Kapitel XX
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Professor Uwe Hakel räumte sein winziges Büro auf, wie er es jeden Freitag tat und was er als Ritual fürs anstehende Wochenende betrachtete. Die Zeit vor der Tastatur und den Hardcopy-Berichten mochte er nicht. Er befand sich lieber im Labor und kümmerte sich um Produkte der VoBeLa. Demonstrativ trug er den Kittel über Hemd und Stoffhose auch im Büro.
Auf die rechte Seite des unprätentiösen Alu-Schreibtischs kamen die Dinge, die er sich am Montag erneut vornehmen musste, auf die linke der Stapel mit den erledigten.
Auf das Geschaffte war er dieses Mal besonders stolz, weil der Turm hoch war: Zertifizierungsnachweise noch und nöcher, DIN ISO 4009 und andere Zahlenmonster, Zulassungen für neue Cremes, einen Zahnpasta-Zusatz und eine neue Koffein-Formel für Shampoo plus eine veränderte Kombination von Duftstoffen.
Hakel ordnete die Papiere in die entsprechenden Ordner und fand nach zehn Minuten unter der letzten Seite den zerknitterten Ausdruck der gescannten Formel, die ihm die Chefin geschickt hatte.
Er nahm das Blatt in die Hand. Auch das hatte sich erledigt.
Unschlüssig sah er über die Aktenordner. Es gab keinen Platz für diesen Humbug, auch wenn sich Kollege Inverno noch so sehr dafür interessierte und den Anschein erweckte, die Alchemie sei wissenschaftlich und mit neusten Erkenntnissen der Naturgesetze anwendbar.
Das waren die gleichen Leute, die sich in Star-Trek-Vorlesungen setzten, über die Machbarkeit eines Warp-Antriebs redeten oder das Perpetuum mobile für möglich hielten.
Pseudowissenschaftliche Tagträumer. Hakel war überfordert, sein Hirn konnte keine Entscheidung fällen, was mit dem Papier geschehen sollte.
Einfach wegwerfen?
Sein Blick richtete sich auf den Schredder.
Hatte es dazu nicht offizielle Anweisungen vom Chef gegeben?
Hakel setzte sich, öffnete das interne E-Mail-Programm und suchte nach Nachrichten, welche die Formel betrafen.
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Er hob die Augenbrauen. Sind die gelöscht worden? Hakel forschte auf dem Datenserver nach der Kopie des gescannten Blattes.
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Der Chef schien ihm zuvorgekommen zu sein, was die Löschung des Vorgangs anbelangte.
Damit hatte Hakel indirekt die Antwort erhalten, was mit seinem Ausdruck zu geschehen hatte. Er zückte ihn und führte ihn auf den Schlitz des Reißwolfes zu, der unter der Arbeitsplatte stand.
Kurz vor dem Erreichen der Öffnung stoppte seine Hand.
Seine Gedanken kreisten um die Zeichen, um die Löschung, um Inverno und um die Entführung der Chefin, die es gerüchteweise gegeben haben sollte.
Hat diese Formel was damit zu tun? Hakel schnalzte mit der Zunge. Womöglich hielt er doch etwas in der Hand, was einem anderen Konzern Millionen wert war.
Nicht dass er VoBeLa untreu werden wollte, doch Konkurrenz belebte bekanntermaßen das Geschäft, und einem Zusatzeinkommen war er nicht abgeneigt. Er musste ja nicht an die Wirksamkeit des alchemistischen Zeugs glauben. Es reichte völlig aus, wenn es Interessenten taten.
Hakel zog den Arm zurück und steckte den Ausdruck in die Innentasche seines Sakkos, das über der Rückenlehne des Stuhls hing.
Selbstverständlich kannte er einige Unternehmen, die Mitstreiter auf dem Markt waren. Mehrfach hatten sie über Headhunter anfragen lassen, ob er nicht die Seiten wechseln wollte.
Daran dachte er nicht – wohl aber an ein bisschen Spielgeld. Am Wochenende würde er behutsam seine Fühler ausstrecken.
»Gut, dass ich Sie noch antreffe.«
Die tiefe Stimme Invernos durchbohrte Hakel regelrecht von der Seite. Er verfiel in eine Starre, als habe er bereits das Ehrenrührige getan. »Ah, Professor.« Er legte eine Hand auf den Stapel mit den Projekten für Montag. »Sie kommen, um sich zu verabschieden?«, haspelte er, nur um irgendwas zu sagen und sein Ertappt-Gefühl zu überspielen.
Inverno trug den dunklen Anzug mit den roten Linien darin, die getrimmten dunklen Haare hatte er in einen linken Seitenscheitel gelegt, was Hakel an den Stil der zwanziger Jahre erinnerte. »Das haben Sie erraten.« Er sah sich mit seinem goldenen Auge um. »Ja, meine Arbeit ist fast beendet.«
»Wie schön.«
Inverno schob sich lächelnd näher. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken, Professor Hakel.«
»Wozu?«
»Dass Sie mir die Gelegenheit gaben, an diesem Projekt teilzuhaben. Sie mögen nicht an Alchemie glauben, doch mir ist diese Materie sehr wichtig.« Inverno hörte nicht auf, den Kopf leicht von rechts nach links zu drehen, als hielte er im kleinen Büro Ausschau.
»Es war Zufall.« Hakel legte den Kittel ab und warf sich das Sakko sowie den beigefarbenen Mantel über. Keine Sekunde wollte er noch bleiben. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich werde erwartet.«
Als er an dem großen Mann vorbeiging, machte dieser einen Schritt zur Seite und rempelte ihn an.
Hakel prallte gegen den Aktenschrank und hatte ansatzlos Invernos Unterarm quer vor der Kehle liegen, der ihm jegliche Luft abschnürte und die Fähigkeit raubte, laut um Hilfe zu rufen. Bevor er in den Angriff gehen konnte, schwebte ein bläulich golden leuchtender Stift vor seiner Stirn, den er anstarren musste. Es ging nicht anders.
»Sie sind ein Dieb, Hakel«, tönte Invernos Stimme aus dem Schimmern. »Sie wollten sich aneignen, was nicht Ihnen gehört und was Sie darüber hinaus verachten.«
Die Spitze setzte sich auf seine Stirn, knapp oberhalb der Nasenwurzel.
»Die Formel ist in meiner Sakkotasche, innen«, krächzte er ängstlich.
»Ich weiß.«
»Nehmen Sie den Unsinn einfach, und lassen Sie mich«, raunte er gepresst. Der Punkt auf seiner Stirn, wo er die Berührung fühlte, erwärmte sich.
»Sie könnten anderen davon erzählen. Sie haben ein gutes Gedächtnis. Es muss ein Geheimnis bleiben.« Invernos Stift glomm auf, und ein Prickeln jagte durch Hakels Leib. »Seelen kann ich immer gebrauchen, auch wenn Sie keine von denen sind, die ich jage.«
Hakels Beine gaben nach. Er verlor seine Kraft und glaubte, sein Herz nicht mehr schlagen zu fühlen. Er wurde aufgefangen und sachte über den Schreibtisch gelegt.
»Sehen Sie, wie wenig Wert Ihre Seele besitzt? Ich brauche tausend von Ihrer Sorte, um die eines Seelenwanderers aufzuwiegen«, sprach Inverno verächtlich. »Und doch ist sie besser, als keine Seele zu haben.«
Hakel starrte auf den winzigen Einschluss, der vor seinen Augen entstand.
»Ich gebe auf Ihre Seele acht, Herr Kollega. Sie wird einem höheren Zweck dienen«, verabschiedete sich Inverno, dessen Stimme leiser wurde.
Des Laborleiters Leben indes verlosch.
* * *
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Claire trug ihre Geschäftskleidung und steuerte den weißen Range Rover TD V6 zum ersten Mal selbst.
Fabian saß auf der Beifahrerseite, in Jeans und Lederjacke gekleidet. Sie hatten Nicola und Deborah zuvor abgeholt und in einen Flieger nach Barcelona gesetzt, wo sie vorerst vor den Zugriffen ihrer Feinde sicher sein sollten.
Sie vertraute Fabian, weil er zum einen ihre originäre Familie selbstlos beschützt hatte, während sie in der Villa daniederlag, und weil er derjenige war, der sie in jener Nacht nicht zum zweiten Mal umgebracht hatte – obwohl die Möglichkeit existiert hatte.
Claire bemerkte, dass er sie unentwegt betrachtete, mal offen, mal versteckt. »Wollen Sie mir was sagen?«
»Vieles«, rutschte es ihm heraus, dann seufzte er. »Ich … wollte, dass Sie wissen, dass, egal wie das Treffen verlaufen wird …« Er suchte nach passenden Worten.
Was kommt jetzt? Claire konnte seine Ankündigung nicht einordnen.
»Sie sind eine Seelenwanderin. Ob Ihnen das gefällt oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Sie sind es«, versuchte Fabian einen neuen Anlauf. »Zudem sind Sie etwas Besonderes, das war mir gleich klar. Mit Ihren mehrfachen Gaben nach nur einem Wechsel überragen Sie alles bislang Bekannte.« Fabian blickte sie an. »Sie haben sich in den letzten Wochen verändert. Sie wurden mutiger und selbstbewusster, anstatt an Ihrer Last zu zerbrechen.«
Claire fand seine Worte vor dem Zusammentreffen mit den großen Drei aufbauend. »Es ist schön, dass Sie es so sehen.« Sie warf ihm ein dankbares Lächeln zu und spürte, dass nach der Erklärung Weiteres folgen sollte. In dem Mann arbeitete es.
»Sie haben als mächtige Seelenwanderin keinen necessarius«, fügte er hinzu. »Niemand, der Ihnen beisteht. Keinen Vertrauten.«
»Ich habe meine Schwester und meine Tochter.«
»Sie wissen, was ich meine. Die werden Ihnen keinen Rat geben können, wenn es um Ihre Gaben geht oder wenn Sie mehr Fragen zu unserer Art haben.« Fabian räusperte sich erneut. »Ich werde Stahl so oder so bitten, mich aus seinem Dienst zu entlassen. Sie müssen mich nicht als Ihr necessarius annehmen, aber ich würde mich sehr freuen.«
Claire überlegte, wie sie die Vorstellung fand, dass sie ihren Leibwächter ständig um sich herum haben konnte. Jemand, der weiß, wie es ist, ein Seelenwanderer zu sein. Jemand, dem ich vertrauen kann und der mir beisteht. Abwegig fand sie es nicht. »Denken Sie, das wird Stahl zulassen?«
»Was will er dagegen machen?« Fabian lachte auf. »Ich halte mich natürlich an die Gesetze und bitte um meine Entlassung. Das kommt immer wieder vor.«
Claire freute sich, obgleich es mit Unsicherheit einherging. Zudem hatte sie den Eindruck, dass er ein Detail verschwieg. »Sie sind viel älter und erfahrener als ich, was dieses Leben angeht. Ich müsste eigentlich Ihre necessaria sein.«
»Sie verfügen über mehr Gaben. Wer mehr Gaben besitzt, ist der Ranghöhere.« Fabian lächelte. »Also sagen Sie ja?«
Claire konnte einen Verbündeten gebrauchen, der sich auskannte. Sie mochte Fabian und fühlte unerklärlicherweise so etwas wie einen Hauch von Verpflichtung ihm gegenüber, da er ihr das Leben gelassen und sich um sie gekümmert und ihre wahre Identität nicht verraten hatte. Wenn nicht er, wer dann?
»Willkommen in meinem Team«, erwiderte sie. »Aber ich muss Sie warnen: Wir sind nicht viele.«
Fabian klatschte in die Hände. »Die Qualität zählt. Davon haben wir eine Menge.«
Sie hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Claire, auch wenn du mich Lene nennen solltest.«
Er grinste und schlug ein.
Claire sah ihn an und verzog dabei leicht das Steuer des Range Rover.
Aber Fabian beugte sich blitzschnell zur Seite, packte das Lenkrad und korrigierte. Dabei kam sein Gesicht ihrem ganz nahe. »Wie ich schon sagte: das beste Team.«
Sie lachte und konzentrierte sich erneut auf die Straße. »Was ist mit der Sache, über die wir nur kurz sprachen?«
»Was meinst du?« Fabian setzte sich wieder richtig hin.
»Etwas gegen die Vormacht der Seelenwanderer zu unternehmen. Es klang, als gäbe es eine Organisation, der du angehörst. Wer sind die Verbündeten, die du erwähntest?«
Er bewegte den Kopf leicht, so dass sie es fast für ein Nicken hielt. »Vorerst sind sämtliche Aktivitäten eingestellt. Es gibt interne Querelen«, erklärte er bedauernd. »Sie müssen sich über ihren Kurs klarwerden.«
Claire verstand nichts von dem, was er andeutete. »Ich fände es dennoch wichtig, mehr darüber zu erfahren.«
»Ich weiß. Und nach wie vor bin ich der Meinung, dass die Seelenwanderer verschwinden müssen. Aber lassen wir die Alten Seelen ihren Krieg untereinander austragen«, empfahl Fabian diplomatisch. »Wir greifen erst an, wenn die gefährlichsten Gegner gefallen sind.«
»Das Triumvirat wird gegen Dubois vorgehen?«, übersetzte sie. Spätestens wenn ich ihnen erkläre, was er und Anastasia beabsichtigten. »Persönlich?«
»Ich denke schon. Sie belauern sich schon lange.« Fabian lachte böse. »Ab einem gewissen Alter werden manche Seelen vorsichtig, weil sie fürchten, in einer direkten Konfrontation zu vergehen.« Er tippte sich gegen die Brust. »Deshalb haben sie necessarii und ihre minderen Verbündeten.« Er berührte ihre Schulter. »Aber irgendwann können sie nicht länger untätig bleiben. Dir kann es gelingen, das Triumvirat selbst in den Krieg zu schicken.«
Das Hospiz Elysium tauchte vor ihnen auf. Von außen sah es unscheinbar aus, wie ein in die Jahre gekommener, rasch renovierter Plattenbau. Sterben musste keinen Spaß machen.
Claire setzte den Blinker und bog in eine Parklücke. Sie nahm Fabians Hand und drückte sie, danach stiegen sie aus.
Auf dem Weg nach oben dachte sie über seine Worte nach: Dass sie sich verändert hatte.
Es stimmte. Sie hatte die Wahl gehabt zwischen Wahnsinn und Annehmen der Gegebenheiten. Ohne dass sie es richtig wahrgenommen hatte, wuchs sie an den sich auftürmenden Aufgaben.
Claire sah ihre Reflexion schwach in der Glastür, die sie mühelos aufstemmte. Es steckte viel Kraft in dem trainierten Bechstein-Körper, der sich beharrlich weigerte, rundlicher und mehr wie die alte Claire zu werden. Sie fand es passend für eine Kämpferin. Lassen wir den Krieg beginnen.
Mit Fabian an ihrer Seite ging sie in den abgesicherten Bereich, dort schwenkten sie auf den Besprechungsraum ein.
Claire empfand es als bezeichnend, dass sich ihr Begleiter zurücknahm. Sie ging voraus, sie war von nun an diejenige, welche die Fäden in den Händen hielt.
Bei ihrem Eintreten warteten bereits Stahl und Hochschmidt an dem langgestreckten, gläsernen Konferenztisch. Gebäck und Kaffee standen parat, als besprächen sie den Einsatzplan des Personals oder ein Projekt zur Imageverbesserung des Hospizes.
»Guten Tag.« Dass Taronow fehlte, brachte Claire auf den erfreulichen Gedanken, Inverno könne bereits in Aktion getreten sein. Sie lächelte, als sie sich setzte.
Fabian blieb schräg hinter ihr stehen. Sein Zeichen, dass er buchstäblich die Seiten gewechselt hatte. »Bevor wir über die Formel reden«, hob er an, »möchte ich die Entlassung aus Euren Diensten erbitten, erus.«
Stahl sah zwischen ihm und Claire hin und her; dann schwieg er und goss sich Kaffee ein, tat das Gleiche bei Hochschmidt. Schwungvoll schob er die Kanne über den Tisch bis vor Claire. »Ich dachte mir, dass du lieber für sie arbeitest«, sagte er verständnisvoll. »Du denkst, es sei deine Bestimmung.«
»Ja. Weil ich es war, der sie fand.« Fabian stand aufrecht und erwiderte den Blick seines Herrn selbstbewusst. »Und weil …«
»Es ist dir gewährt«, unterbrach ihn Stahl und machte eine erlaubende Geste, auch wenn sie herablassend wirkte. »Deine Entscheidung fiel bereits. Einen necessarius, der mir nicht mit Herz und Verstand dient, kann ich nicht gebrauchen.« Er lächelte Claire an, als habe er ihr seinen Sklaven geschenkt. »Sie werden sehen: Man kann sich auf ihn verlassen.«
»Sofern er nicht gerade jemanden findet, um den er sich lieber kümmert«, fügte Hochschmidt hinzu, grinste dabei jedoch. »Wie gut, dass ich keinen meiner necessarii abgeben muss.«
Fabian verbeugte sich und nahm nun erst Platz.
»Was die Formel angeht: Ich weiß, was sie in Gänze bewirkt.« Claire schob die Kanne zur Seite. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein höherer Blutdruck. »Dubois und Anastasia wollten …«
Stahl hob intervenierend die Hand. »Wir warten auf Taronow. Er steckt ganz profan im Stau, wie er mitteilen ließ.«
Beinahe hätte Claire laut geflucht. Zu früh gefreut. »Dann reden wir über ihn.«
Nach einem kurzen Blick zu Fabian eröffnete sie, was in den letzten Wochen vorgefallen war. Sie erzählte die Wahrheit: wie ihr Leben und das ihres Mannes endete; dass ihre Mörderin auf der Beerdigung zusammen mit Taronow auftauchte und danach versucht hatte, ihre Tochter und Schwester zu erschießen. Sie verschwieg auch nicht, dass es in der Vergangenheit Morde an ihrer Familie gab, deren Spur zu dem russischen Seelenwanderer führte.
Die Offenheit sollte verdeutlichen, dass die Zeit der Angst vorbei war. Claire war eine Anomalie, eine mächtige Seelenwanderin, die zurückschlagen konnte.
Als Untermauerung für ihre Behauptungen nahm sie ihren Tabletcomputer hervor, den Fabian zu Stahl und Hochschmidt trug, auf dem die Beweise lagerten: Fotos der Beisetzung, ballistische Untersuchungen der Waffen, Fotos der verstorbenen Tatjanna.
Hochschmidt und Stahl scrollten sich durch die Daten, an denen es nichts zu rütteln gab.
»Ich habe nicht den Hauch einer Vorstellung«, sagte Stahl irgendwann und gab Fabian das Tablet zurück, der es mit auf die andere Tischseite nahm. »Er erwähnte Ihre Familie nie uns gegenüber, Frau Riordan.«
»Man könnte nun sagen, das sei seine Privatsache«, setzte Hochschmidt hinzu. »Aber ich finde, er schuldet uns eine Erklärung, welche Spiele er treibt.«
Privatsache. Claires Gesichtsausdruck wurde verächtlich. Wie zynisch das klang. Das Treiben eines Seelenwanderers, der umherzog und Unschuldige tötete, galt untereinander als Privatsache. Sie sind widerwärtig. Das lange Leben macht sie nicht zu besseren Seelen.
Sie blickte erneut zu Fabian, der die linke Augenbraue hob und den Kopf leicht senkte, um damit zu sagen: Siehst du? Deswegen muss man sie eliminieren.
Claire stimmte ihm voll und ganz zu.
Die Tür öffnete sich, ohne dass zuvor geklopft wurde.
Taronow fegte in einem legeren dunkelgrauen Anzug herein, hielt einen schwarzen Spazierstock und blieb nach zwei Schritten in den Raum stehen. Er starrte zuerst die Triumvirats-Mitglieder an, dann sah er zu Claire. Der Russe machte sich nicht mal mehr Mühe, die Abneigung zu verbergen, und blickte auf das Tablet. Damit war klar, was er versäumt hatte. »Was soll sie hier? Ich dachte, wir reden über Dubois?«
»Gerade reden wir über dich.« Hochschmidt blickte ihn an. »Uns ist einiges zu Ohren gekommen.« Knapp wiederholte sie, was berichtet worden war. »Die Beweise sind eindeutig. Was hast du mit ihrer Familie zu schaffen?«
Taronow zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Das ist einerlei und berührt in keiner Weise …«
»Einerlei?«, rief Claire erbost. Die Gläser auf dem Tisch erhielten Risse beim Klang ihrer Stimme. »Mein Mann ist nicht einerlei, du Dreckschwein!« Sie erhob sich langsam, hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Wenn hier drin jemand die Formel und den dazugehörigen Plan hören möchte, den Dubois im Schilde führt, will ich sofort eine Erklärung!« Sie richtete sich an Stahl und Hochschmidt. »Sowie eine Bestrafung für die Morde an meiner Familie.«
Taronows Kopf fuhr herum, er stierte sie hasserfüllt an und nutzte den Stock, um auf sie zu zeigen. »Du verlangst meine Bestrafung? Du kannst froh sein, dass ich dich am Leben ließ, nachdem du mir entkamst.«
»Weil du mich brauchtest«, gab sie unerschrocken zurück. »Weil du wusstest, dass es auffallen würde, wenn du mich ein zweites Mal angreifst. So hast du deine necessaria auf meine Familie gehetzt.«
Taronow winkte ab und sah stattdessen zu Hochschmidt und Stahl. »Was ist nun? Erledigen wir sie, oder lassen wir uns von dieser dahergelaufenen Seele erpressen?« Er setzte die Spitze des Stocks auf den Boden. »Ich bin sicher, dass Fabian alles Wichtige weiß und es uns erzählen wird.«
Claire verschlug es vor Zorn das klare Denken. Er verlangt meinen Tod! Ohne eine Erklärung!
Sie flankte über den Tisch und stand vor dem Russen, holte zum Schlag aus, um ihn niederzuschmettern wie Tatjanna und Haider.
Aber Taronow hob die linke Handfläche mit den Fingern nach oben, vollführte eine schiebende Bewegung.
Eine unsichtbare Wand drückte Claire plötzlich rückwärts, sie gelangte nicht an den Seelenwanderer heran. Wütend versetzte sie der Barriere einen Hieb. Zwar wurde Energie aus ihren Knöcheln freigesetzt, doch sie richtete nichts aus.
»Du wolltest eine Erklärung?« Taronow betrachtete sie abfällig durch den Seelenschild. »Deine Familie sorgte dafür, dass ich starb. Dass meine Seele eine ruhelose wurde. Dass ich mit ansehen musste, wie ich alles verlor, was ich liebte und was mich liebte«, erklärte er rauh. »Dein Ahne Jean Wencislars kam zu uns, mit seiner Truppe und den bajonettbesetzten Musketen, nahm unser Vieh mit, plünderte unsere Vorräte. Er schändete meine Mutter als Erster, erschoss meinen Vater und hängte mich mit meinen Geschwistern zusammen an den Dachbalken auf.« Taronows Augen füllten sich mit Tränen, aber das Gesicht war entstellt von seinem Hass. »Ich erstickte und sah zu, wie dein Ahne lachte. Er pisste auf meine Mutter, die wimmernd im Dreck umherkroch, nachdem sie von seiner Meute vergewaltigt worden war.« Er vollführte eine neuerliche Bewegung mit seiner freien Hand.
Claire wurde von den Beinen gefegt und rücklings auf den Tisch geworfen. Unsichtbare Energien zwangen ihre Schenkel auseinander. Sie keuchte und versuchte, sich dagegen zu wehren, aber die Kraft war zu stark.
»Das ist kein schönes Gefühl.« Taronow senkte das Kinn. »Nun stell dir vor, wie du gefickt wirst.« Er legte das Spazierstockende auf Höhe des Bauchnabels und ließ es abwärts wandern. »Von stinkenden barbarischen Soldaten! Einer nach dem anderen dringt in dich ein.«
Fabian sprang los, aber eine Geste des Russen ließ ihn zur gegenüberliegenden Wand fliegen und dagegen krachen. Ächzend sackte er zusammen.
»Taronow!«, rief Hochschmidt ihn zur Ordnung. »Eine schlimme Tat rechtfertigt nicht den Tod Unschuldiger, die als Nachkommen des Schänders in die Welt gesetzt wurden.«
Ganz sicherlich nicht Deborahs und Nicolas Tod, dachte Claire, die verzweifelt versuchte, gegen die Attacke anzugehen. Die Spitze wanderte unterdessen weiter an ihr nach unten. Sie fand es bezeichnend, dass sie keinen weiteren Beistand erhielt als von ihrem necessarius.
»Hör auf!«, befahl Stahl.
»Ihr habt mir gar nichts zu sagen!«, schmetterte Taronow sie ab. »Ich wartete so lange, tötete so lange, bis ich sicher war, die Linie Wencislars fast komplett ausgelöscht zu haben.« Taronow machte einen Satz und landete neben Claires Kopf auf dem durchsichtigen Tisch; das runde Metallende legte sich an ihre Nase, es roch nach Eisen und Aftershave. »Ich bringe es zu Ende. Erst du, dann der Rest deiner Sippe. Das wirst du verstehen, nicht wahr? Auch dir wurde genommen, was du liebst.«
Niemals. Claires Beine hatten sich so weit gespreizt, dass es in ihren Hüften schmerzte.
Sie nutzte die Qual und stieß einen Schrei aus, wie sie ihn damals gegen Fabian eingesetzt hatte.
Der Schild hielt ihre Seelengabe nicht auf. Im nächsten Augenblick sprang und barst alles, was sich aus Glas und Porzellan im Raum befand.
Das Sicherheitsglas des Tisches unter ihr zerstob in winzige Splitter, ruckartig ging es für sie und Taronow abwärts.
Der Russe hielt sich die Hände gegen die Ohren und schrie ebenfalls, Blut sickerte aus seiner Nase. Er schaffte das Kunststück, auf den Füßen zu landen.
Was die anderen taten, sah Claire im Moment nicht und rappelte sich auf. Es zählte alleine ihr Gegner, der mannigfaltige Mörder an ihrer Familie. Sie machte einen Schritt nach vorne und schlug zu.
Taronow nahm die Finger von den Ohren und fälschte ihre Faust mit dem Spazierstock ab, um in einer kreisenden Bewegung einen Hieb gegen sie zu führen. Der polierte Knauf zischte heran.
Claire warf sich zur Seite, das Stockende schoss an ihr vorbei und hinterließ zu ihrer Überraschung krachend ein Loch in der Wand, als wöge es viele Kilogramm. Er musste eine weitere Gabe einsetzen, um die Beschaffenheit seiner Waffe zu verändern.
Sie zog Taronow die Beine weg, doch er bekam eine Sessellehne zu fassen und konnte sich halten. »Ich werde dich erschlagen«, versprach er ihr. »Oder besser: Ich lasse dich baumeln, wie ich baumeln musste!« Er hob die linke Hand, und ein weißes Verlängerungskabel flog auf sie zu. Gleich darauf wickelte es sich um ihren Hals und ruckte nach oben.
Claire schrie erneut, hoch und laut, solange ihr die Luft dazu blieb.
Taronow fluchte und taumelte, presste sich erneut die Hände gegen die Ohren, so gut es ging.
Dieses Mal zuckten die Risse durch die großen Fensterscheiben, und diese Splitter konnten bei einem Treffer tödlich sein, gerade für Menschen, die sich nichtsahnend vor dem Elysium befanden.
Ich bin nicht wie Taronow. Ich bringe keine Unschuldigen in Gefahr. Claire hustete und riss sich das einschnürende Kabel vom Hals. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, holte zum Schlag aus.
Aber Taronow wich ihr mit einem russischen Fluch aus und schwang seinen Stock wie einen Streithammer von schräg oben nach unten.
Sie tauchte unter dem surrenden Knauf hinweg, der den Tischrahmen traf und ihn in Stücke fetzte, als wäre eine Abrisskugel hineingefegt; die Überreste schossen durch den Raum. Claire entging dem folgenden Schlag und dem zustoßenden schmalen Ende des Stockes. Mit einem Tritt katapultierte sie seine Waffe davon.
Schließlich war sie nahe genug an ihm dran. »Ich nehme Rache.« Claire hob den Arm zum Hieb. Rache für Finn.
Taronow lächelte unerwartet kalt. »Ich ebenso.«
Ein leises Zischen erklang.
Schon wurde sie von etwas in den Rücken getroffen – gefolgt von einem unterdrückten Stöhnen.
Ein knapper Blick über die Schulter zeigte Claire, dass sich Fabian in die zustoßende Spitze des Stockes geworfen hatte, um sie zu schützen. Stahl und Hochschmidt lagen, von der Wirkung der Schreie halb paralysiert, auf dem Boden.
Taronow ließ hastig eine Sphäre um sich erscheinen, aber Claire schlug unbeirrt zu. Sie durchdrang den Schild, den seine Seelengabe erschuf, und zerstörte ihn. Ihre Faust setzte den Weg fort, die Knöchel landeten auf Taronows Nase.
Gleißende Energiegespinste jagten aus ihrer geballten Hand und umhüllten den alten Seelenwanderer, dessen Leib von unkontrollierten Zuckungen durchfahren wurde. Er stürzte, Blut rann unaufhörlich über seine Lippen.
Taronow schien etwas sagen zu wollen, doch jedes mögliche Wort, jeder mögliche Fluch, jede mögliche Bitte um Vergebung geriet zu einem wütenden Spucken und rot sprühenden Wolken. Schließlich färbten sich seine Augen vollständig weiß, und sein Körper lag still.
Das war es für deine weiteren Mordpläne. Claire stand über ihm, die Fäuste geschlossen und schwer atmend. Ihr ganzer Körper tat weh, die Anwendung dieser Gabe kostete Ressourcen. Ich hoffe, deine Seele findet keine Zuflucht.
Leise knisternd bewegten sich die Risse in den Scheiben weiter, und bis auf Fabians Stöhnen blieb es still im Raum. Auf dem Gang indes erklangen hektische Stimmen, jemand schrie etwas von einem Erdbeben.
Fabian! Claire drehte den Kopf nach hinten, um nach ihrem necessarius zu sehen.
Hochschmidt hatte sich gefangen und kniete bereits neben dem Verletzten. Sie zog den Stock von der Wunde und legte eine Hand auf die offene Stelle in der Seite. Anscheinend vermochte sie seine Verletzungen zu heilen oder die Blutung zu stoppen. »Es wird nicht lange dauern«, erklärte sie beruhigend.
Stahl wälzte sich auf den Bauch und stemmte sich schwerfällig auf die Knie. Er rang sichtlich stärker mit den Folgen ihrer Gabe. Zuerst betrachtete er Claire, dann den Toten – und erschrak zutiefst. Seine Blicke aus den weit aufgerissenen Lidern richteten sich erneut auf sie.
»Wie viel Zeit bleibt mir, bis Taronow zurückkehrt?« Claire musste sich auf einen Stuhl sinken lassen und klammerte sich an die Lehne. Das Zimmer schien sich zu drehen, die Anstrengung verlangte Tribut. »Wie schwer ist es für ihn, in …«
Stahl erhob sich und schritt langsam zur Leiche. »Du hast ihn zerstört«, raunte er.
Sie sah auf ihre geröteten Knöchel, in ihrem Mund breitete sich ein saurer Geschmack aus. Sie sehnte sich nach einem von Fabians Toffees. »Er wollte mich …«
»Er wird nicht zurückkommen.« Stahl drückte die Lider des Toten zu. »Seine Seele ist zu nichts aufgelöst und verloren.« Er sah beunruhigt zu Hochschmidt. »Ich las bislang nur darüber.«
»Das ist die ungeheuerlichste Seelengabe von allen«, erklärte sie und stand auf. Sie half Fabian auf die Füße, dessen Gesicht noch bleich war, aber die Haut hatte sich bereits über dem Loch geschlossen. Er betrachtete die Stelle und vermochte es selbst kaum zu glauben.
Hochschmidt wischte sich die besudelten Finger am Tischtuch sauber, goss Mineralwasser aus einer Flasche darüber, um das Rot abzuwaschen. »Wer auf diesem Wege tötet, übernimmt einen Teil der Seele des Opfers.« Hochschmidt musterte Claire. »Taronow lebt in dir fort, als Splitter und vermutlich auch mit einer Gabe, die er besaß.«
»In mir?« Sie fürchtete sich bereits vor den Impressionen, die durch den Russen in sie Einzug gehalten haben könnten. Damit ahnte sie, dass sie auch Anastasias Seele vernichtet hatte, da sie deren Erinnerungen und Emotionen für Dubois besaß.
Sie legte eine Hand an die Stirn. Ihr wurde schlecht, als sie an die vielen Seelenfragmente dachte, die sie angeblich in sich tragen sollte. Haider. Tatjanna. Für Dubois’ Tod gab es noch keinen Beweis. Sie hatte ihn zwar ebenso zuckend wie Taronow in Wien auf dem Boden seines Labors zurückgelassen, aber es fühlte sich anders an. Ich streifte ihn lediglich mit dem Ellbogen.
»Können diese … Bruchstücke mein Denken übernehmen?« Claire suchte Hochschmidts Blick, die anscheinend die Versiertere in dieser Thematik zu sein schien. »Oder meine Persönlichkeit?«
»Es wird sich in fremden Flashbacks oder falschen Erinnerungen spiegeln. Abgesehen von Stress, Alpträumen und Situationen, in denen Sie unerklärliche Angst bekommen, dürfte Ihnen nichts geschehen.«
Claire fragte sich, ob es die Seelenwanderin mit ihrer Antwort ironisch meinte. Die Auflistung der Nebenwirkungen überwog keinesfalls den Nutzen dieser furchtbaren Gabe, die dafür gesorgt hatte, eine Bedrohung für ihre Lieben für immer auszuschalten. Ich muss lernen, wie ich sie kontrolliere. Noch besser wäre es, sie loszuwerden.
Hochschmidt sah nachdenklich aus. »Eine wahre Anomalie.«
Es klopfte gegen die Tür. »Brauchen Sie Hilfe?«, rief eine aufgeregte Stimme.
»Nein, alles in Ordnung, Schwester Elke. Nur ein Missgeschick.« Stahl betrachtete die Risse im Fensterglas, die sich unentwegt aufteilten und wie Adern entstanden. »Lassen Sie den Bürgersteig unterhalb des Büros bitte absperren. Hier werden dummerweise Scheiben zu Bruch gehen.«
»Mache ich, Herr Stahl.« Schritte entfernten sich.
Fabian begab sich neben Claire.
Sie legte dankbar eine Hand auf seine Schulter und roch dabei sein frisches Blut, das im Hemd haftete und langsam trocknete. »Meine Erklärung, was hinter Taronows Vorgehen stand, habe ich bekommen«, begann sie. Wenn auch anders als erwartet. »Ich schulde nun Ihnen die Erklärung, was Dubois und Anastasia beabsichtigten.«
Stahl setzte sich, inmitten des Durcheinanders. »Wir sind ganz bei Ihnen.«
»Der zweite Teil der Formel, den Anastasia schuf, griff auf die Seele der Opfer zu. Es war ein Extrakt, um die Menschen bösartiger, niederträchtiger zu machen.« Claire wühlte eine Flasche Cola aus den abgerundeten Splittern und öffnete sie an der Stuhlkante. Sie brauchte dringend Zucker. »Mit Hilfe der VoBeLa hätten sie es Pflegemitteln zugesetzt, in Zahnpasta, in Pflegecreme, in Shampoo, in Seife«, zählte sie auf. »Das Unternehmen hat Zulieferverträge mit internationalen Herstellern, seit neustem auch auf dem asiatischen Markt. Dann gibt es Verträge für Fluoridierung des Trinkwassers in amerikanischen Großstädten und das Patent für ein Vitaminpräparat, das in Trockenmilchpulver zugesetzt werden soll, um es in Entwicklungsländer einzuschmuggeln. Niemand wäre den beiden entkommen.«
Hochschmidt stieß einen Stöhnlaut aus, der ihr Entsetzen zeigte.
»Damit hätten sie die Seelenmasse aus dem Gleichgewicht gebracht: Sie wäre geflutet worden mit verdorbenen Seelen«, folgerte Stahl geschockt. »Das war ihr Plan! Die kommenden Menschen sollten von Natur aus schlecht sein.«
»Dubois und Anastasia hätten die Welt verdunkelt und zu einem Ort des Bösen gemacht«, stimmte Hochschmidt krächzend zu. »Auf ewig.«
»Daran arbeiteten sie lange. Ich habe nur nicht herausgefunden, warum sie es wollten.« Claire schüttelte sich, als sie sich Anastasias Erinnerungen ins Gedächtnis rief.
Stahl schien ratlos. »Weil ihnen der Sinn danach stand? Weil sie sich einen eigenen Vorteil erhofften, wenn es mehr Schlechtes in der Welt gibt? Alte Seelen neigen zu …« Er sprach nicht weiter, als könnte er zu viel verraten.
»Entsetzlich«, flüsterte Hochschmidt. »Wir ahnten nichts von dem Ausmaß.«
Alten Seelen neigen zu was? Zum Bösen? Weil sie zu lange leben? »Die Formel werde ich nicht preisgeben«, verkündete Claire. »Sie bleibt bei mir. Weder Sie beide noch jemand anderes erhält sie.«
Hochschmidt bedachte sie mit einem anerkennenden Blick. »Die Wächterin über die Zerstörung der Welt. Eine große Aufgabe.«
»Ich suchte sie mir nicht aus. Sie kam zu mir.« Claire atmete durch. Seelenwanderer sind grausam. Wie kann ich verhindern, dass ich werde wie sie? Gerne hätte sie aus einem Impuls heraus Fabians Hand genommen. »Und: nein.«
»Nein?«, echote Stahl.
»Falls Sie mich fragen, ob ich an Taronows Stelle trete und das Triumvirat ergänze.« Claire musste lächeln, als sie Überraschung auf den Gesichtern gegenüber sah. »Ich halte mich raus und bleibe Marlene von Bechstein.« Sie warf ihnen abwechselnd einen langen Blick zu. »Sie werden gegen Dubois in den Krieg ziehen. Habe ich recht?«
Hochschmidt nickte. »Das Maß ist voll. Wir haben seine Gefährlichkeit unterschätzt, viel zu sträflich unterschätzt. Wir kannten sein Bedürfnis nach persönlicher Macht und Ansehen, Reichtum und Geltung, aber … die Erde in die Finsternis zu führen, aus der es kein Entkommen geben kann, weil er die Quelle verseucht und mit jeder zurückkehrenden Seele schwärzer macht – das dürfen wir ihm nicht durchgehen lassen. Er wird es wieder versuchen.«
»Schon alleine wegen seines Teils der Formel ist es wohl an der Zeit, selbstlos zu handeln.« Stahl räusperte sich. »Wären Sie an unserer Seite, wenn wir ihn aufstöbern? Ihre Gaben sind unseren mindestens ebenbürtig.«
»Überlegen«, verbesserte Fabian genießerisch. »Weitaus überlegen.«
Bei dem Anliegen gab es kein Zögern, aber Claire wusste, dass sie keinem Seelenwanderer vertrauen konnte, außer Fabian, der insgeheim einen Kreuzzug gegen sie führte. Sie hatte nicht verziehen, dass man Taronows Morde an ihrer Familie als Privatsache tituliert hatte.
»Sie wägt ab, wie weit sie uns trauen kann«, erriet Hochschmidt ihre Gedanken.
»Es geht nicht um uns, wenn es ist, was Sie abschreckt. Je eher wir Dubois ausschalten, desto sicherer sind auch Ihre Lieben«, warf Stahl ein. »Einer seiner necessarii könnte zwischenzeitlich in Erfahrung bringen, wer in Lene Bechstein steckt, und Ihre Tochter als Druckmittel nutzen, um an das Formelstück zu gelangen, das ihm fehlt. Oder er geht an Pauline und Charlene. Dazu muss er nicht einmal wissen, wer Sie sind.«
Alles begänne von vorne. Claire mochte es nicht, schon wieder in eine Entscheidung getrieben zu werden. Sie sah auf Taronows erkaltenden Leichnam und das Blut, das aus seinem Mund gelaufen war. »Womöglich nimmt uns das jemand ab.«
Hochschmidt runzelte die Stirn. »Was wissen Sie noch?«
Claire trank die Cola in einem Zug leer und balancierte die Flasche auf dem Splitterberg aus, die sich vom Blut ihres Gegners rot wie Rubine gefärbt hatten. »Ein Mann war bei mir, der sich Inverno nannte. Er weiß, was Seelenwanderer sind. Anscheinend macht er Jagd auf sie.« Sie schüttelte sich, als sie sein schlankes Gesicht vor sich sah, in dem es nur ein Auge zu geben schien. Der Deal, den er ihr angeboten hatte, war nicht vergessen. »Er suchte Dubois«, log sie. »Ich gab ihm genügend Anhaltspunkte, damit er ihn finden kann.« Sie schluckte. »Sie sollten sich vor ihm hüten. Er jagt wohl alle Wanderer, vermute ich.«
»Aber er ließ Sie am Leben?« Stahl nahm sein Smartphone heraus. »Warum?«
»Er sagt, ich sei eine Anomalie.« Claire blickte zu Hochschmidt. »Wie Sie mich auch nannten.« Sie erhob sich. »Und jetzt gehe ich nach Hause. Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich Ihnen helfen kann, um Dubois zu lokalisieren oder ihn zu stellen.«
Fabian zog seine Jacke zu, so dass man seine Wunde nicht sah.
Wie zwei erfolgreiche Krieger wankten sie vom Schlachtfeld und lächelten sich kurz zu, bevor sie die Tür öffneten und den verwüsteten Besprechungsraum verließen.
Claire fühlte sich erleichtert, auch wenn nicht alle Sorgen gewichen waren. Der Mörder ihres Mannes und so vieler aus ihrer Linie war ausgelöscht. Nicola und Deborah würden sich ausnahmsweise über den Tod eines Menschen freuen dürfen.
Eine Alte Seele weniger. Nun wollte Claire nur noch in die Badewanne.
* * *