DIE BASIS
Tabea war nicht so gut gelaunt wie Björn. Sie hatte immer noch mit den Ereignissen seit der Ankunft in El Dschaem zu kämpfen: der tote Soldat, die Flucht durch den Basar, die Altstadt und die Katakomben, der Kampf mit der EF-Patrouille und der Sandsturm, all das flimmerte noch durch ihren Kopf. Wie konnte Björn nur mit diesen Leuten über die komische Karre reden, in der sie saßen? Gab’s nichts Wichtigeres für ihn im Moment? Er hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden drei Menschen getötet und es schien ihn überhaupt nicht zu stören. So hatte sie sich die Flucht nach Afrika nicht vorgestellt: dass sie ohne Plan in der Gegend herumfuhren und dabei Leichen hinterließen. Tabea hatte plötzlich eine Mordswut auf Björn. Als Zombie hast du mir besser gefallen, dachte sie. Einige Stunden später, nach einer nervtötend langweiligen Fahrt, hielten sie plötzlich an. Dann hatte Tabea für einen Moment den Eindruck, der Boden würde unter ihr wegsacken, wie in einem Fahrstuhl auf dem Weg nach unten. Dann ging es nach vorn, dann kam wieder das seltsame Fahrstuhlgefühl, allerdings in die umgekehrte Richtung. Schließlich Stille. »Unglaublich…«, murmelte Björn und in diesem Moment wurde die hintere Klappe des Gefährts aufgerissen.
Ein junges Gesicht schaute herein. Der Mann sagte auf Euro: »Na, ihr Pfeifen, wollt ihr im Wüstenbuggy übernachten?« Die Kämpfer nahmen es gelassen und kletterten ins Freie. Draußen reckten und streckten sich alle. Tabea staunte. Sie standen in einem Hangar, der genug Platz für zehn solcher Wüstenbuggys hatte. Der Raum war hell erleuchtet, entlang der Wände zogen sich Werkbänke, einige Mechaniker in blauen Overalls arbeiteten gerade an Geräten, die wie Motoren aussahen. Motoren mit Zylindern aus Perlmutt. Es roch nach Öl und Stein.
»Ja, wen haben wir denn da?«, sagte der Mann, der vorhin die Klappe des Buggys geöffnet hatte. »Etienne«, stellte er sich vor und gab zuerst Björn, dann Tabea die Hand. »Kommt schon«, sagte der Anführer der Gruppe, die sie gefangen hatte. »Nasrid erwartet euch.«
»Wir müssen uns unbedingt mal unterhalten«, rief Etienne ihnen nach.
»Gern«, rief Tabea über die Schulter. Sie stiegen Treppen. Um sie war das grünliche Licht der seltsamen Lampen, die schon die Wüstenbuggy-Werkstatt erleuchtet hatten, bald verschwand der Ölgestank, aber der Geruch nach trockenem Stein, Sand und Schwefel blieb. Etage für Etage liefen sie an Türen vorbei, die mit arabischen Schriftzeichen besprüht waren, ein bisschen wie in einem Parkhaus, fand Tabea, nur dass dieses Parkhaus aus dem nackten Stein gehauen worden war. Kurz danach endeten die Treppenstufen, anscheinend auf der obersten bewohnten Etage dieser Höhle, und sie betraten einen Vorraum, der von mehreren schwer bewaffneten Männern bewacht wurde. Die Wachen traten zur Seite, und der Kerl, der sie von der Garage bis nach hier oben begleitet hatte, schob eine dunkle Panzertür auf. Mit abwehrend ausgestreckter Hand bedeutete er Tabea und Björn zu warten. Tabea bemerkte, wie sie und Björn von den Wachsoldaten gemustert wurden, aber niemand sprach. Der Breitschultrige kam zurück. »Ihr könnt jetzt rein«, sagte er und verabschiedete sich.
Drinnen war alles im orientalischen Stil eingerichtet. Sitzkissen lagen zwischen niedrigen Schemeln und Tischen, sogar eine große Wasserpfeife stand in einer Ecke. Wände und Fußboden waren mit Teppichen bedeckt, es gab Bilder eines Mannes, den Tabea nicht kannte, mit arabischen Losungen darunter, die sie nicht lesen konnte. Der Steingeruch wurde hier mit einem schweren Rosenduft bekämpft. Tabea bemerkte, wie vorsichtig sich Björn bewegte, als sei er vor irgendetwas auf der Hut. Auf einem niedrigen Schemel, an die Wand gelehnt, saß ein Mann von vielleicht vierzig Jahren. Er war in grünes Drillichzeug gekleidet und aß Kirschen von einem silbernen Teller, deren Kerne er geräuschvoll in eine daneben stehende Schale spuckte. Auf dem Schoß des Mannes lag eine Mitrailleuse. Nach einer Weile stellte er das Obst beiseite und sagte in akzentfreiem Euro: »Salaam. Mein Name ist Nasrid. Und wer seid ihr?«
»Ich bin Björn, ehemaliger Soldat der EuroForce, und das ist Tabea, meine Schutzbefohlene.«
Das kam Tabea so absurd vor, dass sie fast gelacht hätte. Bei der Antwort Nasrids blieb ihr allerdings das Lachen im Hals stecken.
»Soso«, sagte er, »der Soldat und das Mädchen. Bevor wir uns, lieber Björn, ernsthaft unterhalten, würde ich zunächst einmal vorschlagen, Tabea vor die Tür zu schicken. Sie ist bei meinen Männern gut aufgehoben.«
»Tabea bleibt«, entgegnete Björn. »Sie steht unter meinem Schutz.«
Nasrid lachte leise. »Wie du meinst. Dann setzt euch.« Sie nahmen auf dicken, troddelbesetzten Kissen Platz. »Für mich«, fuhr Nasrid fort, »seid ihr erstens Gefangene und zweitens ein Problem. Ihr taucht aus dem Nichts auf, zusammen mit einem dieser Drecksschmuggler aus El Dschaem, dringt in unser Operationsgebiet ein, liefert euch ein Gefecht mit einer EF-Patrouille, besiegt sie, überlebt einen Sandsturm in einem Gleiterwrack und habt scheinbar richtig viel Spaß bei all dem. Während du in unserem Wüstenbuggy gesessen hast, haben wir deine biotronische Ausrüstung ein wenig gescannt. Du scheinst früher ein Zombie gewesen zu sein. Wenn das stimmt, bist du ein echtes Wunder. Wo, bitte schön, kommt ihr eigentlich her?«
»Aus Deutschland«, antwortete Björn, »mit einer Karawane, die in El Dschaem Endstation hatte. Wir sind mit einer Gruppe von Freeriders gereist, ich habe in der Karawanserei von El Dschaem einen EF-Wachoffizier getötet, seine Mitrailleuse an mich genommen. Nachdem wir uns von den Freeriders getrennt hatten, konnten wir der EF zunächst entkommen. Der Kampf mit der Patrouille ist euch ja nicht entgangen. Ich habe auch eine Frage an dich, Nasrid. Wie konntet ihr uns die ganze Zeit beobachten, ohne dass ich es bemerkt habe? Und wenn ihr Fenneks seid, wie ich vermute, warum habt ihr uns gegen die EF-Patrouille nicht geholfen?«
Nasrid lächelte, anscheinend von der Frechheit Björns amüsiert. Tabea fand sein Lächeln unangenehm. »Sieh da«, sagte Nasrid, »deiner Meinung nach sind wir also Fenneks. Und Mut hast du, das muss man dir schon lassen.«
»Wie wahr«, sagte eine Stimme aus einer anderen Ecke des Raums, und erschrocken drehten sich Björn und Tabea in die Richtung, aus der sie gekommen war. Dort war ein Vorhang, von dem Tabea geglaubt hatte, dass er vielleicht einen Durchlass zu weiteren Zimmern des Hauptquartiers verdeckte, aber offenbar saß dahinter jemand, der das Gespräch zwischen ihnen und Nasrid genau verfolgt hatte. Nasrid selbst war ganz ruhig geblieben.
»Mein Bruder Hassan«, sagte er. »Er sitzt gern hinter diesem Vorhang, wenn hier Gespräche stattfinden, und hört zu.«
»Gewiss, Nasrid. Ich sitze hinter diesem Vorhang, liebe Gäste, weil ich vor vielen Jahren durch einen Unfall entstellt wurde und mein Äußeres nur ungern anderen Menschen zumute. Um deine Frage zu beantworten, Björn: Wir konnten dich beobachten, weil wir über die Wüstenbuggys verfügen. Ihr seid mit einem hergekommen, in der Garage habt ihr andere gesehen. Diese Fahrzeuge können nicht nur durch Sandstürme fahren – und tun das auch regelmäßig, um sich der Überwachung durch die EF zu entziehen –, sie können auch unter der Sandoberfläche fahren. Manche sehen in ihnen U-Boote für die Wüste, obwohl sie sich auf völlig andere Weise fortbewegen. Es ist eine Kombination aus dem Sechsradantrieb, der dir ohne Frage aufgefallen ist, und den Tricks, mit denen sich Schlangen über den Wüstensand bewegen. Ich habe die Buggys konstruiert wie auch die Sandschleusen, die Energieversorgung, die Kühlungssysteme und die Beleuchtungseinrichtungen, die es uns erlauben, in ausgehöhlten Felsen wie diesem hier zu leben, ohne von der EF aufgespürt zu werden.«
»Unglaublich«, sagte Björn, seine Stimme war voller Respekt. »Und ihr könnt ernsthaft etwas gegen die EF ausrichten?«
»Zunächst einmal«, antwortete Hassan, »wollen wir überleben. Die EF auf strategischem Niveau angreifen? Später vielleicht.«
»Ich will mich euch gern anschließen. Ich will wieder Soldat sein.«
Tabea reichte es.
»Was soll das? Was ist mit dir los?«, zischte sie. »Du kennst diese Leute doch gar nicht!« Nasrid lachte. »Siehst du, was ich meine? Kaum lässt man Frauen an einem ernsthaften Gespräch teilnehmen, schon machen sie Schwierigkeiten. Es ist edel, dass du bei uns mitmachen willst. Aber wer bei uns mitmacht, darüber entscheiden wir. Und bevor wir das entscheiden können, müssen wir dich gründlich untersuchen. Vom Ergebnis dieser Untersuchung hängt alles Weitere ab.«
»Ich bin bereit«, sagte Björn und stand auf. Tabea machte es ihm voller Missmut nach.
»Wunderbar«, sagte Nasrid und klatschte dreimal in die Hände. Die Tür öffnete sich und zwei der Wachsoldaten kamen herein.
Auf die Brandschutztür, vor der sie standen, hatte jemand nicht nur ein paar arabische Schriftzeichen gesprüht, sondern auch ein Symbol, das Björn gut kannte: eine zarte stilisierte Blume, von oben gesehen, weiß auf rotem Hintergrund, dreiblättrig. Das Zeichen für biologische Gefahren. Das gleiche Zeichen war in der Kaserne überall dort zu finden gewesen, wo man ihn auf seinen Einsatz vorbereitet hatte, wo er operiert, kalibriert und konditioniert worden war, wo man ihm die Schnittstelle gelegt und seinen Körper biochemisch darauf getrimmt hatte, die meiste Zeit in einem Käfer zu verbringen. Seine Aufregung wuchs. Er nahm kaum wahr, dass Tabea neben ihm stand, immer noch verärgert wegen Nasrids Verhalten und Björns Begeisterung für die Technik der Widerständler. Einer der Wachsoldaten legte seine Hand auf die Tür, wenige Sekunden später öffnete sie sich von selbst.
»Sie nicht«, entschied der zweite Wachsoldat und hinderte Tabea daran, ihm durch die Tür zu folgen. »Bis später«, sagte Björn hastig zu Tabea, und betrat einen gut ausgeleuchteten, in den rötlichen Stein gehauenen Gang. Der zweite Wachsoldat lief ihm voraus. Sie kamen an mehreren Türen vorbei, jede einzelne mit Zeichen markiert, die Björn nicht lesen konnte. An einer von ihnen blieb der Soldat stehen und legte wieder die Hand darauf. Die Tür öffnete sich, dahinter lag ein heller Raum.
»Ich bleibe draußen«, sagte der Wachsoldat lächelnd. Mitten in dem Zimmer stand eine Liege, die an den Behandlungsstuhl eines Zahnarztes erinnerte. Zwei Männer saßen auf gewöhnlichen Bürodrehstühlen an ihren Arbeitstischen, sie standen auf, um ihn zu begrüßen. Sie waren einander ähnlich wie Brüder, trugen das gleiche Drillichzeug, hatten die gleichen dunklen Augen, schwarzen Haare und Oberlippenbärte. »Ich bin Seif«, sagte der größere von ihnen, »das ist Abdul.«
»Was geschieht hier mit mir?«, fragte Björn. »Wir werden prüfen, ob du lügst«, sagte Abdul. »Dazu lesen wir deine Neuroports aus und analysieren deine Käferschnittstelle. Vor allem wollen wir herausfinden, ob du tatsächlich ein Wiedererweckter bist, genauer gesagt: ein ehemaliger Wiedererweckter.«
»Ich lüge nicht«, sagte Björn. »Leg dich bitte hin«, entgegnete Seif.
Björn streckte sich auf der Liege aus. Die Unterlage passte sich sofort seiner Körperform an, nach kurzer Zeit hatte er das Gefühl, in einem Bett zu liegen, das nur für ihn gemacht war. Die Decke des Zimmers war hellgrau. »Liegst du gut?«, fragte Abdul. Björn nickte.
»Weißt du, was das ist?« Abdul beugte sich über ihn und drehte einen seltsamen Gegenstand vor Björns Kopf hin und her. Er hatte die Form eines Haarreifs, glänzte silbrig, war auf einer Seite glatt und auf der anderen vielfach gemustert und geriffelt.
Björn hatte etwas Ähnliches bei medizinischen Untersuchungen in der Armee schon einmal gesehen. »Es ist eine Art Scanner«, erklärte Abdul. Er sprach wie ein routinierter Arzt. »Damit können wir gut sehen, was in den natürlichen wie auch in den künstlichen Teilen deines Gehirns vor sich geht. Hebst du bitte deinen Kopf leicht an?« Björn gehorchte. Dabei sah er Seif am Fußende der Liege stehen, scheinbar unbeteiligt, lächelnd. Abdul schob Björn den silbrigen Haarreif unter, sodass Björns Hinterkopf darauf zu liegen kam, als er sich wieder auf die Liege zurücksinken ließ. »Schließ die Augen«, bat Abdul. Björn hörte Seif einen Schritt machen, dann ein leichtes Zischen, er spürte einen leisen, prickelnden Schmerz in seiner rechten Armbeuge. »Damit wir dich besser untersuchen können, müssen wir dich betäuben«, sagte Abdul.
Björn wollte nach ihm greifen, sich an ihm festhalten, aber er sank unaufhaltsam in ein großes schwarzes Loch.
Tabea war genervt. Sie wartete ein paar Minuten mit dem Wachsoldaten vor der Tür, dann dachte sie sich: Leckt mich doch alle, und ging einfach. Der Soldat kümmerte sich gar nicht um sie, besser hätte er seine Verachtung nicht zeigen können. Tabea lief die Treppen hinunter, Etage für Etage. Sie begegnete einer Gruppe von Kämpfern, die ebenfalls keine Notiz von ihr nahmen. Unten in der Garage, wo die Wüstenbuggys standen, wurde immer noch gearbeitet. Einer der Mechaniker trug eine Schutzbrille und schnitt Bleche zu. Als sie vorbeikam, schaute er sie an und rief dann etwas auf Arabisch, was sie nicht verstand.
»Was?«, fragte sie auf Euro. »Hau ab«, sagte er. »Ich arbeite hier mit dem Laser, wenn du hineinschaust, wirst du blind.« Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Tabea hatte insgeheim gehofft, Etienne hier zu treffen, aber er schien nicht da zu sein. Sie ging an dem sandgefüllten Becken vorbei, das in den Steinboden eingelassen war. Noch während sie das Becken betrachtete – es erinnerte an einen einfachen Sandkasten – kam das Dach eines Wüstenbuggys zum Vorschein, hob sich aus dem Sand, der rechts und links herunterrieselte, die sechs Räder des Gefährts wühlten sich frei, und das Fahrzeug rumpelte auf den steinernen Boden der Garage. Tabea wartete nicht, bis die Insassen ausstiegen. Am Ende der Garage kitzelte ein strenger Geruch nach vergammelter Wolle, Sand und Dung ihre Nase. Von da führte ein Gang nach rechts, Tabea folgte ihm und stand plötzlich in einem Kamelstall. Hier herrschte ein Licht wie in der Wüste kurz vor Sonnenuntergang, der Boden war sandig, Mauern und Decke konnte sie nur schwer ausmachen, es war viel wärmer als in der Garage. Es gab keine Boxen und keine Tränken wie in Kuh- oder Pferdeställen; die Kamele lagen einfach nebeneinander auf dem Boden. Tabea begriff: Die Tiere sollten glauben, sie befänden sich unter freiem Himmel. Zum Glück waren sie angebunden. Einige wandten ihr die Köpfe zu. Der ganze Stall wurde unruhig, als sie sich weiter hineinwagte, manche der Tiere blökten, bleckten die Zähne und schienen nach ihr schnappen zu wollen. Sie bekam Angst, wollte aber trotzdem sehen, wie weit sie kam, bevor sie sich in die Flucht schlagen ließ. Plötzlich, ohne Vorwarnung, klaffte ein Loch in der Wand, ein Mann kam hindurch, der ein Kamel an der Leine hinter sich herführte. Er war gekleidet wie ein Tuareg, auf dem Kopf trug er den typischen blauen Turban, sein Gewand schimmerte, in seinem Gürtel steckte ein Säbel und in der linken Hand trug er eine Mitrailleuse. Er stutzte, als er die Unruhe im Stall bemerkte, bei Tabeas Anblick richtete er die Waffe auf sie und bellte etwas auf Arabisch.
Tabea riss die Hände hoch. »Nicht schießen!«, flehte sie auf Euro.
»Wer bist du?«, schrie der Fremde zurück. »Wie kommst du hierher? Weiß der Madugu, dass du hier bist? Antworte!«
»Halt, halt, halt«, rief jemand in ihrem Rücken und ging an ihr vorbei auf den Tuareg zu, mit beruhigend erhobenen Händen. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung erkannte Tabea, dass Etienne ihr zu Hilfe gekommen war. »Das ist in Ordnung. Ich kenne sie. Du weißt noch nichts von ihr, Aslal, weil du unterwegs warst. Sie ist erst heute mir ihrem Freund hier angekommen, Nasrid weiß Bescheid.«
»Du solltest besser auf deine Freundinnen aufpassen«, sagte Aslal. »Sie hat hier im Stall nichts verloren. Schaff sie raus.« Er hängte sich die Mitrailleuse über die Schulter und führte das Kamel zu seinem Liegeplatz. Mit einem Stöckchen in der rechten Hand brachte er es dazu, niederzuknien und sich dann hinzulegen. Jetzt folgten weitere Tuareg mit ihren Kamelen. An eines der Tiere waren drei Männer gebunden. Sie trugen zerrissene Uniformen, wie sie Tabea schon von der feindlichen Patrouille kannte. Offensichtlich hatten die Tuareg drei EF-Soldaten gefangen genommen. Alle drei waren verletzt. »Seid ihr immer noch da?«, schrie Aslal Etienne an. »Komm, hauen wir ab«, sagte Etienne leise zu Tabea. »Hier riecht’s mir zu stark nach Dung.«
Tabea folgte ihm nur zu gern nach draußen in die Werkstatt. Sie gingen in eine kleine Höhle gleich neben der Werkstatt, die aussah, als würde sie als Aufenthaltsraum genutzt. Hier gab es Spinde, Poster von leicht bekleideten Sängerinnen oder Schauspielerinnen an den Wänden, zwei, drei wackelige Tische und ein paar schmutzige Kissen auf dem Fußboden, der länger nicht gefegt worden war. Etienne ging zu einem der Schränke und nahm ein weiß eingewickeltes Päckchen und eine Thermoskanne heraus.
»Hör mal«, sagte er, als er sich gesetzt hatte, »eins musst du begreifen. Du kannst hier nicht einfach in der Basis herumlaufen und deine Nase in Sachen stecken, die dich nichts angehen. Vor allem nicht als…«
»… Frau?«, fragte Tabea schnippisch.
»Genau«, sagte Etienne, als habe er den sarkastischen Unterton in ihrer Stimme nicht bemerkt. »Wir sind das hier nicht gewohnt, weißt du, es gibt nur wenige Frauen hier, und sie kommen nicht aus dem Norden.«
»Na, fabelhaft«, gab Tabea zurück. »Ich komme aber nun mal zufällig aus dem Norden. Und was wollt ihr jetzt mit mir machen? Mich in einen Sack stecken und festbinden?« Etienne wickelte das Päckchen aus. Kalte Falafel in Fladenbrot. Als Tabea das Essen sah, fing ihr Magen so laut zu knurren an, dass selbst Etienne es hörte. Er lachte und hielt ihr eines der gefüllten Brote hin.
Sie nahm es zögernd an und biss hinein. Feuer! Das war viel schärfer als jede Falafel, das sie je in Deutschland gegessen hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie auf dem brennenden Kloß in ihrem Mund herumkaute. Etienne betrachtete sie grinsend. Weil sie sich keine Blöße geben wollte, lächelte sie zurück. Etienne goss ihr aus der Thermoskanne ein. »Wenn das Brennen ein wenig nachlässt, spülst du mit Tee nach. Aber erst dann.«
»Ich mag scharfes Essen«, sagte Tabea trotzig, und biss ein zweites Mal ab. Jetzt war das Kauen schon nicht mehr so schmerzhaft.
»Aha«, sagte Etienne. »Sag mal, ist das eigentlich wahr, was man sich über euch erzählt? Dass ihr aus Österreich geflohen seid? Und dass dein Freund…«
»Björn meinst du?«
»Genau… also, dass er früher zur EF gehörte und danach ein Zombie war. Deine… deine… wie heißt das noch gleich?«
»Vaterfigur. Und wir sind aus Deutschland, nicht aus Österreich.«
»Aha. Genau. Vaterfigur. Ist das wahr?«
Tabea erzählte ihm alles. Als sie zum ersten Mal das Wort »Karawane« benutzte, schnaubte Etienne verächtlich. »Karawanen! Ihr wisst doch gar nicht, was das ist. Wir haben hier Karawanen. Ihr habt Lastzüge!« Aber ansonsten hörte er geduldig und aufmerksam zu. Als sie fertig war, schwieg er eine Weile, beeindruckt, wie es schien.
»Und er hat euch aus El Dschaem rausgebracht? Und diese EF-Patrouille fertiggemacht, nur mit einer Mitrailleuse? Und du warst die ganze Zeit dabei?«
»Sag ich doch«, antwortete Tabea, der es nicht schlecht gefiel, dass sie etwas zu erzählen hatte, was Etienne Respekt abnötigte. Mit dem Fladenbrot war sie mittlerweile fertig. »Wo ist Björn eigentlich jetzt?«, fragte er und nahm einen Schluck aus seiner Teeschale.
»Oben untersuchen sie ihn gerade«, sagte sie leichthin. »Er will sich euch anschließen.«
Etienne blickte auf. »Er ist schon bei den Ärzten? Bei Abdul und Seif?«
»Weiß nicht, wie die heißen. Haben mich ja vor der Tür stehen lassen, deine Kameraden. Aber es war das Stockwerk mit dem komischen Zeichen an der Tür.« Etienne nickte nachdenklich.
»Und du?«, fragte Tabea.
»Was: ›und ich‹?« Er stellte die Teetasse ab und sah sie misstrauisch an.
»Ich mein ja nur«, sagte Tabea eingeschüchtert, »dein Name und alles…«
»Was soll das heißen, ›mein Name und alles‹?« Er hielt inne, als plötzlich der Mann hereinkam, der zuvor Tabea angeschnauzt hatte. Die Schutzbrille saß jetzt auf seiner Stirn. Sein Gesicht war verschwitzt und dreckig, er schien offenbar genauso gut gelaunt wie der Tuareg im Kamelstall. Der kurze arabische Satz, den er in Etiennes Richtung schleuderte, klang sehr unfreundlich. Etienne zahlte mit gleicher Münze heim, und für einen Moment sah es so aus, als würde es gleich richtig krachen, aber dann machte der Mechaniker nur eine wegwerfende Handbewegung und verließ den Raum.
»Schwachkopf!«, schimpfte Etienne, sodass es der andere vielleicht noch hören konnte. »Was hat er gesagt?«
Etienne blinzelte. Tabea fragte sich, wie alt er wohl sein mochte.
»Es war wegen dir. Maud meint, ich soll nicht so viel mit Weibern reden, sondern lieber arbeiten. Dabei weiß er ganz genau, dass wir heute sowieso nichts zu tun haben. Maud ist ein Muslim von der strengeren Sorte.« Er nahm einen Schluck Tee. »Ich komm aus Frankreich«, fuhr er fort, »meine Eltern sind Parsen.«
»Parsen?«
Etienne winkte ab. »Zu kompliziert. Auf jeden Fall bin ich kein Muslim.«
»Du bist kein Muslim?«
Etienne seufzte. »Genauso wenig wie ein Sikh ein Muslim ist, ein Djaina oder ein beschissener Baha’i.«
Tabea war verwirrt. »Und wieso Frankreich?«
»Na, weil meine Eltern während des letzten iranischen Bürgerkriegs nach Frankreich geflohen sind, darum. Und weil mir Europa nicht gefallen hat und die Schule auch nicht und weil mich meine Religion mal kann, bin ich ausgerissen. Vor vier Jahren. Und jetzt bin ich hier. Ich werde von allen Etienne genannt, was ich okay finde. So einfach ist das.« Tabea dachte an ihre eigene Flucht und war sich sicher, dass Etiennes Weg von Frankreich hierher alles andere als einfach gewesen war. Ihr fielen zum Beispiel die kleinen wulstigen Narben auf, die seinen ganzen linken Unterarm überzogen. Als er Tabeas Blick bemerkte, bedeckte er das Narbenmuster mit seiner rechten Hand.
»Sag mal«, begann Tabea zögerlich, »wenn man dich so hört, könnte man auf die Idee kommen, dass du auch nicht so furchtbar gern hier bist.«
Etiennes Augen blitzten, er richtete seinen Oberkörper auf, als sei er empört, als wolle er sich verteidigen. Aber er wurde nicht laut, sondern sank wieder in sich zusammen. »Ich mach mir nur Sorgen«, erwiderte er. »Wir können hier jederzeit von der EF aufgestöbert und vernichtet werden. Jederzeit. Das nagt an dir, das macht dich fertig, kannst du mir glauben. Aber Nasrid und Hassan…«, er sah ihr direkt in die Augen, sein Blick bekam etwas Stechendes. »Ich schneid dir den Kopf ab, wenn du verrätst, dass ich mit dir darüber gesprochen habe.« Er senkte den Blick und begann, seine leere Teeschale auf dem Tisch herumzudrehen. Dabei entstand ein schabendes Geräusch, das Tabea auf die Nerven ging. »Viele der Männer glauben, dass Nasrid und Hassan zu ehrgeizig sind. Jeden Tag gibt es irgendwelche Aktionen, als wollten sie die EF provozieren. Du hast die Gefangenen ja gesehen. So was gibt es hier jetzt ständig. Sie reden auch ab und zu davon, dass man zur nächsten Stufe übergehen müsse. Manche hier unten nennen das Größenwahn.« Tabea schwieg.
Etienne stand abrupt auf, verstaute Thermoskanne und Schale wieder in seinem Spind und sagte: »So. Jetzt geh ich mal wieder arbeiten.«
Tabea sagte: »Okay!« Als er den Spind geschlossen hatte, drehte er sich um. Sie sah seine dunklen Augen, das schmale Gesicht, die Bartstoppeln. Und da war es auch wieder, dieses freche Grinsen, das Tabea zuerst aufgefallen war, als Etienne seinen Kopf durch die geöffnete Luke des Wüstenbuggys gesteckt hatte.
Björn richtete sich auf. Ihm war noch flau von dem Betäubungsmittel, das Abdul ihm gespritzt hatte, sein Herz stolperte, für ein paar Sekunden sah er doppelt. »Es ist ein Wunder«, meinte Seif und zeigte auf die dreidimensionale Abbildung über dem Projektor. Neben ihm stand Abdul, und, wie Björn erschreckt bemerkte, auch Nasrid, der hereingekommen sein musste, während er bewusstlos gewesen war. »Ah, Björn«, erklärte Seif, als er bemerkte, dass der Patient zuhörte. »Wir besprechen gerade mit dem Madugu, was wir herausgefunden haben. Bleib ruhig noch ein wenig sitzen, das ist besser für deinen Kreislauf.« Er zeigte wieder auf die geisterhafte Struktur, die sich langsam über der Projektorplatte drehte. Das Hologramm war vielleicht einen halben Meter hoch und stellte die anatomischen Details eines menschlichen Körpers dar: blaue Knochen, gelbes Nervensystem, am Rückgrat sah man ein halbes Dutzend Punkte rot pulsieren. »Hier seht ihr Björns Neuroports«, sagte Seif zu Nasrid und Abdul, wobei er auf die roten Punkte zeigte. »Aber hier wird es richtig interessant.« Seif markierte einen dunkelroten Fleck, den Björn auf den ersten Blick übersehen hatte. Automatisch wurde der Ausschnitt vergrößert. »Das ist ein kaputter Neuroport. Man kann ihn nicht mehr gut auslesen, aber was er hergibt, bestätigt, dass Björn die Wahrheit sagt. Der Elektroschock, den die Freeriders ihm verpasst haben, hat genau den Teil seiner Ausrüstung beschädigt, der für den Kontakt zum Heiligen Netz, zum Grünen Buch und für seine Kontrolle als Zombie verantwortlich war. Ich hätte nicht geglaubt, dass so was möglich ist, aber allem Anschein nach hatte Björn großes Glück. Andere wären gestorben oder einfach nur beschädigt geworden, ihn haben die 50.000 Volt befreit. Erstaunlich, erstaunlich.«
»Und seine Schnittstelle? Was ist mit seiner Käferschnittstelle?«, fragte Nasrid.
Seif vergrößerte einen anderen Bereich an der Schädelbasis der Projektion. »Seine Käferschnittstelle ist intakt, aber von außen nicht mehr zugänglich. Das hat wahrscheinlich mit dem Wiedererweckungsprozess zu tun.« Die drei wechselten Blicke. »Es gab Gerüchte«, meldete sich Björn zu Wort. »In der Kirche. Es gibt Kriminelle in der Eurozone, die illegale Elektroschocktherapien anbieten und Fluchthilfe. Sie haben sogar Tabea ein Intro geschickt, damit sie mich von ihren Methoden überzeugt. Aber zum Schluss haben wir uns dann allein auf den Weg gemacht.«
»So«, sagte Nasrid gut gelaunt und wedelte mit einem Finger in der Projektion herum, als wolle er sie kitzeln. Dann drehte er sich zu Björn um und verschränkte seine Arme vor der Brust. Björn bemerkte die Pistolentasche an seinem Gürtel. »Da bist du jetzt also frei. Kein Kontakt mehr zu deiner Religion, keine Kontrolle mehr durch die EF. Was willst du jetzt tun? Was fängst du mit deiner Freiheit an?«
»Ich will mich euch anschließen«, sagte Björn. »Ich will mich an der EF rächen. Dafür, dass sie mich zum Zombie gemacht haben.«
Seine eigenen Worte überraschten ihn, aber sobald er sie einmal ausgesprochen hatte, fühlten sie sich richtig gut an. »Interessant.« Nasrid schien amüsiert zu sein. »Von uns aus stellt sich die Sache so dar: Wir brauchen keine Verräter, keine Abenteurer, keine Revolverhelden. Wir brauchen Revolutionäre, die bereit sind, sich für die Freiheit einzusetzen. Die für die Vertreibung der EF sterben, wenn es nötig ist.« Björn dachte nach. »Ich weiß nichts von eurer Revolution und ehrlich gesagt ist sie mir auch egal. Ich will mich an den Leuten rächen, die mir das angetan haben.« Er winkte in Richtung des Projektors. »Die mich zum Zombie gemacht haben und denen ich nur entkommen bin, weil Tabea mich nicht aufgeben wollte und weil ich so ungeheures Glück mit diesem Elektroschock hatte. Das ist alles.«
Nasrid lächelte. »Deine Ehrlichkeit beeindruckt mich. Rache ist kein schlechtes Motiv, es bringt große Taten hervor. Wir haben höhere Ziele, aber wir rächen uns trotzdem, so gut wir können. Dafür, dass die verfluchten Europäer die Wüste in ein Weizenfeld verwandelt haben und uns Nordafrikaner wie Dreck behandeln. Vielleicht wirst du schneller Gelegenheit zur Vergeltung bekommen, als du glaubst, Björn. Meinetwegen kannst du dir deine Waffe und eure restliche Ausrüstung beim Zeugmeister abholen. Was meint ihr?«, fragte er Abdul und Seif. Die zuckten beide nur mit den Schultern. »Was fragst du uns?«, sagte Abdul. »Du bist der Madugu.« Nasrid ging nicht darauf ein. »Björn heißt Bär, nicht wahr? Das arabische Wort für Bär ist Dubb. Wie würde es dir ab jetzt gefallen, Dubb zu heißen?«
»In Ordnung.«
Draußen kam es zu einem lauten Wortwechsel, dann sprang die Tür auf, und ein Mann in Tuaregtracht kam herein. Der blaue Tagelmust hing locker herab, sodass man sein Gesicht erkennen konnte. Er feuerte noch ein, zwei bösartige Sätze auf Arabisch nach draußen ab, von denen Björn nur die wüsten Flüche verstand.
»Dieser Schwachkopf«, sagte der Tuareg wütend zu Nasrid. »Meint, er kann mich aufhalten.« Dann entdeckte er Björn. Er machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Was gibt’s, Aslal?«, fragte Nasrid ruhig. »Was es gibt, Madugu? Wir haben die EF-Hunde verfolgt, und als die Gelegenheit günstig war, haben wir sie angegriffen. Drei sind verreckt, drei haben wir gefangen genommen. Sollen wir sie gleich aufschlitzen? Du weißt, ich mag keine EFler in meiner Nähe. Jedenfalls keine lebenden«, sagte er mit einem drohenden Seitenblick zu Björn hin.
»Sei doch kein Idiot«, entgegnete Nasrid. »Zuerst einmal müssen uns diese Gefangenen ein bisschen was erzählen. Dann kannst du sie vielleicht aufschlitzen. Aber erst dann.«
»Wie du meinst, Madugu«, sagte Aslal und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Trotz seiner finsteren Sprüche konnte Björn nicht anders, als ihn zu bewundern. Als er bei der EF gewesen war, hatte er rebellische Tuaregs gefürchtet wie nichts sonst. Sie kannten sich besser in der Wüste aus als alle anderen und ihr Widerstand gegen die EF war ebenso verständlich wie radikal: In einem Getreidefeld, das von Mauretanien bis nach Ägypten reichte, war kein Platz für Tuareg. Schon war ihr einst geschlossenes Siedlungsgebiet im Niger, in Algerien, Libyen und dem Tschad nur noch ein Flickenteppich, und die militantesten Nomaden hatten sich in die verbliebenen Wüstengebiete Tunesiens zurückgezogen, wo sie Fremde waren, und machten dort gemeinsame Sache mit dem antieuropäischen Widerstand. Man sagte ihnen auch einen Hang zur Grausamkeit nach. Die EuroForce jedenfalls hatte die Tuareg schon immer ernst genommen. Und Aslal schien ein Musterexemplar seines Volkes zu sein. »Na, was ist?«, sagte Nasrid zu Björn. Abdul und Seif räumten schon ihre Geräte weg, sie hatten hier ihre Arbeit getan. »Geh zum Zeugmeister und hol deinen Kram ab.«
»Jawohl, Madugu.« Nasrid lachte.
Der Guerillastützpunkt hatte seine Zeugmeisterei in der 3. Etage. Hier mischten sich die Gerüche von Gewürzen, Waffenöl und Plastik, bei den ersten Atemzügen verspürte Björn einen Niesreiz. Zwei gelangweilte Männer mit weißen Kappen saßen an einem Tresen und spielten Mancala. Sie blickten nicht einmal von dem Holzbrett auf, als er direkt neben ihnen stand. »Und?«, sagte einer von ihnen. »Was willst du?«
»Unsere Sachen«, antwortete Björn.
Einer der Spieler stand langsam auf und fischte aus dem Regal an der Wand Björns und Tabeas Kram heraus: ihre Rucksäcke und die zusammengeklappten Rollerbikes. Er drückte Björn alles in die Hand, dann ging er in ein Hinterzimmer und kam mit der Mitrailleuse zurück, die Björn von dem EF-Offizier in der Karawanserei erbeutet hatte. Dann setzte er sich wieder hin. Björn hängte sich die Waffe um und klemmte sich den anderen Kram unter den Arm, aber er ging nicht. »Noch was?«, fragte der lässige Zeugmeister. »Ich brauche noch eine Uniform.«
»Geht nicht. Da muss erst einer von uns sterben, der deine Größe hat.«
Die beiden lachten dröhnend.
»Salaam«, sagte Björn und wandte sich zum Gehen. Der Zeugmeister und sein Freund antworteten nicht.
Er herrschte fast vollkommene Dunkelheit. Nasrid und Hassan hatten Tabea und Björn eine gemeinsame Kammer zugewiesen, was ein Privileg war, denn alle anderen schliefen zu fünft oder zu zehnt in Gemeinschaftsunterkünften. Tabea schaukelte sacht in ihrer Hängematte hin und her. Ihr war elend zumute. Als Björn mit einem glücklichen Gesichtsausdruck zurückgekommen war, all ihre Sachen unterm Arm, hatte sie sofort begriffen, dass er jetzt zu den Fenneks gehörte. Insgeheim hatte sie gehofft, man würde Björn und sie rausschmeißen. Das wäre ihr lieber gewesen, redete sie sich ein, als hier im Dunkeln in einer muffigen Hängematte zu schaukeln und vor Kummer nicht einschlafen zu können. Sie wusste genau, dass auch Björn nicht schlief, allerdings aus anderen Gründen. »Das ist doch alles völlig sinnlos!«, platzte sie heraus. »Früher hast du für die EF gekämpft, jetzt bist du im Widerstand. Du bist schon einmal getötet worden. Was war daran so toll? Es ist total gefährlich hier. Die EF kann uns jederzeit entdecken. Völliger Wahnsinn, das alles.«
Erst dachte sie, dass er sie nicht gehört hatte, dann antwortete er doch. »Davon verstehst du nichts, Tabea. Du wolltest fliehen…«
»Ja und?«
»… nicht ich. Aber jetzt, wo wir es geschafft haben und ich so viel Glück hatte, will ich etwas daraus machen. Was habe ich von einer Freiheit, mit der ich nicht machen kann, was ich will?«
Tabea war sprachlos. So hatte sie das noch überhaupt nicht gesehen. Das klang ja beinahe, als fühle sich Björn von ihr bevormundet!
»Ich bin…«, stotterte sie, »ich bin mit dir abgehauen, weil sie dich umbringen wollten. Weil ich das nicht wollte. Aber hier gehen wir drauf. Was ist eigentlich mit meiner Freiheit? Du bist frei und gehst zum Widerstand, und ich latsche hinterher, wie’s dir passt?«
»Ja, richtig, die wollten mich umbringen. Und vorher haben sie mich zu einem Zombie gemacht. Und noch früher habe ich für sie in Nordafrika gekämpft und Leute umgebracht, die mir nichts getan hatten. Aber ich sag dir eins, dafür bezahlen sie noch.« Seine Stimme klang jetzt zornig. »Björn, das ist doch totaler…« Irrsinn, wollte sie sagen, aber er fiel ihr ins Wort.
»Ich will nicht mehr darüber reden. Du verstehst davon nichts, dafür bist du zu jung. Und mein Kampfname ist seit heute Dubb.«
Tabea lachte nicht, sie war zu eingeschüchtert von seinem Zorn. Sie schwieg. Aber diesen Wahnwitz würde sie nicht einfach über sich ergehen lassen. Sie beschloss zu fliehen.
Gleich am nächsten Tag machte sie sich an Abdellatif, den Marokkaner heran. Abdellatif bewachte den Kamelstall, er war schweigsam, hager und ziemlich alt. Er nickte nur, als Tabea sagte, sie wolle ihm bei den Kamelen helfen. Zuerst einmal durfte sie Kameldung entsorgen. Leider trug man hier den Mist nicht einfach vor die Tür. Ein spezialisierter Müllbuggy nahm alles nach draußen mit und verteilte es so unauffällig wie möglich in der Wüste. Dazu gehörten auch tierische und menschliche Fäkalien – beziehungsweise die letzten Reste tierischer und menschlicher Fäkalien, denn die wurden vorher in einem aufwendigen Verfahren so lange entwässert, bis man den letzten Tropfen daraus zurückgewonnen hatte. Tabea erfuhr bei der Dungschlepperei und der Arbeit an den »Konvertern«, dass die Wasser- und Energieversorgung ansonsten mit Brennstoffzellen realisiert wurde, deren Wirkungsgrad von Hassan »auf 50 %« verbessert worden war. Das sagte Tabea zwar nichts – sie war in Chemie und Physik nie besonders gut gewesen –, aber es klang trotzdem beeindruckend. Als sie das dritte Mal an diesem Tag mit leeren Eimern von den Konvertern zurückkam, überraschte sie Abdellatif dabei, wie er in gebückter Haltung vor der Außentür stand, die sich gerade schloss. Er richtete sich auf, das ging nicht so schnell, weil er dabei Schmerzen zu haben schien. Er bemerkte sie nicht. Sie zog sich hastig zurück und kam dann mit laut scheppernden Eimern noch mal um die Ecke. Jetzt tat Abdellatif so, als sei er die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, Aoud, dem weißen Leitbullen der Herde, das Fell zu kämmen. Sie stellte die Eimer ab. Abdellatif zeigte ihr, wie man die Tiere striegelte. Sie roch Tabak an ihm. Ihr Herz klopfte. Abdellatif war draußen gewesen, um zu rauchen. Tabea wusste jetzt also ungefähr, wo sich der Öffnungsmechanismus für die Tür befand.
Genauso schnell wie draußen brach die Nacht herein, es wurde kalt, und an die Decke des Stalls wurde ein künstlicher Sternenhimmel projiziert, wie Tabea ihn noch nie gesehen hatte. Wäre da nicht der Ausgang zur Werkstatt gewesen, hätte sie geglaubt, in der nächtlichen Wüste unter freiem Himmel zu stehen, umgeben von träge wiederkäuenden Kamelen. Die Tiere schienen sich langsam an sie zu gewöhnen. Sie wollte Aoud tätscheln, wie Abdellatif das auch immer machte, aber als sie sich ihm näherte, schnappte er nach ihr und bekam sie am Arm zu fassen. Sie schrie und taumelte weg, Aoud begann zornig zu blöken. Die anderen Kamele, die eigentlich schon weggedämmert waren, wurden ebenfalls unruhig, Chaos brach los. Abdellatif kam angelaufen und zog Tabea hinter sich her, zu dem Sitzplatz der Kamelwärter, wo es einen Verbandskasten gab. Durch einen Tränenschleier sah sie, wie Abdellatif ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel herausnahm. Als er die Wunde damit betupfte, zuckte Tabea zusammen. Noch während sie verarztet wurde, tauchte plötzlich Aslal auf, erfasste mit einem Blick die Situation und begann, Abdellatif auf Euro auszuschimpfen. Was Tabea überhaupt hier zu suchen habe? Ob er jetzt zu dumm oder zu alt sei, seine Arbeit allein zu tun? Was das überhaupt solle, so viel Verbandsmaterial für das Mädchen zu verschwenden? Abdellatif schwieg nur. Tabea schlich sich einfach davon, sie schniefte und heulte immer noch, als sie in ihre Schlafhöhle zurückkam. Björn lag in seiner Hängematte und las. Sie erzählte ihm, was passiert war.
»Ich freue mich, dass du dich hier nützlich machst«, meinte er. »Aber du musst auch aufpassen.«
»Natürlich, Dubb.« So deprimiert hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Sie konnte sich nicht einmal mehr bücken, um ihre Schuhe aufzuschnüren, ohne dass ihr verletzter Arm schmerzte.
»Du kannst mich weiterhin Björn nennen, du gehörst ja nicht zur kämpfenden Truppe. Außerdem kennen wir uns ja von früher.«
»Natürlich, Björn.« Tabea rollte sich in ihrer Hängematte zusammen. Dabei dachte sie: »Am Arsch kannst du mich lecken.«
Abdellatif schickte sie zu den Ärzten in den dritten Stock, weil sie gesagt hatte, dass ihr Arm immer noch sehr wehtat. Ein Assistent mit Namen Madjid sah sich die Verletzung an, sagte: »Kamelbiss« und wiegte seinen Kopf hin und her. »Ist wie bei Hunden«, erklärte er. »Kann ein wenig dauern mit der Heilung.« Er reinigte die Wunde noch einmal, was höllisch brannte und ihr den Schweiß auf die Stirn trieb, aber sie biss die Zähne zusammen und gab keinen Laut von sich. Madjid klebte ein orangefarbenes Pflaster auf ihren Arm, das seltsam süßlich roch. Er klickte eine rosa Ampulle in einen Injektor und schoss ihr die Ladung durch den Stoff ihres T-Shirts in den Oberarm. Sie hatte nicht einmal Zeit zu protestieren. Als sie verwirrt ihr T-Shirt und ihren Oberarm untersuchte, lachte Madjid: »Kombinationsimpfung. Gegen alles, was man hier so kriegen kann, von Kamelen, Mücken, Schlangen und anderem Viehzeug. Gleich bildet sich ein roter Punkt auf deiner Haut, wo das Serum eingedrungen ist, das ist alles. Ah, da ist er ja schon, schau!«
Und tatsächlich bildete sich eine kleine Pustel, wo Madjid den Injektor aufgesetzt hatte.
»Wenn du Fieber oder Kopfschmerzen bekommst oder dir sonst übel wird, kommst du wieder zu mir. Sollte aber alles glatt gehen.«
Er lächelte und sah mit seinen grauen, ein wenig verstrubbelten Haaren und der Nickelbrille eigentlich recht freundlich aus. Wenn du wüsstest, wie dreckig es mir jetzt schon geht, dachte Tabea grimmig. Laut fragte sie: »Woher kommst du?«
»Aus dem Iran.«
»Bist du auch… Parse?«, fragte sie.
Er lachte wieder. »Wie Etienne? Nein, bei mir ist es noch viel schlimmer. Ich habe überhaupt keine Religion. Ich bin Anarchist.«
»Aha«, sagte sie.
»Jetzt weißt du natürlich nicht, was das ist.«
»Nein«, gab sie zur Antwort, »und ich will es eigentlich auch gar nicht wissen.«
Zögernd stimmte sie in sein Lachen ein, ließ ihn aber bald allein. Nachdem sie sich bei Abdellatif abgemeldet hatte, legte sie sich in ihre Hängematte und brütete vor sich hin. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihre bevorstehende Flucht. Verdammt noch mal!, dachte sie, wie behandeln die mich hier eigentlich alle! Ich hau ab und flüchte zur EuroForce! Dann geh ich nach Deutschland zurück und der ganze Scheiß hier kann mich mal! Aber ihre Angst war ungeheuer groß, ihr Magen fühlte sich beim bloßen Gedanken an die Wüste völlig verknotet an. Wo war die EuroForce überhaupt? In welche Richtung sollte sie aufbrechen? Woher wollte sie überhaupt wissen, wo Norden, Süden, Osten und Westen war? Die Muslime verbeugten sich beim Beten immer nach Osten, sollte sie Abdellatif vielleicht auch noch beim Beten beobachten und sich die Richtung gut einprägen? Aber wenn sie einmal aus der Basis heraus war, würde ihr das nichts nützen.
Das Rollerbike, das wusste sie, hatte Satellitennavigation, konnte sich sogar automatisch an einem einprogrammierten Kurs orientieren, aber sie hatte sich nie für diese Funktion interessiert und daher keine Ahnung, wie man sie bediente. Irgendjemand hier danach zu fragen war sicher keine gute Idee, das würde nur Aufmerksamkeit erregen. Aber hierbleiben konnte sie nicht, das fühlte sie in jeder Faser ihres Körpers. Nasrid und Hassan gingen ihr auf die Nerven, Björn machte sie wahnsinnig, vor Aslal und seinen Tuareg-Kumpanen fürchtete sie sich, der ganze Laden hing ihr schon nach wenigen Tagen zum Hals heraus, Etienne und Abdellatif ausgenommen. Und vielleicht Madjid.
Jederzeit konnte die EF vorbeikommen und sie alle in Asche verwandeln. Wofür? Für die Freiheit der Sahara? Das war alles so öde und sinnlos. Eigentlich gab es für sie gar keine andere Lösung, als zur EF zu laufen und um Gnade zu bitten. Allerdings war das auch brandgefährlich. Der Sandsturm war ihr noch zu gut in Erinnerung, Björns ehemalige Kollegen konnten sie einfach aus der Luft abknallen, und gab es in der Wüste nicht auch Schlangen und Skorpione? Sie musste sich um Wasser kümmern. Wasser war im Rebellenlager rationiert. Wenn sie wirklich noch in dieser Nacht fliehen wollte, dann hatte sie jetzt ein paar dringende Probleme zu lösen. Sie schaukelte in ihrer Hängematte hin und her und kaute beim Nachdenken auf einer Haarsträhne herum.
Was den Proviant betraf, half ihr der Zufall. Nina, die einzige andere Frau, die Tabea bisher in der Basis gesehen hatte, kam kurz nach drei in Tabeas und Björns Wohnhöhle. Sie war das klassische Mädchen für alles, machte sich überall nützlich, beim Kochen, beim Waffenreinigen, an den Computern der Basis, manchmal betätigte sie sich auch als Briefträgerin, wenn Nas-rid sogar in der Basis Funkstille halten wollte. An diesem Tag hatte sie wieder eine andere Aufgabe übernommen: Sie verteilte Extrarationen, um die Moral der Truppe ein wenig zu heben. Die Extrarationen bestanden aus Nährstoffriegeln der EF. Das Zeug schmeckte gar nicht mal so übel, wie Tabea bereits wusste, es war Aslal und seinen Leuten in rauen Mengen bei der Aktion in die Hände gefallen, bei der sie auch die drei Gefangenen gemacht hatten. Nina, im grünen Kampfanzug, wie immer mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht, kramte in ihrem großen Rucksack, den sie von Wohnhöhle zu Wohnhöhle, von Quartier zu Quartier trug, und händigte Tabea vier Nährstoffriegel aus. Tabea sah ihre Chance. Sie beschwerte sich darüber, wie sie hier immer Hunger hatte, und dass diese vier Riegel ja wohl auch nichts daran ändern würden, ihr Magen knurre die ganze Zeit, ob man sie etwa verhungern lassen wolle? Nasrid habe da oben ja sogar Kirschen und für die kämpfende Truppe gebe es immer nur vergammeltes Couscous!
Nina sah sie erschrocken an und sagte: »Was redest du da? Hör auf damit! Hier hast du noch ein paar Extrariegel, aber sag’s nicht weiter, und hör bloß auf mit dem Gerede von Nasrid und seinen Kirschen.« Sie schulterte ihren Rucksack und wollte schon verschwinden, da schoss Tabea eine Frage durch den Kopf, die sie schon länger hatte stellen wollen: »Warum nennt man Nasrid eigentlich den Fürst der Skorpione7.« Nina drehte sich ruckartig um und sagte leise: »Wo immer du das herhast – vergiss es am besten gleich wieder.« Dann ging sie. Tabea zuckte mit den Achseln. Dass sie hier nicht mal nach der Bedeutung einer Redewendung fragen durfte, die sie von zwei Fenneks im Vorübergehen aufgeschnappt hatte, bestärkte sie nur in ihren Fluchtplänen. Jetzt hatte sie immerhin insgesamt elf Nährstoffriegel. Zwei davon musste sie Björn abtreten, drei reichten für einen Tag, also verfügte sie über Proviant für drei Tage.
Um an Wasser zu kommen, musste sie sich etwas anderes einfallen lassen. Sie entschied sich für die direkte Methode. Wenn die Kamele nach mehreren anstrengenden Wüstenmärschen richtig Durst hatten, wurden sie an Blechwannen getränkt, die über den Stall verteilt waren. Aber für kleine Schlucke zwischendurch ließ man diese Wannen nicht voll laufen, sondern schüttete nur ein paar Liter des kostbaren Recyclingwassers hinein. Das Wasser lief dann nicht durch das eigens installierte Röhrensystem zur Befüllung der Tränken, sondern wurde mit Lederschläuchen von den Konvertern geholt. Tabea stahl zwei dieser Schläuche aus dem Kamelstall und ging mit ihnen in die Konverterhöhle. Dort begann sie, Wasser abzufüllen. Obwohl die Konverter sauber konstruiert und abgedichtet waren, roch es in dem Raum wie in einer Latrine. Der Gestank von Kot, Gülle und Urin ließ sich einfach nicht völlig wegfiltern. Das Wasser, das aus den Hähnen am Ende der Konverter kam, war jedoch kristallklar. Als sie beim zweiten Schlauch war – sie stand mit dem Rücken zum Eingang der Konverterhöhle –, kam jemand herein. Ihr Herz klopfte. Dass sie beim Abfüllen des Wassers beobachtet wurde, konnte ihren Fluchtplan durchkreuzen. Sie verfluchte sich innerlich dafür, dass sie nicht vorsichtiger gewesen war. Um keinen Preis würde sie sich umdrehen, das hätte ihre Aufregung verraten. Aber als der andere an den Wasserhahn unmittelbar links von ihr trat, musste sie aufblicken – jetzt nicht zu grüßen hätte sie sofort verdächtig gemacht. Mit Schrecken erkannte sie Usern, einen von Aslals Tuaregfreunden. »Salaam«, sagte sie unsicher.
»Verwöhnt mir bloß die Kamele nicht«, knurrte Usern zurück. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Safed glaubte, dass sie das Wasser für Abdellatif zapfte, weil er natürlich die Schläuche aus dem Stall erkannt hatte. Jetzt musste er nur noch gegenüber Aslal und Abdellatif schweigen. Dann konnte ihre Flucht immer noch gelingen.
Als sie in ihre Wohnhöhle zurückkam, war Björn immer noch nicht da. Der hatte wohl anderes zu tun. Umso besser. Sie versteckte ihren Proviant unter einem Haufen von Kleidern und wartete auf die Nacht.
»Nimm«, sagte Nasrid und hielt Björn den silbernen Teller hin. Da er ihn nicht ganz gerade hielt, fielen mehrere Kirschen zu Boden. Björn, der auf einem der großen Kissen saß, beugte sich nach vorn, um die Kirschen aufzulesen. Als er sie auf den Teller zurücklegen wollte, war der schon zu den anderen weitergewandert. Er begann die Kirschen zu essen, die er eben aufgeklaubt hatte, die Kerne spuckte er in einen eigens dafür bestimmten Krug an seinem Sitzplatz. Die anderen Männer bedienten sich, aßen, spuckten.
»Ich frage mich, Dubb«, sagte Nasrid, »wie loyal du bist.« Er leckte sich die Finger, an denen etwas Kirschsaft klebte. »Wie meinst du das, Madugu?«, fragte Björn. »Ganz einfach«, sagte Nasrid. »Das Problem mit Verrätern ist, dass man ihnen nicht trauen kann. Sie waren bereits einmal untreu. Das könnte sich wiederholen.«
»Ich bin kein Verräter«, sagte Björn. »Für die EF schon«, entgegnete Nasrid.
»Was die EF sagt, ist mir egal. Ich war ihr gegenüber loyal bis zum Äußersten, aber sie hat mich in einen Zustand versetzt, der schlimmer war als der Tod. Ich habe meinen Dienstauftrag erfüllt. Nicht ich habe die EF verraten, sondern sie mich.« Nasrid genoss das Gespräch anscheinend, denn er lächelte amüsiert.
»Das hast du schön gesagt. Und wenn wir dir etwas antun, was du als Unrecht ansiehst, meinst du dann auch, dass wir dich verraten haben?«
Björn schwieg. Er musste nachdenken und seinen Zorn im Zaum halten.
»Wir brauchen eine Loyalität von dir, die auch dann anhält, wenn wir dir Schmerzen zufügen. Ob mit oder ohne Absicht.«
»Die habt ihr.«
»Ach? Dafür brauche ich einen Beweis. Nicht wahr, Hassan?«
»Absolut«, sagte die Stimme hinter dem Vorhang.
Nasrid klatschte einmal in die Hand und hinter seinem Sitz kam etwas hervorgekrochen. Das Ding war vielleicht zwanzig Zentimeter hoch und einen halben Meter lang. Es bewegte sich auf sechs Beinen und blinkte metallisch im trüben Licht der Öllampen. Kleine Servomotoren summten, und die Beinchen klickten leise, wenn sie ihre insektenflinken Schritte machten. Björn erschrak zu Tode, wollte aufspringen, wegrennen, aber er beherrschte sich. Ein Skorpion. Die tödlichste Waffe der Rebellen. »Du kennst unsere Skorpione, Dubb?«
Der Automat kam langsam, vorsichtig auf Björn zu. Er schien unwiderstehlich von Björn angezogen zu werden, wie ein Aasfresser, der Witterung aufgenommen hat. Zwei Fühler am Zentralkörper zuckten hektisch hin und her. »Sicher«, sage Björn. »Einer von ihnen hat mich getötet.«
»Aber nicht so einer wie die hier«, sagte Nasrid. »Hassan hat sich Mühe gegeben. Dieser Skorpion ist viel intelligenter und viel tödlicher als die alten Modelle. Ein einziger von ihnen reicht für die größten Nashornkäfer der EF. Er kann nicht nur explodieren, sondern auch stechen. Hassan nennt die Enzyme in seiner Giftdrüse Nanosmarts. Sie ziehen die Bausteine und die Energie zu ihrer Vervielfältigung aus dem Angriffsobjekt selbst. Man könnte auch sagen, die Skorpione infizieren es und vernichten es dann von innen. Wir nehmen an, dass sie einen Käfer in einer Stunde in seine Bestandteile auflösen können, die Besatzung inbegriffen. Das geht aber nicht nur mit Käfern, sondern mit allem, was lebt.«
Der Skorpion war jetzt ganz nah an Björn dran. Zwei seiner Beine standen auf Björns rechtem Schuh. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Aber er beherrschte sich. Das ist ein Test, dachte er, und ich werde ihn bestehen. Endlich klatschte Nasrid noch einmal in die Hände. Der Skorpion verharrte für eine Sekunde regungslos, dann machte er kehrt und rannte mit einer Geschwindigkeit, die seine metallischen Beinchen nur so flirren ließ, zu Nasrid zurück. Dort setzte er sich, klappte die Beine ein, faltete sie eng zusammen und verwandelte sich so in eine scheinbar massive Metallscheibe. Man hätte sie für ein Werkstück halten können, das bei der Stahlbearbeitung übrig geblieben war. Nasrid hob die Scheibe auf, drehte und wendete sie in seiner Hand, sodass sich das Licht der Öllampen in ihr spiegelte, und warf sie dann Björn zu, der sie ohne Zögern auffing.
»Die Käfertechnologie ist am Ende«, sagte er. »Den Skorpionen gehört die Zukunft. Wie gefällt dir das, Kanonier? Und es kommt noch besser. Die Dinger können jetzt miteinander kommunizieren. Nicht über Funk oder mit Licht oder anderen Sachen – da würde sie die EF sofort orten –, sondern über chemische Botenstoffe, die sie aus kleinen Drüsen ausscheiden, sogenannte Pheromone. Stoffe, von denen die Käfer einfach nichts wissen. Und obwohl sie so aussehen, sind die Skorpione nicht aus Metall, sondern aus einer Art Keramik. Sie strahlen kaum Wärme ab. Sie sind unsichtbar und beweglich, jagen in Gruppen und die Gruppe wird umso intelligenter, je größer sie ist. Wie gefällt dir das?«
»Wofür benutzen wir sie?«, fragte Björn, während er die verblüffend leichte Scheibe in seiner Hand wog. »Wir erteilen der EF eine Lehre«, erwiderte Nasrid. Seine Augen funkelten.