Kapitel XIX
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Taronow sah auf den kleinen Bildschirm seines Smartphones, auf dem seit dem letzten Betrachten nichts Neues aufgetaucht war. Ohne auf den Weg zu achten, schritt der durch die Korridore des Hospizes. Auf der Verwaltungsetage roch es angenehm und sauber, nicht nach Bettpfannen, Hygienespray und Essen, was er sehr begrüßte. Was ist geschehen?
Ihn beschlich das ziemlich sichere Gefühl, dass keiner seiner Pläne der letzten Wochen Gestalt annehmen wollte. Mit dem gelungenen Anschlag auf die Riordans begann absurderweise sein Fiasko, an das sich eines nach dem anderen reihte, gekrönt von Dubois’ kleinem Todesgruß an ihn via Ilja.
Und nun meldete sich Tatjanna nicht mehr. So wusste Taronow nicht, ob sie Erfolg gehabt hatte, oder was in Halle schiefgelaufen war.
Da weder die Zeitungen noch die übrigen Medien über einen Doppelmord im Pirolweg berichteten, musste er davon ausgehen, dass auch seine zweite necessarii aus dem engsten Kreis ausgeschaltet worden war.
Taronow blieb vor dem Eingang des Besprechungsraumes stehen, um sich zu sammeln. Er und die anderen beiden hatten eine Zusammenkunft anberaumt, um eventuelle Erkenntnisse rund um Dubois und Anastasia zu diskutieren.
Er ärgerte sich im Nachhinein, den Tötungsauftrag für die beiden Frauen erteilt zu haben – nicht weil er Mitleid bekommen hatte, sondern weil er den Zeitpunkt als falsch erachtete.
Nun, da er es als gesichert betrachtete, dass Claire Riordan in der Bechstein steckte, hätte er abwarten sollen. Abwarten, bis das Rätsel um die Formel geklärt war. Seine persönliche, geheime Fehde stand zu sehr im Vordergrund, und das konnte Hochschmidt und Stahl aufmerksam werden lassen.
Ungeduld ist etwas Schreckliches. Er steckte das Gerät in die Tasche. Gerade wenn man Zeit zur Genüge besitzt.
Taronow betrat den Raum, in dem es sich Hochschmidt und Stahl bereits auf den Sesseln bequem gemacht hatten. Auf dem Flachbildschirm an der Wand sah man Fabians Gesicht in Großaufnahme. Er musste die Kamera, die er zur Übertragung nutzte, sehr dicht vor sich halten.
Taronow nickte ihnen grüßend zu. »Ich bin nicht zu spät«, stellte er fest.
»Nein, bist du nicht«, erwiderte Stahl beiläufig.
Prompt hing der Verdacht wie ein fauler Gestank im Raum: Die drei hatten etwas ohne ihn besprochen. Mit voller Absicht.
Taronow nahm sich vor, sehr genau darauf zu achten, was er sagte. »Wo steckt dein necessarius?«, erkundigte er sich im Plauderton. »Das sieht aus wie ein Wohnzimmer im Hintergrund.«
»Ist es auch«, antwortete Stahl. »Wir sind live im Haus der Riordans.«
»Ah. Sollte er nicht auf die Bechstein achten?«, fragte er schärfer als beabsichtigt. »Als ihr Bodyguard?«
»Sie hat mich abgestellt, um auf ihre Familie aufzupassen. Die Seele, die in Bechstein einfuhr, ist Claire Riordan«, erklärte Fabian entspannt. »Bislang gab es keine besonderen Vorfälle.«
Nun wissen es alle. Taronow ahnte, warum sich Tatjanna nicht mehr meldete. Sie geriet an Fabian und ist von ihm ausgeschaltet worden. Das könnte erklären, warum Stahl, Hochschmidt und der necessarius recht unbeteiligt taten. »Wer passt dann auf Bechstein auf?«, hakte er nach. »Ihr Leben sollte uns wichtiger sein als das dieser Familie.«
Hochschmidt warf ihm einen Blick zu, den er getrost als verständnislos bezeichnen konnte. »Sie will ihre Liebsten beschützt sehen. Dubois könnte versuchen, ihnen etwas anzutun.«
»Claire ist in der Villa und sicher«, betonte Fabian. »Sollte sie sich wegbewegen, ruft sie mich an. Sie vertraut mir.«
Taronow wusste sofort, dass Stahls necessarius log. Man sah es ihm an, man hörte es ihm an. Er lügt mit dem Einverständnis der beiden neben mir, schloss er daraus. Was wiederum bedeutete: Diese ganze Sache ging eindeutig gegen ihn.
Fabian sah sich um, ob er ungestört reden konnte. »In aller Kürze«, sagte er gedämpft. »Claire hat sich ihrer Schwester und ihrer Tochter anvertraut. Die beiden wissen zumindest Bescheid, was Seelenwanderer angeht und dass es die Formel gibt.«
Taronow fluchte laut. »Ich sagte gleich, dass wir sie ausschalten sollten«, rief er in die Runde. »Seht ihr, was wir davon haben? Warum stellt sie es nicht ins Internet?«
»Als ob ihr das jemand glaubte«, erwiderte Hochschmidt herablassend. »Sie hat in den beiden ihre Vertrauten und einen Anker. Diese Stabilität ist wichtig, damit sie ihren Auftrag erfüllt.«
»Ich sehe nur Scherereien«, brummte er.
»Claire erinnert sich wohl nicht mehr an die gesamte Formel. Der Besuch bei Dubois in Wien blieb ohne Ausbeute«, fasste Fabian weiter zusammen. »Sie sagte mir, sie sehe die Anordnung der Symbole verschwommen. Aber sie sei zuversichtlich, dass die Erinnerung zurückkehrt.« Er zeigte nach links, um zu verdeutlichen, dass sich jemand näherte. »Später mehr«, raunte er rasch, dann wurde die Übermittlung unterbrochen.
Hochschmidt und Stahl schwiegen und drehten ihre Sessel, damit sie sich gegenseitig am Tisch anschauen konnten.
Das ist eine Inszenierung. Taronow ging fest davon aus, dass es durchaus Neuigkeiten gab – aber nicht für ihn.
Er würde mitspielen und sie glauben lassen, er hätte ihre Farce nicht bemerkt, bis sie sich verrieten. Tatjannas scheinbar sinnlose Mordversuche würde er damit erklären, dass sie wie Ilja von Dubois übernommen worden und seiner Kontrolle entzogen worden sei. Unglaubwürdig, aber nicht von der Hand zu weisen.
»Wir sind auf einem guten Weg mit ihr«, befand Hochschmidt.
»Aber Dubois könnte sie angreifen, weil er inzwischen durchschaute, dass sie nicht Anastasia ist«, merkte Stahl an. »Wir sollten jemanden zum Schutz zur Villa senden. Heimlich.« Er sah Taronow ernst an. »Kannst du Tatjanna schicken, oder hast du gerade besondere Verwendung für sie?«
Er durchschaute die Frage als Falle und ging in den Angriff über, ohne darauf zu antworten. »Ich bin immer noch dafür, dass wir Bechstein aus dem Verkehr ziehen. Das sagte ich von Anfang an.«
»Was?« Hochschmidt blickte ihn empört an.
»Sie ist ein Risiko und obendrein nutzlos für uns«, redete er seelenruhig weiter. »Erstens: Sie kennt zu viele unserer Geheimnisse, die sie bereits munter ausplauderte. Zweitens: Sie kommt nicht auf die Formel, die wir unbedingt haben wollen. Und drittens: Dubois scheint zu bemerken, dass er eine falsche Anastasia bekommen hat. Sonst hätte er sie in den großen Plan eingeweiht.«
»Wir lassen die Finger von ihr«, bestimmte Stahl. »Wir können sie brauchen.«
»Als was? Gefahr für uns?«, ätzte Taronow und provozierte die beiden bewusst. »Ihr verschließt euch gegen meine Argumente. Ich würde gerne den Grund hierfür erfahren.« Er goss sich von der Cola ein. »Früher waren wir nicht so zimperlich«, fügte er genüsslich hinzu. »Sobald uns jemand zu nahe kam, erledigten wir denjenigen. Nein, ein Verdacht reichte schon, und es war aus mit demjenigen. Es ist der falsche Zeitpunkt, mit Ausnahmen zu beginnen.«
»Dieses Mal ist es anders und besonders. Wir geben ihr noch Zeit«, beharrte Stahl.
»Damit sie auf die Formel kommen kann«, unterstrich Hochschmidt unverzüglich und hörbar dankbar, dass ihr jemand zu Hilfe kam. »Sie kann auch für uns von Vorteil sein. Natürlich würden wir sie nur im Hospiz einsetzen«, schob sie rasch hinterher. »Bei den Alten und Kranken, die ohnehin keine große Lebenserwartung haben.«
Stahl nickte.
Heuchler, alle beide. Ihr wollt euch lediglich besser fühlen. »Angenommen, wir würden über das Schicksal von Bechstein abstimmen: Ich verlöre, richtig?« Taronow nahm einen langen Zug vom Getränk und stellte das Glas mit einem Knall auf den Tisch. »Ich weise drauf hin, dass ich dafür war, sie zu töten. Alles, was nach dieser Sitzung geschieht, liegt alleine in eurer Verantwortung«, sagte er betont. »Was auch immer es auslöst.«
Stahl zog die Brauen zusammen. »Was soll das bitte bedeuten?«
Er stand auf. »Dass ihr euch keine Gedanken darüber gemacht hat, was ihr Fortleben für uns bedeutet. Ihr denkt an die Formel, ich denke an den Ärger, den diese sinnlose Seele verursacht, indem sie auf der Erde verweilt und Dinge anstößt, die wir nicht bemerken und damit nicht aufhalten können.« Er ging zur Tür.
»Beabsichtigst du, Tatjanna zur Villa zu senden?«, traf ihn die Aufforderung in den Rücken.
Taronow lachte kalt und abweisend. »Ihr lasst Bechstein am Leben, ihr sorgt dafür, dass sie keine Katastrophe auslöst.« Er öffnete. »Ab heute ist sie eure Sache. Ich kümmere mich auf anderen Wegen um die Formel.« Mit diesen Worten trat er hinaus in den Gang und schloss die Tür.
Auf dem Gang ließ er die Klinke ganz langsam los und hatte das Gefühl, dass es nicht nur der Besprechungsraum war, dem er den Rücken kehrte. Glaubt nicht, dass ich mein Wissen mit euch teilen werde. Ihr werdet von mir lernen, wie man Spielchen spielt.
Vielleicht war es an der Zeit, aus dem Dreigestirn auszusteigen. Sie konnten sich alleine im Elysium vergnügen, die Vorteile dieser Zweckgemeinschaft der Seelenwanderer schwanden für ihn. Die beiden bremsten ihn, und das konnte er nicht gebrauchen. Weder bei seiner Rache noch in seinem Leben, das sich bislang recht erfolgreich durch die Jahrhunderte zog.
* * *
Deutschland, Saarland, nahe Saarbrücken
»Wir sind gleich da.« Minamoto steuerte den rot-weißen Eurocopter SA 360 Dauphin tiefer. Die Rotoren schrappten an den niedrig hängenden Mittagsregenwolken entlang, als könnten sie die grauen Gespinste in Fetzen schneiden.
»Und wo ist da?« Eric rückte den Kopfhörer mit eingebautem Mikro auf dem Kopf zurecht. Nur darüber konnten sie sich in der Kanzel unterhalten, für alles andere war es zu laut. Im Gegensatz zu seinem Flug im russischen Modell rüttelte dieser Helikopter. Nicht alles, was aus Russland kam, war schlecht.
Er hatte sich nicht gewundert, als Minamoto sehr rasch einen Hubschrauber auf einem kleinen Flugplatz organisierte und ihn auch noch selbst steuern konnte.
Elena hielt der Mann durch eine kleine Injektion im Tiefschlaf, damit das Mädchen bis zur Ankunft an ihrem Bestimmungsort ruhig blieb.
Mit Tüchern hatte Eric ihr das getrocknete Blut von den Fingern gewischt, er bekam zudem eine neue Hose und ein neues Hemd am Flugplatz überreicht.
Unter ihnen lag laut GPS-Anzeige die französische Grenze, sie kehrten in deutschen Luftraum zurück.
Eric sah auf viel Grün, verstreute Dörfer und vorbeihuschende weiße Wölkchen, die scheinbar vor dem SA 360 Dauphin und dem Grau des Himmels flohen.
Wenn er sich richtig auf seine Geografiekenntnisse besann, befanden sie sich über dem Saarland, dem flächenmäßig kleinsten Bundesland, von dem die wenigsten überhaupt etwas wussten, außer dass es neben Frankreich lag.
Eric gehörte zu den Auserwählten, die mehr Wissen besaßen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Er erinnerte sich gut an seine Verfolgungsjagd auf dem Campus des Universitätsklinikums in Homburg und die nachfolgende Schießerei. Das war zu Zeiten gewesen, als er noch zu den Wandelwesen gehörte.
»Libra hat nicht zufällig den Schlossberg gekauft und in das Hauptquartier umgewandelt?«, erkundigte er sich.
»Was für einen Schlossberg?«
»In Homburg. Europas größte Buntsandsteinhöhle.« Da er es erklären musste, wusste Eric bereits, dass sein Tipp falsch war. Doch eine zwölfstöckige Zentrale in einem Berg hätte gut zur Organisation gepasst.
»Ich bin sicher, dass man darüber nachdachte«, erwiderte Minamoto und drückte die Schnauze des Hubschraubers nach unten. »Aber wir stehen mehr auf Festungen.«
Sie flogen über einen Berg und jagten über eine größere Stadt hinweg, durch die sich ein Fluss und eine Autobahn fast parallel schlängelten.
Eric erinnerte sich, dass einige Bauwerke des Westwalls zum Portfolio der Stiftung Mise en Garde gehörten. Das Saarland hatte als einstiges Drehkreuz zur Westfront einige eindrucksvolle Bunker von damals zu bieten.
»Ich bin gespannt, was Sie zum Bernsteinzimmer sagen.« Minamoto machte nicht den Eindruck, als sei er nervös.
»Ich habe die Kopie in Russland schon gesehen.«
»Ah, ja. Sie werden erkennen, dass es Unterschiede gibt. Wichtige Unterschiede in der Anordnung der Motive. Alles folgt bestimmten Vorgaben.« Er steuerte den SA 360 Dauphin über den Bahnhof hinweg und landete hinter einer eindrucksvollen Baustelle auf einer betonierten Fläche. Die Rohbauten erinnerten Eric an Bunkeranlagen, zwei Kräne standen unbewegt herum. Anscheinend herrschte Stillstand.
Minamoto schaltete die Turbinen aus und zog den Kopfhörer ab. Das mechanische Kreischen über ihren Köpfen wurde leiser, die Rotoren liefen langsam aus.
Eric sah sich um, während Regen einsetzte und auf das Cockpit prasselte.
Ein großes, beleuchtetes Schild zu seiner Linken verkündete in mehreren Sprachen, dass ein Geschichtszentrum und eine Begegnungsstätte der deutsch-französischen Freundschaft entstehen sollte, natürlich gefördert von allen möglichen Landes-, Bundes- und Europainstitutionen; ganz klein fand sich auch der Name der Stiftung.
Aus einem bereits fertiggestellten Gebäude kamen zwei Menschen mit großen Schirmen, um die Ankömmlinge abzuholen.
»Sie nehmen das Kind.« Minamoto schwang sich hinaus. »Ich muss nicht betonen, dass Sie keine Angst haben müssen? Weder um sich noch um die Kleine?«
»Gut, dass Sie es nochmals erwähnen.« Eric betrachtete die Bauten, die im diesigen Licht unheimlich wirkten. Mit ein wenig Vorstellungskraft konnte man glauben, Deutschland bereitete eine neue Verteidigungslinie vor, dieses Mal noch größer und stärker, um gegen alles zu schützen.
Libra ist schlau. Eine Zentrale vor aller Augen und doch ungesehen. Eric nahm Elena behutsam auf die Arme, als die Tür auf seiner Seite des Helikopters geöffnet wurde und Minamoto mit einem dritten Schirm bereitstand.
Eskortiert von den beiden Männern in schwarzen Regencapes, gingen sie über die ebene Fläche zum Eingang, der sich zischend vor ihnen öffnete.
»Wir befinden uns im Saarbrücker Stadtteil Rodenhof«, sagte Minamoto. »Unser Erinnerungszentrum ist perfekt für die Besucher angebunden. Die Bahn hat das Nordterminal aus dem Boden gestampft, da drüben haben wir einen neuen P&R-Platz, und die Autobahnen sind leicht zu erreichen.«
Eric wusste, dass der Mann über den Transport der Wesen sprach, nicht über Gäste. »Gut ausgesucht.«
Im Innern des Gebäudes roch es nach Rohbau, nackten Wänden und frischer Farbe.
Der Empfangstresen war von zwei hübschen Damen in Räuberzivil besetzt, die an Computern arbeiteten und anscheinend Listen durchgingen. Neben ihnen werkelten Techniker an elektrischen Verbindungen, Neonlampen schufen kaltes, unwirkliches Licht. Keiner von ihnen schenkte den Hereinkommenden Beachtung.
»Schickes Betongrau.« Eric sah zusätzliche Verschalungen, um die Wände von innen zu verstärken, und mannsdicke Stützpfeiler, welche die hohe Decke trugen. »Augenfreundlich.«
Schräg hinter dem Tresen erhob sich in vier Metern Abstand eine alte Bunkereinheit, die vom Neubau umschlossen wurde: Verrostete Stahltüren, winzige MG-Schießscharten, ein ausgefahrener Geschützturm darüber und unzählige Beschussspuren zeugten von der umkämpften Vergangenheit.
»Die wenigsten Bunker wurden in lebensbejahendem Terrakotta angestrichen.« Minamoto blieb unverbindlich freundlich wie ein Fremdenführer, der von zu lustigen Gästen genervt war. »Das gute Stück wurde erst vor kurzem gefunden. Anscheinend hatten die Amerikaner es verfüllt und zugeschüttet. Wir mussten den Sand von Hand hinaustragen«, erklärte er und klappte den Schirm zusammen. »Anlage N38401/S, S wie Sonderbau, von 1937, ziemlich einmalig. Einen ähnlichen Bau findet man in Besseringen. Die ersten beiden Stockwerke gleichen den Regelbauten der HB-Werke.«
»Aha.« Eric wartete auf den Clou, der die Anlage für libra interessant machte. Er kannte sich mit den Bezeichnungen der Nazi-Bollwerke nicht aus.
»Abgesehen vom üblichen Flammen- und Granatwerfer trug die Anlage eine Neue Bruno-Kanone und war so ausgerichtet, dass sie im Umkreis von fünfzig Kilometern alles unter Artilleriefeuer nehmen konnte.« Unter Minamotos Führung gingen sie auf einen Lastenfahrstuhl zu, die Tür zur gewaltigen Kabine stand offen. »Allerdings wurde der Bunker wie so vieles damals niemals fertiggestellt. Die Experten vermuten, dass es ein Geheimprojekt war. Was auch immer sich die Nazis dabei dachten.«
Ihre Begleiter blieben schweigend stehen.
Eric sah in den Lift und zögerte.
»Sie denken, ich will Sie in eine Falle locken?« Minamoto wirkte fröhlich-amüsiert.
»Können wir oben bleiben und die Dinge bereden, bevor ich in Ihre Unterwelt einfahre?«
»Das könnten wir.« Minamoto zeigte in die Kabine. »Aber nehmen wir an, in dem Beruhigungsmittel, das ich der Kleinen gab, befand sich neben dem Anästhetikum noch ein seltenes, starkes Gift, das sicherstellt, dass Sie nicht einfach mit ihr verschwinden, wenn sich die Gelegenheit ergibt? Das Antidot wartet unten.« Er lächelte. »Das wäre clever von mir, oder?«
»Das wäre clever.« Eric schluckte. Schwein!
»Dann wollen Sie vielleicht gehen und herausfinden, ob Elena in Ihren Armen stirbt?«
Eric machte einen Schritt in den Lift hinein.
Der Eingang glitt lautlos zu, und die Fahrt abwärts begann.
»Wir fahren an der unterirdischen Vorrats- und Mannschaftsebene vorbei, wo später Seminare und Vorträge für Politische Bildung gehalten werden. Schulklassen, Studierende, das volle Programm, um an Fördermittel zu kommen.« Minamoto nahm einen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn in die Öffnung im Kontrollfeld und drehte ihn, danach drückte er eine bestimmte Tastenfolge.
Eric traute dem Mann zu, Elena wirklich ein Gift verabreicht zu haben. Es gab jedoch keine Möglichkeit für ihn, es herauszufinden. So spielte er mit, obwohl sich in ihm bereits der Dämon regte, um über Minamoto herzufallen. »Hoffen Sie auf ein paar rechte Kameraden, die sich ein wenig behaglich fühlen wollen?«
»Sie böser Mensch.« Er schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Ich mag Ihren Humor. Aber Nazis sind uns immer willkommen.«
»So?«
»Manche veränderte Seelen haben sie zum Fressen gern.« Minamoto grinste.
Eric lachte.
Der Fahrstuhl hielt an.
»Auf diesem Level kommt libra zum Zug, aber das vermuten Sie schon längst.« Nach der Eingabe eines weiteren Codes öffnete sich die Tür in einen mit Stahlplatten ausgekleideten Korridor, in den feine Linien aus Bernstein eingezogen waren.
Eric deutete auf dieses Detail. »Was hat es mit Bernstein auf sich?«
»Ein seit Tausenden Jahren beliebtes und geheimnisumwittertes Material. Ein scheinbarer Stein, der brennt, sich elektrisch auflädt, wenn man ihn reibt, aber sehr schlecht leitet«, fasste Minamoto zusammen. »Pharaonen schmückten sich mit dem Harz aus der Ostsee, und in den ersten Tagen der Menschheit war er Zahlungsmittel. Der Brennerpass trägt seinen Namen übrigens, weil über ihn der Brennstein, der Bernstein, nach Süden transportiert wurde. Abgesehen von seinen durchaus bewundernswerten physikalischen Eigenschaften dient er unter anderem als Fokus für Seelengaben, wie Sie mehrfach gesehen haben. Archäologen gruben sogar einen Schädel mit einem eingelassenen Bernsteinstück aus. Wer weiß, was damit bewirkt wurde?« Minamoto führte ihn weiter. »Mehr müssen Sie im Moment nicht wissen. Es gibt wichtigere Dinge für Sie und Elena.«
Eric nahm sich vor, später nachzuhaken.
Das Bild von Sia, erstarrt wie die Kinderstatue auf dem monegassischen Friedhof, erschien vor seinem inneren Auge. Da er sich ohne Einschränkung bewegen konnte, nahm er an, dass die Sicherungsmaßnahmen noch nicht aktiviert waren. Die Arbeiten schienen noch nicht abgeschlossen zu sein. Außerdem war das beste Druckmittel gegen ihn die Andeutung über das Gift in den Adern des Kindes.
Er betrachtete den Beton und mutmaßte, dass man in diesen Bereich nur mit speziellen Bomben vordrang, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. »Wie weit liegt die Oberfläche über uns?«
»Es sind einige Meter. Keine Sorge, nicht eine Seele entkommt diesem Käfig.«
»Was ist daran anders als bei dem Gehöft in Russland?«
»Dieses Silo ist auf dem neusten Stand.« Minamoto ging zur Tür gegenüber. »Hier fanden wir die Lagerhallen, die als Munitionsdepot und Aufbewahrungsort für die Wechselrohre des Artilleriegeschützes dienten. Durch diese Wände dringt nichts, auch wenn es eine Drachenseele wäre. Erst recht nicht nach unseren Modifikationen.«
Die Tür öffnete sich vor ihnen und führte in eine größere Halle, die an einen Luftschiffhangar erinnerte. Im hinteren Teil standen riesige Aggregate sowie Konstrukte aus Kupferspulen und Drähten, die in gläserne Apparate mit Metallreifen und -ringen führten.
»Das ist die erste«, erklärte Minamoto und winkte zwei Bewaffneten zu, die vor den Aufbauten standen; zu ihren Füßen lagen zwei schwarze Hunde, die größer waren als jede bekannte Rasse. Die Wachen grüßten entspannt zurück. »Hier haben wir aus Zeitgründen noch nichts umbauen können. Sie sehen ja, dass das Platzangebot riesig ist.«
Eric staunte wahrlich. Jeder Filmbösewicht hätte sich über eine derartige Zentrale gefreut. »Wo ist das Becken mit den Haifischen?« Unweigerlich erwartete er, dass sich eines der neun Tore ihnen gegenüber öffnete und sie von einem Golfcart abgeholt wurden.
Minamoto lachte. »Das haben wir noch nicht gefunden.« Er zeigte auf das Tor, neben dem eine Zwei auf der Mauer prangte. »Da geht es für uns weiter.«
Eric hörte Elenas tiefe Atemzüge, die unbeirrt schlief. Beeindruckt von den Möglichkeiten, die libra besaß, wurde ihm überdeutlich bewusst, dass er höchstens mit List aus dieser Anlage entkam. Sobald ich über das Antidot Bescheid weiß. »Sicherer kann man sein Wissen kaum lagern.«
»Sicherlich. Wir planen, das zentrale Archiv hier anzulegen. Die Voraussetzungen sind gut, und die Tarnung ist perfekt. Die Mise-en-Garde-Stiftung genießt die Hochachtung und den Schutz der Europäischen Union.«
»Man sollte sie für den Friedensnobelpreis vorschlagen.«
»Immer einen spöttischen Spruch auf den Lippen. Sie wären ein Traum für jeden Psychologen. Aber wenn man bedenkt, was wir leisten«, Minamoto blieb vor dem Tor stehen und gab einen weiteren Zahlencode ein, »haben Sie recht. Schade, dass es niemand erfahren darf.«
Klackend fuhr das Stahlschott auseinander und gab den Blick auf einen vierstöckige Vorhalle frei, die einem Gefängnisaufbau ähnelte.
Eric sah, dass die Wände nachträglich eingezogen worden waren, die Linien aus Bernstein gehörten dazu. Vom Boden führten zwei Aufzüge und mehrere Stahltreppen in die verschiedenen Etagen. Laufgitter dienten jeweils als Untergrund, zahlreiche Türen waren ringsherum eingelassen.
Der unerwartet angenehme Geruch nach warmem Harz kam nicht von ungefähr: In der Mitte des tonnenweise verbauten Betons stand ein großer Kubus aus Glaswänden, so dass man von allen Seiten hineinschauen konnte. In seinem Innern befand sich das vollständig aufgebaute und hellerleuchtete Bernsteinzimmer.
Eric war überwältigt.
Minamoto deutete auf die Eingangstür des Würfels. »Wollen Sie es sich vielleicht kurz anschauen, bevor wir mit der Prozedur im Laufe des Tages anfangen? Wir kümmern uns gleich um die Kleine.«
Eric schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich betrachte es von außen.« Das Zimmer sah nicht ganz so aus, wie er es von Bildern kannte. Libra hatte auf sämtliche ergänzenden Stuck- und Holzelemente verzichtet und sich nur auf die Bernsteinkunst konzentriert, die frei an den Glaswänden befestigt worden war.
»Wie Sie möchten. Sie sehen die komplette Wandvertäfelung, angefertigt aus bestem Succinit und zu Recht als achtes Weltwunder bezeichnet, erdacht von Andreas Schlüter, gebaut von den Bernsteinmeistern Ernst Schacht und Gottfried Turau«, erklärte Minamoto, während er darauf zuging, als befänden sie sich bei einer Museumsführung. Er schien von der Ablehnung weder überrascht noch beleidigt. »Den Kram von Rastrelli haben wir ausgebaut. Spiegelpilaster und vergoldete Schnitzereien brauchten wir nicht. Sie waren niemals vorgesehen gewesen und stören den Energiefluss.«
Eric riss sich vom Anblick des Zimmers los und entdeckte in den Ecken der Halle wieder die Aggregate und Glaskonstruktionen mit den beweglich gelagerten Metallringen, die um verschiedene Achsen schwingen würden, sobald man sie anstieß. Aussparungen waren an den Apparaturen gelassen worden, um etwas einzusetzen. Kupferkabel führten wiederum zum Kubus in der Mitte.
Minamoto betrat den Würfel, der nach oben offen war und über den sich ein Netz aus Bernsteinfäden zog. »Schlüter war mehr als ein Architekt. Die Anordnung der geschliffenen Steinplättchen« – er zeigte von Vertäfelung zu Vertäfelung – »ergibt ein besonderes Muster, das sich jedoch nur unter gewissen Umständen zeigt. Er arbeitete an einem Perpetuum mobile und verstand, dass es mehr als die sichtbaren Dinge gab.«
Elena seufzte auf Erics Arm, sie wurde unruhig. Sind das die Auswirkungen des Gifts? Sie wird mich ebenso hassen, wie es Sia bereits tut. Er zwang seine Gedanken, sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Wenn er entkommen wollte, brauchte er jede Information. »Wozu brauchen Sie diese Konstrukte?«
»Sie meinen die in der Ecke? Sie sorgen dafür, dass das Bernsteinzimmer seinen wahren Zweck offenbart.« Minamoto begab sich in die Mitte des Kubus. »Das sind die Perpetua mobilia, die Schlüter ersann und wir verbesserten. Mit Magnetismus kann man so einiges erreichen. Sie werden es bald selbst sehen.« Er zeigte nach links. »Dieses Tafelelement, das vierte von rechts – von Ihnen aus betrachtet –, setzt den Prozess in Gang, sobald es Energie von den Aggregaten erhält.«
Elena murmelte etwas und begann zu zittern. Ihre Stirn fühlte sich heiß an, wie er mit einem schnellen Griff feststellte. Er gab ihr wirklich Gift! Seine Anspannung brachte seinen Dämon dazu, sich zu regen, was es nicht besser machte. »Genug jetzt. Ich will, dass Sie ihr das Gegenmittel verabreichen.«
Menschen in weißen Schutzanzügen traten durch das Tor. Sie trugen Kästchen und gingen zielstrebig zu den Apparaten.
»Ah, die Experten beginnen mit den Testläufen«, kommentierte Minamoto, ohne auf ihn einzugehen. »Gleich sehen Sie, dass Magnete ein solches Perpetuum mobile in Gang setzen und halten.«
Eric verfolgte, wie die Mitarbeiter schwarze Metallklötzchen in die Aussparungen der Maschinen einsetzten. Im Innern begannen die Metallreifen sofort zu kreisen und wirbelten umeinander, die Luft um sie herum blitzte geladen auf. »Das Antidot!«
Minamoto lachte auf. »Was wollen Sie tun? Sich verwandeln und mich in Stücke reißen? Dann wäre die Kleine tot.«
Eric sah zum Ausgang. Wenn ich zur Oberfläche und ins nächste Krankenhaus gelange …
»Das Gift ist nur eine Rückversicherung, bis es mir gelingt, Ihre Zweifel zu besänftigen. Libra möchte Sie gewinnen, nicht zwingen«, sagte er aus dem Kubus heraus. »Ich erklärte Ihnen sogar alles, was wir tun und beabsichtigen. Würde ich mir sonst die Mühe machen?« Er schob den Ärmel zurück.
Ein leises, hochfrequentes Summen erklang. Die Härchen auf Erics Unterarmen kribbelten, die Luft lud sich in der Halle elektrisch auf.
Dann leuchteten die Bernsteintafeln auf, honigfarbene Strahlen jagten aus jeder einzelnen und bündelten sich in dem Gerät, das Minamoto am Handgelenk trug. Der Mann richtete es auf Eric, die geballten Energien wurden als dickes Bündel weitergeleitet.
Ver… Eric versuchte noch, mit Elena auf dem Arm auszuweichen, doch sie wurden davon erfasst. Er schien augenblicklich Nase und Mund voller Harz zu haben, es gab ausschließlich diesen Geschmack und den Geruch.
Sie wurden von dem Leuchten in die Mitte des Würfels gezogen; sein Versuch, zu schreien, und sein Widersetzen brachte nichts.
Minamoto wich ihnen aus, ließ sie im Kubus zu Boden sinken und verließ die Glaskammer. Dann endete der Strahl, und er stand auf der anderen Seite der durchsichtigen Wand, klackend rastete die Tür ein. Der Ausgang des Würfels war verschlossen.
Das wird euch nicht gelingen! Eric schüttelte die Benommenheit ab und spuckte aus, als ließe sich der Harzgeschmack dadurch entfernen. Keuchend erhob er sich, umgeben von den pulsierenden Bernsteintafeln. »Was ist mit dem Gift?«
»Tja«, erwiderte Minamoto und steckte die Hände in die Taschen. »Ein Trick. Einer von vielen.« Sein Gesicht zeigte ein neugieriges Lächeln. »Die Probe in Brighton war durchaus ernst gemeint. Sie verschaffte uns einen Einblick in Ihre Kraft, zudem bekamen wir Zeit für unsere Nachforschungen über diese Vampirin und das Mädchen. Wir hätten das Kind niemals einfacher an diesen Ort bekommen als mit Ihnen«, rief er gutgelaunt. »Schön, dass es gelang. Wir wollten kein Risiko eingehen. Dafür sind Sie zu stark, und die Kleine ist zu wertvoll. Wie ich sagte: Sie ist unser Messpunkt für sämtliche weiteren Experimente.«
Dazu brauchtet ihr aber einen intakten Kubus. Eric streckte die Hand blitzschnell nach der vierten Vertäfelung aus, um sie zu beschädigen und zu verhindern, dass der Prozess in Gang gesetzt wurde. Der lauernde Dämon war beim nächsten Herzschlag bereit, aus seinen Nägeln wurden in der Vorwärtsbewegung gebogene Krallen.
Doch bevor die Spitzen die weichen Bernsteine zerschnitten, erstrahlte der Glaswürfel samtgolden und moosgrün. Von allen Seiten strömte die Energie gegen ihn und Elena, brachte den Geschmack und Geruch von Harz zurück. Die Fäden über ihm verhinderten, dass die Kraft nach oben ausbrach.
Erics Faust federte zur Seite, aber er hatte einen Stein aus dem Verbund herausgelöst, der nun klackend zu Boden fiel – und verbrannte. Er barg das Mädchen, indem er beide Arme um sie legte. Verzeih mir!
»Halt!«, schrie Minamoto unvermittelt entsetzt durch die Halle. »Schaltet die Maschinen ab! Er hat …«
Entsetzt musste Eric feststellen, wie ihn das Schimmern durchdrang und auch vor Elena nicht haltmachte. Dampf quoll aus seinen Poren, der Dämonenkuss rauchte schwarz, als würde ein Brandzeichen von der anderen Seite dagegengepresst werden.
Dann kamen die Qualen, heiß und allgegenwärtig.
In sein tiefes Brüllen mischte sich Elenas helles Kreischen.
* * *
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Claire verharrte in ihrer Haltung auf dem Sessel und betrachtete ihre eisigen Hände, an denen sich das Fleisch von der inneren Kälte zusammenzog und die Ringe locker sitzen ließ, während Eugen aufstand und dem Gast empfangend entgegenging.
Ihr Herz klopfte schmerzhaft gegen die Rippen. Das habe ich noch nie erlebt.
Sie wusste nicht, ob es eine alte Erinnerung oder ihr eigenes Empfinden war, doch die Ablehnung gegenüber dem Träger dieser grufttiefen und todeskalten Stimme fiel äußerst eindeutig aus. Am liebsten wäre sie aufgestanden und ins Kinderzimmer geeilt, um die Töchter vor diesem Menschen zu beschützen.
»Lene, darf ich dir unseren Gast vorstellen?«
Jetzt ging es nicht mehr anders, also wandte sich Claire zum Eingang des Salons.
Dort wartete ein großgewachsener Mann mit nach hinten gelegten schwarzen Haaren und einem ansprechenden Gesicht. Sie schätzte ihn auf etwas über vierzig. Sein Körper steckte in einem dunklen Anzug, der Eugens sehr ähnelte, wenn die feinen roten Linien darin nicht gewesen wären.
Ihr Empfinden sagte ihr, dass auch Anastasia ihn nicht gekannt hatte. Nicht persönlich.
»Das ist Professor Inverno«, sagte Eugen, und der Mann verbeugte sich sacht. »Er wird uns heute Abend beim Essen Gesellschaft leisten.«
Claire vermutete sofort, dass es etwas mit ihr und dem abrupt beendeten Gesprächsthema zu tun hatte. Ihr Gatte machte den Eindruck, dass er es selbst nicht mehr aufrollen und es stattdessen Inverno überlassen wollte. Sie erhob sich, machte aber keine Anstalten, ihm die Hand zu geben. »Sie sind Professor für?«
»Unter anderem Chemie und Physik. Ich bin breit aufgestellt«, antwortete er mit der unglaublichen Stimme, bei der jeder Bass-Sänger neidisch werden dürfte. »Betrachten Sie mich als Konsultanten Ihres Mannes und Ihres Unternehmens.«
Claires Neugierde überlagerte die immense Abneigung; zudem galt es, herauszufinden, was der Auslöser war. Sollte er eine Gefahr bedeuten, musste sie wissen, woher sie kam. Reiß dich zusammen. »Ah. Das hat er mir gegenüber nicht erwähnt.«
»Dir ging es nicht so gut, so dass ich dich nicht damit belasten wollte«, erklärte Eugen. »Das Zusammentreffen sollte zwanglos geschehen. Dann kann er dir alles erzählen.« Er ging an dem großen Mann vorbei. »Ich schaue nach, was das Essen macht und ob der Tisch schon gedeckt ist.« Seine Schritte verloren sich in der Halle.
Inverno lächelte. Zahnkronen wurden sichtbar, wobei deren Farbe ebenso schwierig zu bestimmen war wie die seiner Augen.
Claire atmete tief ein und räusperte sich, wandte sich zum Kamin um und kniete neben den wärmenden Flammen nieder. Sie legte ein Scheit nach, korrigierte die Position mit dem Schürhaken. Es fühlte sich besser an, eine physische Waffe in der Hand zu halten und in der Nähe eines Feuers zu sein. »Konsultanten beraten«, sagte sie.
»Das tun sie, Frau von Bechstein.« Der Stimme nach hatte er sich nicht bewegt.
»In welcher Angelegenheit?«
»In einer mysteriösen.«
»Dann sind Sie Astrologe?« Claire wandte sich halb zu ihm.
Inverno saß zu ihrer Überraschung im Sessel, in dem Eugen vorhin Platz genommen hatte. »Mit Sternen habe ich nichts zu schaffen. Die meisten von ihnen sind tot, und wir wissen es nicht einmal.«
»Was sie mit manchen Menschen eint«, ergänzte sie.
»Wohl wahr, Frau von Bechstein.« Er deutete eine Verbeugung an, sein rechtes Auge funkelte golden, während das zweite im Schatten lag und nicht existent zu sein schien. »Andere verlieren hingegen nur ihren Körper und werden zu verwirrten Seelen.«
Über Claires Nasenwurzel entstand eine Falte.
»Ich meine Geister«, führte Inverno weiter aus. »Das Echo und letzte bisschen Energie, das vom Menschen auf der Erde blieb.«
»Sie sind nicht minder ein Philosoph.«
Er lachte dunkel und überlegen. »Das bescheinigte mir bereits Ihr Mann, Frau von Bechstein.« Seine gepflegte rechte Hand griff unter das Sakko und nahm einen Stift heraus, der von innen heraus bläulich golden leuchtete. Er spielte damit selbstverständlich und routiniert, als wäre es ein Manierismus.
Das Schimmern hat nichts mit Reflexionen des Kaminfeuers zu tun. Sein Akzent verriet Claire, dass der Professor keinesfalls aus Deutschland stammte. »Sie kommen aus Spanien?«
»Kolumbien. Ich lehrte dort, unter anderem.« Inverno betrachtete die Lohen, das linke Auge zeigte sich nun in warmem Grün. »Ich fand über Umwegen zu Ihnen.«
»Ich dachte, mein Gatte …«
»Die alchemistische Formel, die Sie Kollege Hakel gaben«, fiel er ihr ins Wort, »brachte mich nach Deutschland.« Er sah auf seinen Stift, der still zwischen den Fingern ruhte. Das Farbspiel darin fluktuierte, pulsierte. Invernos Blick zeigte Unverständnis. »Sie haben etwas Großes entdeckt«, sprach er schleppend weiter, als würde er gleichzeitig nachdenken. »Und gleichzeitig keine Ahnung.«
Claire verwünschte sich, bei ihrem Auftrag an den Laborleiter nicht nachgehakt zu haben. Sie hatte es in dem Durcheinander vergessen. Wer hat auch ahnen können, dass er sich dermaßen ins Zeug legt? Damit hatte sie Inverno angelockt und auf sich aufmerksam gemacht. »Warum denken Sie das?«
»Wie kämen Sie sonst auf den Einfall, einen verknöcherten Naturwissenschaftler an die Alchemie zu setzen?«
»Ich habe die Formel gefunden und – wie Sie schon sagten – keine Ahnung davon. Genauso wenig wie Hakel.« Sie konnte mit seiner Art nichts anfangen. Er spielte, schien abzuwägen und sie so lange hinzuhalten, bis er zu einer Entscheidung gelangt war.
Er lachte. »Sie wurde handschriftlich verfasst. Der Schwung der Buchstaben passt zu Ihrer Art zu schreiben, auch wenn manche Zeichen abweichen.« Inverno ließ den merkwürdigen Stift wippen. »Ich wäre versucht anzunehmen, dass Sie eine Anomalie sind.« Er steckte ihn weg. »Genau das rettet Sie vor mir, Frau von Bechstein.«
Draußen erklangen schnelle Schritte, Eugen ging durch die Halle. »Es wird noch dauern, sagte Melanie«, rief er in den Salon. »Entschuldigen Sie mich bitte, Herr Professor. Ich muss noch einen Anruf tätigen.«
»Sicherlich«, erwiderte Inverno. »Ihre Frau und ich unterhalten uns ausgezeichnet.«
»Dann bis gleich.« Eugen eilte die Treppen hinauf.
Claire warf noch ein Scheit in die Flammen. Den Schürhaken hatte sie in die Glut geschoben, damit er sich erhitzte. »Sie sind nicht verrückt, nehme ich an?«
»Ebenso wenig wie Sie.« Inverno zeigte auf den Prospekt. »Den hat Ihr Mann von mir. Die Klinik untersteht einem Freund, und es wäre mir eine Ehre, Sie dort begrüßen zu können. Allerdings geht es bei Ihnen weniger um Entzug oder psychologische Probleme.« Er lächelte hintergründig, wieder schimmerten die Kronen auf den Zähnen. »Eher um seelische.« Der Lichtschein verlieh ihm teuflische Züge.
Claire spürte die Angst und die Abneigung gegen Inverno ungebrochen stark. Er schien der Gegenpol zu den charismatischen, einnehmenden Seelenwanderern zu sein. »Was wissen Sie von mir?«, raunte sie.
»Das Serum ist spannend«, eröffnete er besonnen. »Ich habe gleich erkannt, dass es nur einem Zweck dient.« Er reckte den Oberkörper nach vorne. »Aber dieser Zweck interessiert mich nicht.«
Claire biss sich auf die Lippen, um nicht danach zu fragen, was die gesamte Formel anrichtete. »Weswegen sind Sie in unser Haus gekommen?«
»Weder Hakel noch Herr von Bechstein gehören zu denen, die ich suche. Das war leicht zu prüfen. Als Ihr Gatte mir von Ihnen berichtete, von Ihrer Veränderung, da ahnte ich, dass mein Besuch in Deutschland nicht ganz vergebens sein würde.« Inverno lehnte sich nach hinten, eine Hand legte sich an sein Kinn. Der Schatten des Ohrensessels verschlang den oberen Teil seiner Züge, so dass Zähne, die Kronen und geschwungenen Lippen vom Lohenschein betont wurden. »Sie sind nicht freiwillig in diesen Körper gefahren.«
Claire fühlte die Kälte, die von dem unheimlichen Mann auf sie zukroch, und freute sich über das lodernde Feuer in ihrem Rücken. »Das können Sie aus einem Kugelschreiber ablesen?«, versuchte sie es mit rauhem Humor.
»Ich kann aus meinem Talisman ablesen, dass Sie eine Seelenwanderin sind, die nicht ist wie die anderen und die über besondere Gaben verfügt«, erwiderte er. »Und das bedeutet, dass irgendwo Ihr echtes Leben ist. Mit Menschen, die Sie aufrichtig lieben und die Sie vermissen, so wie Sie von denen vermisst werden.«
In Claires Herz schien eine Kugel zu fahren und zu explodieren. Inverno riss ihre aufrechterhaltene Contenance mit seinen Schlüssen mühelos weg. Gegen die aufsteigenden Tränen vermochte sie sich nicht zu wehren.
»Ah, ich verstehe. Sie haben jemanden verloren«, kommentierte er sanft, was er sah. »Das tut mir leid.« Er beugte sich nach rechts, so dass seine linke Gesichtshälfte aus der Dunkelheit auftauchte; nur das Auge blieb schwarz, während das rechte golden leuchtete. »Doch damit kommen wir vielleicht schneller ins Geschäft, Frau von Bechstein?«
Claire wollte nicht hören, was er ihr gleich vorschlug. Sie fürchtete sich nicht nur vor ihm, sondern vor jedem Wort, das aus seinem Mund drang. Es sickerte in sie, blieb hängen und würde Wurzeln schlagen. »Ich denke nicht«, brachte sie hervor.
»Ich denke doch«, entgegnete er schmeichelnd. »Denn was wäre, wenn ich eine Methode kenne, gegangene Seelen aus der Urmasse wieder herauszuholen? Und zwar als Seele, die sich an ihr letztes Leben erinnern kann?« Er rieb mit dem Zeigefinger an seiner Wange hinab bis zum Kinn. »Wen auch immer Sie betrauern und wer auch immer Sie sind: Ich kann Ihnen die geliebte Seele zurückbringen und in einen Körper Ihrer Wahl einsetzen.«
Claire wollte es kaum glauben. Damit könnte sie Finn zurückholen. Mein Leben könnte geradegerückt werden. Aber die Wachsamkeit mahnte sie. »Sie sind ein Lügner.«
»Oftmals im Leben, aber gerade nicht.« Um Invernos Lippen spielte ein Zucken. »Man hat Ihnen gesagt, dass sich die Seelen mit dem Ende des Leibs auflösen. Und im Grunde stimmt das. Doch so, wie Sie eine Anomalie sind« – sein Zeigefinger deutete auf Claire –, »bin ich auch eine. Wir Anomalien vollbringen Unmögliches.« Er senkte die Hand und die Stimme. »Aus dem Grund fürchten uns die anderen.«
Claire konnte nichts antworten. Seine Worte waren vernommen, krallten sich in den Verstand und rüttelten Erinnerungen heraus. Sie sah Finn, ihre Familie, ihr kleines Café und die Bilder aus jenen Tagen, die herrlich und sorgenfrei verlaufen waren.
»Das alles können Sie wiederhaben«, drang Invernos lockende Stimme an ihr Ohr. »Die Körper werden andere sein, aber das Gefühl, das sie füreinander empfinden, ist das gleiche.«
»Ich …« Claires Blick verschwamm, sie musste sich am Kaminsims festhalten. Finn! Ich könnte mit dir weiterleben. An einem anderen Ort oder … Auf tausend Freuden folgten tausend Sorgen: Taronow, das Triumvirat, Dubois, die Formel. »Ich kann nicht«, stotterte sie den begonnenen Satz zu Ende.
»Ich verstehe, dass Sie Bedenkzeit brauchen. Zudem haben Sie jeden Grund, mir nicht zu trauen.« Inverno war nicht mehr als ein Schatten im Ohrensessel. »Dann verrate ich Ihnen, dass ich in den letzten Dekaden viele Seelenwanderer umbrachte und mir ihre Seelen aneignete.« Sein Schattenarm tippte gegen die Brust, wo der Talisman ruhte. »Mein Motiv ist Rache.«
»Was tat man Ihnen an?«
»Ähnliches wie Ihnen. Man raubte mir mein Leben, beinahe sämtliche Erinnerungen, einfach alles, was mich als Menschen ausmachte«, zischte er hasserfüllt. »Ich ziehe umher, auf der Suche nach mir und meiner Vergangenheit. Und ich nehme dabei Rache an denen, die es wagen, die Leben anderer zu zerstören! Das ist mir geblieben.« Er schnaubte und lachte freudlos auf. »Das und eine Gabe, die mir noch nichts nützt.«
Seine Erklärung klang für sie wirr. Aber durch Claires Kopf huschten verwerfliche und doch erlösende Gedanken: Ich könnte ihn auf Taronow und Dubois hetzen. Keinerlei Verdacht würde auf sie fallen. »Ich kann Ihnen die Aufenthaltsorte von zwei Seelenwanderern nennen«, kam es aus ihrem Mund, bevor Sie die Worte aufzuhalten vermochte.
Nun lachte Inverno sein bekanntes, tiefes Lachen. »Zwei Seelenwanderer, die Ihnen zusetzen. Die Sie vielleicht zwingen wollten, sich mit der unvollständigen Formel zu beschäftigen.« Er stand auf. »Gut, dann spiele ich Ihren Kettenhund. Wir profitieren beide davon.« Ganz unvermittelt stand er neben ihr, so dass sie ihn deutlich erkannte. Das Feuer kam nicht gegen die Welle aus Kälte an, die er absonderte an. »Haben wir eine Abmachung, Frau von Bechstein? Ich kümmere mich um die beiden, und Sie überlegen in aller Ruhe, ob Sie in die Klinik kommen möchten. Für seelische Reparaturen.« Er streckte ihr seine Hand hin. »Überlegen. Mehr nicht«, betonte er. »Sobald Sie anreisen, bekomme ich von meinem Freund eine Nachricht, und ich gebe Ihnen zurück« – sein linkes Auge leuchtete smaragdgleich –, »wen Sie vermissen.«
»Was möchten Sie im Gegenzug?«
»Lassen Sie uns darüber reden, wenn Sie sich grundsätzlich entschieden haben. Mein Lohn ist gering.«
Claire klammerte sich noch immer an den warmen Stein, ließ den Griff des Schürhakens los – und schlug ein. Invernos Haut war zu ihrer Überraschung heiß wie der Kaminsims.
Wie im Traum nannte sie ihm Dubois’ und Taronows Namen sowie jegliche Informationen, die sie besaß. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich, sie plauderte und berichtete, bis ihr nichts mehr einfiel.
»Danke, Frau von Bechstein«, sagte er nach ihrem letzten Wort. »Damit kann ich etwas anfangen. Besser gesagt: zu Ende bringen.« Er wollte seine Hand lösen.
»Noch etwas.« Claire hielt sie fest. »Die Formel«, sagte sie verlangend. »Ich habe den fehlenden Teil. Können Sie mir übersetzen, was sie in Gänze vermag?«
Er schleuderte ihr ein herrschaftliches Lächeln entgegen. »Sicherlich.«
Claire sah die gesamte Zeichenfolge vor ihrem inneren Auge und beschrieb sie ihm. Sie wollte sie nicht aufschreiben, als könnte es schlimmer werden, wenn es schwarz auf weiß stand.
Dann verstummte sie, wartete angespannt. War es ein Fehler? Wollte er in Wahrheit lediglich die Formel?
Die Zweifel kamen zu spät. Es musste an seiner Aura liegen, dass sie bereitwillig ein Geheimnis aussprach, nach dem so viele trachteten.
Inverno betrachtete sie aus seinem rechten goldenen Auge. Er löste seine Finger von ihrer Hand, als fürchtete er sich dieses Mal vor ihr. »Ich irrte mich, als ich sagte, ich wüsste, was das Serum anrichtet«, gestand er düster. »Sein wahrer Umfang war nicht zu erschließen, denn es ist zu boshaft, zu niederträchtig. Nun erkenne ich, dass die Seelenwanderer in ihrem Wesen entmenscht sind.«
»Was richtet die Formel an?« Claire wollte die Wahrheit erfahren.
Und Inverno eröffnete sie ihr.
Zusammen mit den wenigen Worten lösten sich Erinnerungen in Claire. Erinnerungen, die unstrittig Anastasia gehörten und mit spürbarem Genuss das unvorstellbar Widerliche bestätigten, was der Mann ihr sagte. Die Menschheit, nein, jedes Wesen mit einer Seele würde sich niemals von diesem Schlag erholen. Die Folgen wirkten über Generationen hinweg und konnten kaum mehr eingedämmt werden, solange Leben entstand.
Dann erschien Eugen in der Tür und rief zum Essen.
* * *