugus, ein Verbannter mit gravierenden Folgen: Man würde sich vorrangig um seine Beseitigung kümmern.

Noch hatte er nicht alle von Claires Geheimnissen gelüftet, doch das war nur eine Frage der Zeit und seiner Auffassungsgabe. Bislang lief es gut.

Das Handydisplay leuchtete auf. Es wurde nur ein Symbol anstelle eines Namens angezeigt.

Neue Informationen? Via Bluetooth koppelte er das Smartphone mit der Freisprechanlage, zögernd nahm er den Anruf an. »Vacinsky.«

»Guten Tag, Teukros«, meldete sich eine Frauenstimme. »Gibt es was Neues?«

»Nein«, erwiderte er zögerlich. Die genauen Vorkommnisse gingen die Frau nichts an. »Sie ist wieder im Bechstein-Haus.«

»Gut. Ich habe in der Zwischenzeit versucht, etwas über multiple Kräfte nach nur einer Seelenwanderung herauszufinden, aber in unseren Aufzeichnungen gibt es dazu nichts«, erklärte sie. »Das bedeutet, dass sie entweder lügt und eine versierte Seelenwanderin ist …«

»Nein«, erwiderte er lachend. »Oh, nein, das würde man merken.«

»Dann wäre Claire Riordan eine Anomalie, wie wir es schon vermuteten, ausgelöst durch das Trauma, das ihr Tod und der ihres Mannes bei ihr auslöste, oder durch die Berührung beim Wettrennen mit der anderen Seele um den Körper«, führte die Frau ihre Gedanken zu Ende. »Das macht sie umso wertvoller für uns: Wer weiß, was sie noch alles vermag und erst noch zum Vorschein kommt?«

»Das bedeutet, sie könnte noch mehr Gaben besitzen?« Er fuhr die Friedrich-Ebert-Straße entlang und lenkte den Wagen von dort zum Hotel am Augustusplatz, wo er abgestiegen war.

»Auszuschließen ist es nicht. Bei einer Anomalie gibt es keine Regeln.«

Warum sollte ich den Kontakt nicht nutzen? »Ah, eine Sache noch, die vielleicht weiterhilft. Es gab einen Vorfall mit einem Räuber und ihr«, beließ er es bei der Andeutung. »Bei der kurzen Schlägerei ging der Mann zu Boden. Danach hatten sich seine Augen verändert und waren komplett weiß geworden. Können Sie mir dazu was sagen?«

»Spontan nein. Was geschah mit dem Mann?«

»Er ist tot. Aber nicht durch die Schlagwirkung. Ich tippe auf eine weitere Gabe.«

Die Frau atmete laut aus. »Ich schaue nach und melde mich, Teukros.«

»Alles klar. Bis denn. Ich fahre in die Tiefgarage.« Er unterbrach die Verbindung und steuerte den Countryman durch die Einfahrt die Rampe hinunter in das kalte Neonlicht.

Inzwischen ging es nicht mehr um Anastasia und die Formel.

Nicht für ihn.

Es ging um eine Frau, die mächtiger war als jeder Seelenwanderer und jede Seelenwanderin, die er bislang kannte. In einem Schachspiel wäre sie eine Dame deluxe, die sämtliche Fertigkeiten der übrigen Figuren beherrscht und vermutlich noch fliegen konnte.

Und zugleich ahnte Claire nicht, welche Besonderheit sie darstellte.

Ich werde das ändern. Ihm fiel auf, dass sein Vergleich mit der Dame deluxe hinkte. Sie muss sich darüber klarwerden, dass sie mehr sein kann als eine Figur der anderen.

Er parkte den Mini-SUV in der angemieteten Box, sein Blick ging nachdenklich ins Nichts.

Viel besser: Sie könnte den Spieß umkehren und zur unvorhergesehenen Spielerin werden. Man wird sie fürchten. Schwungvoll stieg er aus.

Es wurde Zeit für einen Drink und einen neuen Schlachtplan.

 

* * *

 

Österreich, Wien

Immer, wenn ihn etwas zu sehr beschäftigte und seine Gedanken keine Rast einlegten, kam Gregor Dubois an diesen majestätischen, säulengetragenen Ort der Ruhe, den er mochte, seit er ihn zum ersten Mal gesehen und ehrfürchtig ein Buch aus den meterhohen Nussbaumregalen genommen hatte. Hierher führte eine unscheinbare graue Steintreppe, die nicht vermuten ließ, was sich hinter den großen, dunklen Holztüren eröffnete. Der Anblick bewegte, rührte ihn jedes Mal aufs Neue.

Er stand in der Mitte des hallenähnlichen Gebäudetrakts, wo sich die hohe Decke auf dreißig Metern kuppelförmig aufwölbte und die große Statue von Karl dem Sechsten auf ihn herabschaute. Der barocke Prunksaal der österreichischen Nationalbibliothek war ein Kleinod, das Dubois am liebsten alleine nutzte. Abends, wenn niemand sonst außer ihm hineindurfte. Die Fresken gehörten dann ganz alleine ihm, die alten Bücher, sogar das Licht, das hereinfiel, wurde gefühlt zu seinem unumschränkten Besitz.

Für nahezu jedes historische Bauwerk in Wien besaß Dubois eine Sondernutzungserlaubnis, entweder dank Mäzenatentums oder Einflusses, den er ausreichend besaß. Vom Kunsthistorischen Museum bis zur Kaisergruft, von diversen Kirchen über das Kaiserjuwel Schönbrunn bis zum Narrenturm – Dubois kam zu jeder Tages- und Nachtzeit hinein. Es beugte sich sogar der Deutsche Orden vor ihm, der seine Kirche und Schatzkammer neben dem Stephansdom hatte. Wenn man so wollte, war er der heimliche Kaiser.

Dubois genoss es, in immensen Bauwerken aus dem 18. Jahrhundert zu stehen und die Größe zu spüren, die Vergangenheit und die Mühe, die das Errichten gemacht hatte.

Sein Smartphone war ausgeschaltet, damit ihn niemand nervte, solange er sich in dieser Welt befand.

Er strich an den Bücherregalen vorbei, an deren oberen Bände man nur mit Hilfe einer fahrbaren Leiter gelangte; im zweiten Stock reihten sich viele weitere Werke nebeneinander, so dass der Saal auf 200 000 Bücher kam, aus den Jahren 1501 bis 1850.

Dubois erinnerte sich, wie er die Bibliothek auf der Suche nach Geheimnissen durchforstet hatte. Dieser Wissenshort stellte eine der wertvollsten Büchersammlungen der Welt dar, gut bewacht von Menschen und Kaiserstatuen. Einige Hinweise hatte er gefunden, die ihm bei seiner alchemistischen Suche von Nutzen gewesen waren.

Er ging an eines der großen Regale, und seine Finger fanden den Öffnungsmechanismus, ohne hinzuschauen. Ein Teil schwenkte zurück und erlaubte den Durchgang in ein kleines Zimmerchen, durch dessen Fenster das Abendlicht fiel. Hier bewahrte die Bibliothek weitere Kleinodien auf, in denen er gelegentlich interessiert blätterte.

Heute fand er dort eine frisch eingetroffene Abschrift des nicht häufig zu findenden Korans nach ’Abd Allâh ibn Mas’ûd. Dieser beinhaltete laut beiliegendem Brief 110 anstatt der geläufigen 114 Suren, zeigte eine andere Anordnung und war auf Blattgoldseiten gebannt.

Was die Bibliothek damit wollte, wusste Dubois nicht. Vielleicht für eine Ausstellung zur Buchkunst.

Der Anblick des Goldes erinnerte ihn an die Versuche, die unternommen worden waren, das Edelmetall herzustellen. Auch in Wien.

Dubois wusste noch genau, wie er den Scharlatan Sehfeld hatte ausschalten wollen, aber der Kaiser gab diesem Blender sogar ein eigenes Labor in der Wallnerstraße. Als späte Genugtuung gehörte das Haus heute ihm, und seine Experimente trugen Früchte, ohne Gold entstehen zu lassen.

Ich müsste nach dem Serum sehen. Es sollte fertig destilliert sein. Dubois legte das Buch zurück und verließ die Kammer. Gemütlich schlendernd verließ er den Prunksaal, schritt über den Marmor hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Er ging vorbei an der Augustinerkirche, in deren Georgskapelle Maria Theresias bester Vampirjäger Van Swieten seine Ruhe gefunden hatte – genau gegenüber des Báthory-Hauses, was kein Zufall war.

Dubois eilte durch den 1. Bezirk der Donaustadt und versank trotz des lebhaften Verkehrs der Gegenwart in Erinnerungen. Wie Mesmer seine magnetischen Experimente abgehalten hatte; wie er im Palais Lobkowitz mit dem Grafen von Saint Germain über Alchemie gefachsimpelt hatte; wie sehr er mit dem Grafen Cobenzl und später mit Freiherr von Reichenbach wegen der Od- Strahlung gestritten hatte. Wien war und blieb ein sehr mystischer Ort.

Ich habe sie alle überlebt. Er schwenkte in die Wallnerstraße und näherte sich der Hausnummer drei, die er gekauft und die Mieter nach und nach rausgeschmissen hatte. Glaube ich zumindest.

Nicht immer erkannten sich Seelenwanderer. Es gab einige, die spürten, wen oder was sie vor sich hatten, mit einem Blick, einer Berührung oder über große Distanz. Andere verrieten sich durch ihre Gaben oder Taten oder die Aura.

Lächelnd entsperrte er die Tür zum Hof und trat ein. Wie hatten sie Saint Germain gleich genannt? Der Mann, der niemals stirbt und alles weiß. Er begab sich an die schmucklose Tür, die zu einem scheinbar leeren Raum führte. Ich bin ihm dicht auf den Fersen.

Durch einen Geheimdurchgang sowie zwei Schleusen, die mit Zahlencodes abgesichert waren, ging er abwärts in den Keller.

Hier stand Dubois’ eigenes Labor, kleiner und bescheidener als das im 5. Bezirk, wo Haider in den alten Gewölben des Siechenhauses am Klagbaum geforscht hatte. Auf dem Metalltisch stapelten sich die Gerätschaften, die er für die alchemistischen Herstellungsprozesse benötigte und die in den vergangenen Stunden auf Hochtouren gelaufen waren.

Die große Sanduhr neben der mannshohen kupfernen Brennbirne war beinahe durchgelaufen.

Dann kann es losgehen. Als das letzte Körnchen herabgerieselt war, drehte er den kleinen Auslasshahn am unteren Ende auf. Nun würde sich zeigen, ob er trotz der hohen Geschwindigkeit beste Arbeit geliefert hatte.

Anstelle der brauntrüben Flüssigkeit, mit welcher der Prozess vor zwölf Stunden begann, sollte aus dem Behältnis das glasklare Serum laufen und in die Kristallkokille darunter rinnen. Daraus würde er die einzelnen Ampullen abfüllen.

Zu seiner Beruhigung rann das Mittel zäh und doch durchscheinend wie bester Wodka aus der Öffnung.

Dubois drehte den Hahn ganz auf.

Die Ausbeute würde für zehn Einheiten genügen, auch wenn es sich um das ursprüngliche Serum handelte, das nicht reduzierte und in seiner Wirkung verstärkte, wie es Haider für ihn herstellen konnte. Sie hatte ihre letzten exakten Erkenntnisse auf dem Laptop gespeichert, der beim Kampf gegen die Bechstein zu Boden gefallen war. Seine Experten arbeiteten noch an der Wiederherstellung der beschädigten Festplatte.

Dubois wartete und blickte sich im Gewölbe um, in dem nicht nur der Scharlatan Sehfeld gehaust hatte. Die Grafen Kuefstein und Lamberg hatten hier zusammen mit dem italienischen Universalgelehrten Geloni um 1780 diverse Homunkuli erschaffen.

Für einige Schauergeschichten in Wiens Vergangenheit zeichnete sich Dubois selbst verantwortlich, ohne jemals verdächtigt und zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Manche seiner aufgegebenen unterirdischen Verstecke waren gefunden und zu Touristenmagneten geworden, andere lagen unverdrossen im Verborgenen – so wie dieses, in dem er seine alchemistischen Forschungen betrieb.

Das Serum würde eine Zeit brauchen, um aus der Brennbirne abzulaufen, also wollte Dubois die Stunden nutzen, um weitere Vorbereitungen zu treffen. Es galt nach wie vor, Anastasia zu retten. Dazu schaltete er sein Smartphone ein.

Kaum ging er die steile Treppe hinauf ins Erdgeschoss, erreichte ihn die SMS und Benachrichtigungen. Das Gerät wollte gar nicht mehr aufhören, Signaltöne von sich zu geben. Die Moderne zwang sich ihm auf.

Manchmal vermisste Dubois die alten Zeiten.

Keinesfalls war es damals besser gewesen. Das behaupteten lediglich diejenigen, welche niemals in diesen Jahrhunderten oder Dekaden gelebt hatten. Aber früher war er weniger erreichbar gewesen – und verweigerte man sich im 21. Jahrhundert dieser Erreichbarkeit, ging das Leben einfach ohne einen weiter.

Noch musste sich Dubois dem System und seinen Ansprüchen beugen.

Doch mit dem Einsatz der vollständigen Formel würde er eine Veränderung herbeiführen, die sich auf alles und jeden auswirkte. Womöglich liegen die Schwerpunkte der modernen Welt bald woanders: auf mir.

Dubois marschierte in sein Büro, das eingerichtet war, als wäre der Kaiser persönlich eben noch hier gewesen. Der ganze Raum war ein k.-u.-k.-Zeitsprung. Er hatte sich aus Spaß auch die Computer passend umdekorieren lassen, so dass Monitor, Tastatur, sogar die Kabel antik wirkten. Poliertes Kupfer als Gehäuse und Messingtastaturen fügten sich perfekt in die Kulisse ein.

Dubois begab sich an den großen Sessel in der rechten Ecke neben dem Fenster, von wo aus er das gesamte Zimmer überschaute, und aktivierte den Dreißig-Zoll-Bildschirm, um die Neuigkeiten im großen Format zu lesen und Anweisungen zu schreiben.

Es gab einige Unruhen auf dem Börsenparkett, die etliche seiner kleineren Fonds ins Schleudern brachten, was ihn jedoch nicht schreckte. Dafür machten seine großen Firmen gerade viel Geld, was er mit einigen Klicks auf unantastbare Konten in alle Welt verschob.

Seine finanziellen Ressourcen waren gesichert, egal was physisch mit der Person – die Unternehmerpersönlichkeit Gregor Dubois – geschah. Er hatte immer rechtzeitig dafür gesorgt, niemals Engpässe zu haben. Er hasste es, arm zu sein.

Eine von den abzuarbeitenden Nachrichten erweckte seine Aufmerksamkeit: Artjom hatte Neuigkeiten. Er schilderte, dass er beobachtet habe, wie sich die Augen einer necessaria nach Bechsteins Treffer und dem Einsatz ihrer Gabe vollständig weiß gefärbt hätten; danach sei sie zuckend im Haus der Riordans gestorben, obwohl der Hieb als solcher seiner Einschätzung nach nicht letal gewesen war.

Zum Beweis seiner Aussage sandte er ein Bild der Toten, die er für die Aufnahme ausgegraben haben musste. Dreck lag auf ihrem Antlitz, die Lider standen offen, und die Höhlen schienen mit reiner Milch ausgegossen worden zu sein.

Weiße Augen. Dubois meinte, mehr als Todesangst auf dem Gesicht ablesen zu können. Wie bei Haider.

Er legte die Fingerspitzen zusammen und sah über sie hinweg zu seiner Bibliothek, die gegen den Prunksaal lächerlich erschien.

Darin stand nichts über Seelenwanderer im Speziellen, aber der Anblick der Buchrücken half ihm, seine Gedanken zu ordnen und erneut in die Vergangenheit zu zwingen, wo das alte Wissen abgespeichert lag.

Das Weiß erinnerte ihn an eine Begebenheit.

Es hatte etwas mit einem Gegner zu tun, mit dem er schon einmal aneinandergeraten war.

Und eine Gabe hatte diesen Mann besonders gefährlich gemacht.

Wie hieß er? Dubois erhob sich und ging zum ersten Regal, bückte sich nach der alten Ausgabe von Tolstois Krieg und Frieden, in dem er ein besonderes Blatt aufbewahrte, das für Außenstehende nichts weiter war als eine Auflistung von Namen.

Er schlug die Seite auf und betrachtete die Liste der vernichteten Gegner und deren necessarii.

Es kamen beachtliche Verluste zusammen, wenn Alte Seelen Krieg führten. Auch er stand vor knapp hundert Jahren einmal isoliert und einsam dar, und ohne Anastasia wäre er untergegangen. Allein deswegen würde er alles für sie tun.

Seine haselnussbraunen Augen glitten von oben nach unten über das Papier – bis sie an einem Namen hängenblieben. Das war er!

Guiseppe Zarbo, ein Mann von knapp zwanzig Jahren, aber mit einer Seelengabe nach nur einer Wanderung versehen, die ihn zum gefährlichsten Widersacher gemacht hatte. Gegen ihn hatte Dubois elf seiner necessarii und eine sehr gute Freundin verloren.

Er kehrte an den Schreibtisch zurück, in der Rechten hielt er die Liste, die er auf dem Schreibtisch ablegte.

Nachdem er Platz genommen hatte, suchte er aus dem rechten Seitenfach den Aschenbecher sowie seine geliebten Zigarillos heraus, entzündete sie wie stets mit einem Streichholz und inhalierte den beißenden, heißen Rauch.

»Guiseppe Zarbo«, sagte er laut und ließ den Namen zusammen mit dem Qualm aus dem Mund dringen und zur Decke schweben.

Dubois hatte ihn erschossen, mit einem Scharfschützengewehr, der guten Mauser C96, im Jahre 1898. Auf eine stattliche Entfernung, um jeglichen Kontakt zu vermeiden.

Zarbo hatte die Gabe besessen, die Seelen derer, die er mit einer Attacke bedachte, aufzulösen. Vollständig. Weder konnten sie sich nach einem Treffer auf der Erde halten, noch kehrten sie in den Schmelztiegel der Urmasse zurück – sie lösten sich auf. In nichts.

Sämtliches Wissen, sämtliche Gaben, alles Gute und alles Schlechte, was einer Seele innewohnte, wurde ausgelöscht und blieb für immer verloren.

Dubois hatte nicht sämtliche Opfer des Italieners gesehen, aber er meinte sich zu erinnern, dass ihre Augen sich durch Zarbos Angriffe weiß gefärbt hatten.

Die komplette Auslöschung eines Daseins. Ausgerechnet diese gefährlichste aller Gaben soll der Okkupantin zugefallen sein?

Er gab Riordan in den Computer ein.

Die Suchmaschine zeigte zu viele Treffer, also erweiterte und veränderte er die Anfrage, bis er auf einen aufschlussreichen Bericht stieß: Ein Ehepaar aus Halle namens Finn und Claire Riordan war einem Raubmord mit Fahrerflucht zum Opfer gefallen. Und in Halle wiederum gab es nur eine Adresse zu Riordan. Das könnte auf den Ort des Gefechts zutreffen. Aber wie hängt es zusammen?

Er würde Artjom um eine genauere Aussage bitten, auch wenn er sich wunderte, dass der necessarius ihm dieses Detail nicht von selbst mitteilte. Er war schon immer unzuverlässig. Ich warnte Anastasia oft genug.

Dubois inhalierte, sah den Rauchschwaden zu, die orakelnde Zeichen unterhalb der Zimmerdecke bildeten. Seine Hand legte sich an die Wange, wo Bechsteins Ellbogen ihn beim Kampf gestreift hatte. Ich lebe noch, weil sie mich nicht richtig traf.

Seine Gedanken zogen die Erkenntnis in die Gegenwart.

Das führte zu einem schrecklichen Verdacht.

Hatte er bisher daran geglaubt, Anastasias Seele befände sich zusammen mit dieser Betrügerin in Lene von Bechsteins Körper, drängte eine andere Möglichkeit in sein Bewusstsein.

Dubois spürte ein Ziehen in den Schläfen, sein Blick wurde unscharf. Das Zimmer drehte sich ganz leicht. Es war die pure Furcht, die sich seiner bemächtigte: Wer garantierte ihm, dass Anastasias Seele nicht aufgelöst war?

Nein. Ich spürte sie beim Kuss, sagte er sich wütend und zog lange am Zigarillo; leise knisternd verbrannte der dunkle Tabak. Anastasia teilt sich den Körper mit ihr.

Aber die Bedenken legten sich nicht.

Möglicherweise hatte er lediglich das Echo seiner einstigen großen Liebe vernommen.

Dubois fluchte laut und sprang auf, tigerte gereizt im Zimmer hin und her. Der dicke Teppich absorbierte die Laufgeräusche.

Er hatte nichts, weder verlässliche Informationen noch Beweise über Anastasias Seelenverbleib. Ihm war nach Krieg, gleichzeitig spürte er Verunsicherung, Angst und große Bedenken, was aus dem Plan werden sollte.

Dem großen Plan.

Dubois hasste es, innerhalb von Sekunden neuen Gedanken ausgesetzt zu sein, die mit ihm spielten, ihn folterten, ihm Hoffnung gaben und gleich darauf in die Verzweiflung stürzten.

Abrupt blieb er stehen, schloss die Augen.

Er verdrängte jegliches Gefühl, jedes Empfinden aus seinem Kopf und warf sich in die reine Ratio, in das Planerische, in das Strategische, mit dem er bislang den größten Erfolg erzielt hatte.

Ohne die verwirrenden Emotionen gelang ihm das Fokussieren und Improvisieren, was die große Vision anging, die er einst mit Anastasia geteilt hatte. Ihr zu Ehren, ganz gleich wo sie steckte, ob sie noch lebte oder in die Urmasse zurückgekehrt war, in Bechsteins Leib steckte oder aufgelöst war, würde er weitermachen.

Vorrang hatte von dieser Sekunde an das gewaltigste aller Projekte.

Dazu brauchte er immer noch die Von Bechstein Laboratories. Da er sich nicht sicher sein konnte, auf die vorgesehene Weise ans Ziel zu gelangen, musste er neue Wege gehen – auch wenn er dafür seinen Körper und seine Existenz als Gregor Dubois aufgeben musste.

Er öffnete die Lider und sah zum Fenster hinaus in die Wallnerstraße.

Das Bechsteinsche Unternehmen hatte zwei Inhaber.

Dubois würde mit Hilfe des Serums und einer Radikalkur ganz zügig und vor allem heimlich in Eugens Körper Einzug halten und sich Zugang zu den Produktionsstätten verschaffen, was eigentlich Anastasias Aufgabe gewesen wäre.

Als Eugen konnte er zudem prüfen, wie es um seine Frau bestellt war, und womöglich doch noch an seine gestohlene Formelhälfte gelangen.

Dies wäre das Optimum.

Falls dies nicht funktioniert, reichte seine Formel alleine aus, um die Menschenseelen zu Tausenden in den Tod zu treiben. In kürzester Zeit könnte er von Körper zu Körper hüpfen, sich wiederbeleben lassen und Seelengaben sammeln, die ihn herrlicher als jeden vorstellbaren Gott werden ließen. Da er auf die Extrusion – das schnelle Verlassen seiner Seele aus den Hüllen – vorbereitet war, drohte nicht die Gefahr, in die Auflösung und den Sog zu geraten.

Ruhig begab er sich an seinen Platz hinter den Schreibtisch und fertigte eine Liste von Dingen an, die erledigt werden mussten, bevor Gregor Dubois offiziell verstarb.

Die Prozedur des Aushungerns des alten Körpers würde er mit Medikamenten beschleunigen. Beim Testament fing er an. Er überlegte, welchen von seinen necessarii er die Vollmachten übertragen könnte, damit sein Imperium weiterbestand.

Danach würde er sich von Artjom einen Überblick über Eugen von Bechsteins Termine geben lassen, um abzuwägen, wann er am besten zuschlug. Bis dahin hätte er genug von dem Serum reduziert, damit der Übergang nur wenige Stunden in Anspruch nahm und niemand Verdacht schöpfte.

Nicht einmal Marlene von Bechstein.

Dubois erlaubte sich ein schmales Lächeln. Er hatte die verhasste Kopflosigkeit besiegt und wusste, was zu tun war: Ich werde zu Eugen.

Ein Klick genügte, und er hatte verschiedene Bilder des Chefs auf dem Bildschirm. Der Mann war nicht der hässlichste und vor allem noch recht jung. Er schien Sport zu treiben und sich fit zu halten, was ein langes Leben in diesem Körper begünstigte, falls es sein musste.

Aber der Haarschnitt geht überhaupt nicht.

Dubois fertigte Notizen für das Make-over an, sobald er in seinem neuen Zuhause steckte. Anfangs müsste er sich zurückhalten, aber im Verlauf eines halben Jahres würde er das Styling und die Attitude des Mannes umgekrempelt haben.

Falls ich überhaupt so lange in ihm wohnen werde. Dubois rief die Investorenseite der VoBeLa auf, wo ein revolutionärer Pflegezusatz für Zahncremes beworben wurde, der den Schmelz stärkte und Verfärbungen abtrug.

Niemand ahnte, dass dieser sagenhafte Zusatz, nach dem auch die großen Hersteller bereits lechzten, auch eine Spur von Dubois’ Serum beinhalten sollte. Genauso wie sämtliche Pflegeprodukte, welche das Bechsteinsche Unternehmen für nationale und internationale Großabnehmer herstellte und abfüllte. Vom Shampoo bis zur Tagescreme, vom Lidschatten bis zum Rasiergel.

Dubois hatte allen Grund zu lächeln, während der Menschheit bald die Heiterkeit verlorenginge.

 

* * *

Exkarnation - Krieg der Alten Seelen: Thriller
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