NASRIDS RACHE

 

 

 

»Ihr habt eine großen Schlacht geschlagen«, lobte Nasrid. Er stand neben dem erbeuteten Wiedererweckungstank, der in der Garage aufgebaut worden war, gleich neben der Sandschleuse. Seine Uniform war frisch gebügelt, die lederne Pistolentasche an seinem Gürtel glänzte. Die Fenneks standen im Kreis um ihn herum, auch Nina und die wenigen Frauen waren da. Tabea entdeckte ein paar unbekannte Gesichter. »Ihr wisst es vielleicht nicht, aber dieser Klotz hier«, Nasrid legte die Hand auf den Wiedererweckungstank, »der bis vor Kurzem eines des großen Geheimnisse der EF war, gibt uns Macht. Mein Bruder Hassan hat Jahre darauf gewartet, einen Wiedererweckungstank der EF in die Hände zu bekommen, und er ist sich sicher, in einem halben Jahr einen Wiedererweckungsprozess entwerfen zu können, der keine Zombies erzeugt, sondern Menschen ein zweites Leben schenkt. Bedenkt, was das heißt! Unsere Toten werden nicht tot sein. Bei dem Angriff auf den EF-Stützpunkt sind einige eurer Kameraden gestorben. Wir können sie nicht wiedererwecken, denn wenn Hassan seine Forschungsarbeit abgeschlossen hat, wird es für sie längst zu spät sein. Ich weiß, das erfüllt euch mit großer Trauer, mich auch. Aber ihr Opfer war nicht umsonst. Sie haben uns das Mittel an die Hand gegeben, in Zukunft den Tod noch weniger zu fürchten als bisher, denn wir wissen, dass er nicht endgültig sein muss. Zusätzlich hat Aslal eine der mächtigsten Kriegsmaschinen der Gegner erbeuten können: einen Kugelblitz. Hassan glaubt, dass wir bald in der Lage sein werden, selbst Kugelblitze zu bauen. Merkt euch das Datum dieses Tages, Fenneks: Er wird als Tag in die Geschichte eingehen, an dem wir begonnen haben zu siegen!«

Die Männer jubelten. Sie klatschten, johlten und riefen Sprechchöre gegen die weißen Unterdrücker, die ungläubigen Hunde, die EF und alle Kollaborateure. »Die Wüste wird frei sein«, hieß es, und: »Ruhm und Ehre dem Propheten.« Tabea sah hinüber zu Etienne. Auch er jubelte und johlte.

»Wenn ihr heute Abend schlafen geht«, sagte Nasrid, als sich der Lärm gelegt hatte, »denkt an die toten Kameraden, die uns diesen Triumph ermöglicht haben. Der ehemalige EF-Soldat Björn, genannt Dubb, hat nicht nur mit Karim und Nazar die Wiedererweckungskammer erobert und unter Einsatz seines Lebens so lange gehalten, bis wir den Tank herausholen konnten. Das Minenfeld, das er vorher mit einigen von euch in einer Getreideplantage des Gegners gelegt hat, hat auch euren Rückzug gedeckt. Wie ich eben erfahren habe, hat der Feind zwei Käfer bei dem Versuch verloren, das Minenfeld zu durchbrechen.«

Ein Raunen ging durch die Menge. »Lasst uns der toten Kameraden gedenken!« Er senkte den Kopf. Die Fenneks taten es ihm nach. Tabea platzte während der Schweigeminute beinahe, aber kurz bevor sie anfangen konnte, hysterisch loszulachen, hob Nasrid seinen Kopf und rief: »Und jetzt feiern wir!« Wieder Jubel, diesmal noch stärker als vorher. Tabea verzog sich nach oben in die Wohnhöhle, die sie mit Nina teilte. Erst in ihrer Hängematte wurde ihr bewusst, dass Björn jetzt wirklich und unwiderruflich tot war. Sie fühlte sich so einsam wie noch nie in ihrem Leben. Die Einsamkeit auf der Karawane, selbst die Einsamkeit in der Wüste waren nichts dagegen gewesen. Ohne Hoffnung lag sie reglos in ihrer Hängematte, bis sie schließlich einschlief.

Der erste Schlag ließ sie zurücktaumeln. Sie hob instinktiv die Hände. Nasrid setzte ihr nach.

»Meinst du, ich hätte vergessen, dass du versucht hast, uns zu verraten? Meinst du, ich hätte deine Frechheiten vergessen? Dass du uns für deinen läppischen kleinen Fluchtversuch bestohlen und hintergangen hast? Dass du versucht hast, unseren wertvollsten Kämpfer gegen uns aufzubringen?« Nasrid hatte Tabea in eine Ecke gedrängt, sie stand mit dem Rücken zur Wand und konnte nirgendwohin fliehen. Er schlug sie noch einmal.

»Meinst du, so was vergesse ich? Meinst du, damit kommst du hier durch?«

Noch ein Schlag und noch einer. Er strengte sich nicht einmal besonders an, aber seine Ohrfeigen trafen trotz ihrer abwehrend erhobenen Hände.

»Wo ist dein Björn jetzt? Kann er dich schützen, der tapfere Björn, der so gut für uns gekämpft hat? Er ist tot, ein Häufchen Asche, das bald in der Wüste verstreut wird.« Die Schläge kamen jetzt von rechts und links, sie spürte, dass ihre Nase blutete, durch die Tränen hindurch konnte sie fast nichts mehr sehen.

»Und weißt du, was ich jetzt mit dir mache? Ich verschenke dich. Wie ein räudiges Kamel, das nichts mehr wert ist.« Rechts, links, rechts, links. Dann kamen keine Schläge mehr. Nasrid war ganz ruhig. Tabea atmete keuchend. Zitternd wagte sie noch nicht, die Arme wieder sinken zu lassen. »Wenn du den Boden mit Blut versaust, bring ich dich um«, sagte Nasrid. »Hau ab!«

Tabea taumelte halb blind zur Tür hinaus, die Wachen lachten sie aus. Unten säuberte ihr Nina wortlos das Gesicht. Dann ließ sie Tabea allein. Tabea wollte aufhören zu weinen, aber sie konnte es nicht.

Später fühlte sie sich nur noch leer. Sie wusste nicht, was Nasrid mit ihr vorhatte, ihr Gesicht schmerzte. Bevor sie begriff, was sie tat, machte sie sich an Björns zurückgelassenem Rucksack zu schaffen. Sie breitete den Inhalt vor sich aus, das Rollerbike, die wenigen Kleider, das Armeemesser. Sie prüfte, was sie davon vielleicht behalten wollte, weil sie den Gedanken nicht ertrug, von hier weggeschafft zu werden, ohne irgendetwas von Björn bei sich zu haben, irgendein Erinnerungsstück. Sie hatte ihn zum Schluss gehasst. Aber nicht so sehr, dass sie ihm gönnte, was mit ihm geschehen war. Und außerdem brauchte sie eine Erinnerung an ihr altes Leben. An die Zeit vor der Wüste. Unbedingt. Während sie Björns Sachen hin- und herschob, geriet ihr ein Gegenstand in die Hände, den sie nicht gleich identifizieren konnte. Im grünlichen Licht der Schlafhöhle musste sie ihn erst dicht vor ihre Augen halten: Es war die kleine Vase, die daheim in der Wohnung gestanden hatte, auf dem Flurtisch. Vollgestopft mit Papier hatte sie die Reise nach Nordafrika überstanden, den Guerillakrieg in der Wüste und Björns Tod. Tabea wusste nicht, was sie Björn bedeutet hatte. Sie war ihm so wichtig gewesen, dass er sie eingepackt hatte. Tabea nahm sie an sich. Den Rest seiner Habseligkeiten schob sie an der Wand zu einem unförmigen Haufen zusammen. Den würde sie hier lassen.

Nach den Schlägen Nasrids hatte sie gedacht, jetzt könne nichts Schlimmeres mehr kommen, aber als sie im Kamelstall der Basis zum ersten Mal der Fennekfrau begegnete, merkte sie, dass das dumm von ihr gewesen war. Man musste nur einmal in ihre Augen sehen, um sich vor ihr zu fürchten. Sie waren von einem stechenden Blau und strahlten einen kalten Hass aus, der Tabea sofort die Kehle zuschnürte. Ihre Augen standen in einem seltsamen Kontrast zu der tiefbraunen Haut, der noch verstärkt wurde durch ihren blendend weißen Umhang. Sie war nicht viel größer als Tabea, aber die Luft um sie herum schien von einer seltsamen Energie zu vibrieren, die sogar die Kamele nervös machte. Sirit hieß sie. Abdellatif war in der Nähe, aber er würde keine Hilfe sein. Erstens hatte er ihr den Fluchtversuch nie verziehen, weil er selbst dafür mit zehn Stockhieben bestraft worden war, zweitens hätte er gegen Sirit genauso wenig machen können wie alle anderen. Aslal wäre ihr vielleicht gewachsen gewesen oder Nasrid. Björn vielleicht auch. »Was glotzt du mich so an?«, fragte Sirit. »Auf die Knie!«, befahl sie.

Ihre Stimme war erstaunlich tief. Sie hatte gar nicht geschrien, aber Tabea beeilte sich zu gehorchen. Trotzdem wurde sie von Sirit geschlagen, zwischen Schulter und Hals. Nicht einmal besonders fest, aber es tat so weh, dass Tabea kurz die Luft wegblieb. Sirit kam näher. Tabea wagte nicht aufzusehen. Etwas Kaltes, Schweres wurde ihr um den Hals gelegt, es fühlte sich an wie ein ungewöhnlich dickes Halsband. Es schloss sich in ihrem Nacken mit einem metallischen Klicken. Sirit berührte das Halsband erst einmal, dann zweimal, und plötzlich geschah etwas sehr Seltsames: Es war, als gieße man kaltes Wasser ihren Rücken hinab, von innen. Sie wollte aufschreien, aber zu ihrem Schrecken dauerte es schier ewig, bis sie ihren Kehlkopf, ihre Zunge, ihre Lippen bewegen konnte, und selbst dann kam nur ein klägliches Blöken aus ihrem Mund, das sich in ihren Ohren nicht mehr menschlich anhörte. Sie wollte von Sirit wegrutschen, um sich in Sicherheit zu bringen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. »Steh auf!«, befahl die Frau.

Tabea beeilte sich, aber all ihre Glieder fühlten sich an, als seien sie aus Blei. Jetzt hörte sie zum ersten Mal das hohe Summen, das von dem Halsband ausging.

»Schneller!«, kommandierte Sirit und hob ihren Stock. Tabea brach der Schweiß aus, sie kämpfte gegen das Blei in ihren Knochen an. Dann stand sie endlich.

»Das muss noch besser werden«, sagte Sirit. »Das wird besser werden. Wie ich höre, hast du ein bisschen für Aufsehen gesorgt, indem du einen Zombie aus Europa herausgeschmuggelt hast. Hast du dich je gefragt, wie sich ein Zombie fühlt? Deine Neugier wird gerade befriedigt. Das Sklavenband um deinen Hals benutzt zwar eine andere Technik, aber das Ergebnis ist das gleiche.«

Tabea wollte »Ich…« sagen, aber sie hatte den Mund noch gar nicht richtig aufgemacht, da fuhr ihr Sirit dazwischen. »Still! Ab jetzt redest du nur, wenn du gefragt wirst. Außerdem haben wir sowieso schon zu viel Zeit verplempert. Komm jetzt.« Ein Wüstenbuggy stand bereit, um Sirit, zwei Leibwachen und Tabea von der Basis wegzubringen. Willenlos folgte Tabea ihrer neuen Herrin.

Es war schon dunkel, als sie beim Zeltlager der Fennekfrauen ankamen. Der Buggy tauchte sofort wieder in den Untergrund ab, der Fahrer würde ihn zur Basis Nasrids zurückbringen. Die letzten Meter zum Zeltlager gingen Sirit und Tabea zu Fuß. Die Feuer brannten schon, das größte genau in der Mitte des zeltumstandenen Platzes. Alle Fennekfrauen standen auf, um ihre Anführerin zu begrüßen. »Setzt euch«, sagte sie, und die Frauen gehorchten. Der Widerschein des flackernden Feuers tanzte über die Gesichter der Frauen, die alle Sirit zugewandt waren. »Wie die meisten von euch wissen«, begann Sirit, »war ich bei meinem alten Freund Nasrid, um ein Geschenk abzuholen. Esst, trinkt und sprecht miteinander, aber nicht zu lange, morgen wird ein harter Tag werden.«

Die Frauen nickten und bekundeten murmelnd ihre Zustimmung.

Sirits Zelt war das größte. Tabea wollte ihr ins Innere folgen, aber Sirit stoppte sie mit einem Schlag vor die Brust. »Was fällt dir ein?«, zischte sie mit funkelnden Augen. »Du schläfst bei deinesgleichen.«

Dann ließ sie die Zeltbahn fallen. Tabea stand vor dem Eingang und wusste nicht, was sie tun sollte. Nachdem sie eine Weile unschlüssig herumgestanden hatte, wurde sie so heftig ins Kreuz geschlagen, dass sie vornüber fiel.

»Du dummes Stück«, hörte sie, während sie sich mühsam aufrappelte. »Weißt du nicht, wo dein Platz ist?« Zwei Frauen zerrten sie vom Zelteingang weg. Neben dem Zelt lag ein Deckenhaufen auf der Erde. Tabea wurde zu Boden gestoßen, sodass sie auf die Decken fiel. Dort blieb sie eine Weile liegen. Sie war so verwirrt und verletzt, dass sie einfach nur durchatmen und warten wollte, bis der Schmerz nachließ. Die Decken stanken nach Schweiß und Schmutz. Der klare Sternenhimmel über der Wüste saugte ihr die Wärme erst aus den Muskeln, dann aus den Knochen. Vom Feuer her hörte sie leises Gelächter. Unter dem Deckenhaufen bewegte sich etwas. Ein Gesicht tauchte zwischen den Lumpen auf, es war schmutzbeschmiert, halb verdeckt unter wirrem Haar. »Hallo«, sagte das Mädchen mühsam. An seinem Hals blinkte ebenfalls ein Sklavenband. »Komm! Decken!« Das Gesicht verschwand wieder. Verzweifelt grub sich Tabea in den Deckenhaufen ein, um nicht zu erfrieren.

 

 

Lärm weckte sie auf. Schwerfällig schob sie die Decken zur Seite, und erst, als sie sich daran erinnerte, dass sie jetzt ein Zombie war, begriff sie, warum sie solche Mühe damit hatte. Den Kopf aus dem Deckenhaufen heraus zu stecken, brachte ihr nicht mehr Klarheit. Es war noch Nacht, das Feuer brannte. Über ihrem Kopf zischten Feuerlanzen in die Zelte hinein, begleitet von einem Singen, das klang wie eine Mitrailleuse beim Schießen, nur lauter und tiefer. Endlich dämmerte ihr: Das Lager wurde angegriffen. Sie glaubte, ab und zu die halb erstickten Schreie der Fennekfrauen zu hören, die im Schlaf von dem Angriff überrascht worden waren; vereinzelt schien es auch konfuse Gegenwehr zu geben, von den Wachen, die um das Lager herum postiert gewesen waren. Jemand zog sie aus dem Deckenhaufen, trug sie weg. Sie versuchte sich zu wehren, aber sie war ja viel zu langsam und zu verfroren dazu. Man schob sie in das Innere eines Wüstenbuggys. Die Heckluke knallte zu. Sie konnte spüren, wie das Fahrzeug in den Untergrund sank. Sie versuchte sich wenigstens auf den Ellenbogen abzustützen, aber noch bevor ihr das gelang, erschien ein wildes, verschwitztes, grinsendes Gesicht über ihr. Sie erkannte es nicht gleich. »Wir haben es geschafft!«, sagte der Mann. »Wir haben es geschafft!«

»Etienne«, krächzte sie mir ihrer verlangsamten Stimme. »Da ist noch jemand in dem Deckenhaufen! Eine Sklavin!« Aber Etienne war schon verschwunden. Er schwang sich in den Fahrersitz und übernahm die Steuerung des Wüstenbuggys vom Autopiloten.