FLUCHT UND KAMPF
Sie war nicht ganz bei sich vor Angst. Zum Glück hatte sich wenigstens Björn den ganzen Abend nicht blicken lassen, sodass sie bei ihren Vorbereitungen ungestört geblieben war. Wie sollte sie die Vorräte am besten verteilen? Wie viel davon konnte noch in ihren Rucksack, wenn das zusammengefaltete Rollerbike darin steckte? Wie hängte sie sich am besten die Wasserschläuche um den Hals? Die waren doch wohl hoffentlich dicht? Es musste alles leise vor sich gehen, die Wände der Höhle kamen ihr plötzlich unwahrscheinlich dünn vor, und es dauerte ewig, den Kram einigermaßen zu sortieren und zu verstauen. Als sie fertig gepackt hatte, kamen ihr solche Zweifel, dass sie sich nur noch auf ihr Feldbett setzen und die Augen schließen konnte.
Ich werde sterben, sagte sie sich. Was ist das überhaupt für ein bescheuerter Plan? Aber hier bleiben ging nicht. Björn war mit Haut und Haar Guerillero geworden, wahrscheinlich saß er in diesem Moment mit seinen neuen Freunden zusammen und schmiedete Pläne. Früher oder später würde die Basis von der EF überrollt werden, bis dahin konnte sie dem vertrottelten Abdellatif noch bei den Kamelen helfen, während der Rest der Rebellen sie übersah oder wie Abfall behandelte, weil sie kein Mann war. Sie hatte gar keine andere Wahl. Irgendwie musste sie nach Europa zurück. Das Aufstehen war mühsam, mit all dem Gepäck kam sie sich unförmig und schwer vor. Als sie den hängenden Teppich zurückschlug, ging kein Alarm los. Nur aus der Nachbarhöhle hörte sie Geschnarche. Der Gang vor ihr war leer und unbewacht. Hier herrschte dasselbe grünliche Licht wie tagsüber. Sie setzte sich in Bewegung, unter ihren Sohlen knirschte der Sand auf dem Steinboden. Bisher war ihr noch nie aufgefallen, dass da überhaupt Sand lag, jetzt schien jedes Sandkorn so groß wie ein Kieselstein zu sein, das Geknirsche konnte sicher Tote aufwecken.
Ich schaff das nicht, ich schaff das nicht, ich schaff das nicht, dachte sie, während sie einen Fuß vor den anderen setzte. Sie lugte um die Ecke zum nächsten Quergang: Nichts. Sie schlich an drei, vier Schlafhöhlen vorbei, immer die Angst im Nacken, einer der Kämpfer könnte aufwachen und sie erwischen. Bis zum Treppenabsatz stand Tabea Todesängste aus. Eine Etage, zwei Etagen. Dann, sie war schon im Erdgeschoss, hörte sie es: ein regelmäßiges Pochen und Klopfen, wie von Hammerschlägen. In der Werkstatt wurde gearbeitet! Sie lugte zur Tür hinein, und sah, dass eine Werkbank besetzt war: Maud bearbeitete ein Blech mit dem Ballhammer. Tabea war verzweifelt. Wie kam dieser Idiot nur darauf, ausgerechnet heute eine Nachtschicht einzulegen!
Der einzige Weg zum Kamelstall führte durch die Werkstatt. Ein Rückzug war genauso gefährlich wie der Weg nach vorn. Wenn man sie in diesem Aufzug außerhalb ihrer Schlafhöhle erwischte, würde sie sich nicht herausreden können. Und selbst wenn sie bei ihrem Rückzug unbeobachtet blieb, hatte sie damit nichts gewonnen als eine Verlängerung ihres Aufenthalts bei den Fenneks. Es gab kein Zurück, sie musste irgendwie an dem Nachtarbeiter vorbeikommen. Jetzt nahm er wieder seinen Laser zur Hand. Er stand gebückt über dem Tisch, mit höchster Konzentration schnitt er schmale Blechstücke ab, die mit feinem Klirren zu Boden fielen. Tabea erkannte ihre Chance. Wenn der Kerl so vertieft in seine Arbeit war, konnte sie sich vielleicht an ihm vorbeischleichen. Sie schlüpfte in die Werkstatt und kroch an der Wand entlang, hinter den Wüstenbuggys durch. Dabei versuchte sie, im Schatten zu bleiben. Als sie genau im Rücken des Mechanikers stand und glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, hielt der Mann inne, legte seinen Laser weg und machte eine Pause. Er stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab und senkte seinen Kopf. Sie konnte ihn pusten hören: Offenbar musste sein Werkstück abkühlen, bevor die Arbeit weitergehen konnte. Er untersuchte es im Licht seiner Arbeitslampe. Dann griff er wieder nach seinem Hammer. Tabea war vielleicht sieben oder acht Meter von ihm entfernt. Schweiß rann ihr den Rücken herunter. Schon wollte sie weiterschleichen, da tauchte zu ihrem Entsetzen auch noch Abdellatif auf, heftig herumfuchtelnd.
Sofort zog sie sich in den Schatten eines Wüstenbuggys zurück und beobachtete, wie die beiden Männer miteinander stritten. Sie sprachen zwar arabisch, aber es war nicht schwer zu erraten, worum es ging: Abdellatif wollte schlafen und der Laserspezialist wollte arbeiten. Der Streit wurde heftig, die beiden beschimpften sich. Tabea schob sich Schritt für Schritt auf den Kamelstall zu. Glücklicherweise waren die Streithähne abgelenkt. Im Stall war es viel kälter als in der Werkstatt. Tabea war froh, dass die Kamele sich an ihren Geruch bereits gewöhnt hatten, so gab es nur hier und da ein Schnauben, als sie an ihnen vorbeiging. Tastend suchte sie nach dem Öffnungsmechanismus der Tür. Er musste doch da unten irgendwo sein, verflixt! Oder hatte sie sich geirrt? Schließlich hatte sie nie gesehen, wie Abdellatif die Tür geöffnet und wieder geschlossen hatte, sie hatte aus seinem Verhalten und dem Tabakgeruch nur ihre Schlussfolgerungen gezogen. Die Stimmen in der Werkstatt wurden leiser. Hektisch tastete Tabea die Wand ab, mit einem Auge bereits nach einem Versteck Ausschau haltend, für den Fall, dass Abdellatif kam, bevor sie die Tür geöffnet hatte. Als sie durch Zufall den Schalter berührte, fiel sie fast durch den Spalt, der sich unvermittelt in der Wand vor ihr auftat, nach draußen. Nach einer Schrecksekunde rappelte sie sich hoch und rannte los, während sich hinter ihr die Öffnung im Fels wieder schloss.
Er ging den Plan noch einmal durch. Sie waren mit zwei Wüstenbuggys unterwegs, mehrere Hundert Skorpione im Gepäck. Ihre Aufgabe war, einen Teilabschnitt der Getreideplantage zu verminen, als Pioniere sollten sie den Kristallisationskern eines Minenfeldes anlegen, das später von automatischen Transporten vervollständigt werden würde. Sie waren die Testpiloten für den neuen Minentyp; wenn ihr Einsatz reibungslos verlief, konnten robotische Wüstenbuggys zusammen mit den intelligenten Minen dafür sorgen, dass über Dutzende von Kilometern eine unsichtbare, lernfähige Grenze zwischen dem Getreidefeld und der Wüste gezogen wurde, die für EuroForce-Käfer unüberwindlich war. Und die Käfer, das wusste niemand besser als Björn, waren das Rückgrat der EF zur Kontrolle der Wüste. Mit den Coptern und den kampfstarken, aber sehr teuren Kugelblitzen allein war keine lückenlose Überwachung möglich. Die Wüstenbuggys fuhren unter dem Sand dahin. Nasrid hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass diese Operation von größter Wichtigkeit war. Und zur Überraschung seiner Leute hatte er Björn das Kommando übertragen. Björn war fest entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen.
Ihre Zähne klapperten vor Kälte. Sie hatte nicht bedacht, wie kalt es nachts in der Wüste war, und schimpfte sich jetzt alle zwei Minuten eine Vollidiotin, die noch nicht einmal die notwendigsten Vorbereitungen treffen konnte, wenn sie ausbüchste. Wie ein Kind!, dachte sie, wie ein dummes Kind! Die Wasserschläuche baumelten ihr um den Leib. Einer davon war leck. Ihre Hose wurde durchnässt, das machte die Kälte noch unangenehmer. Der überladene Rucksack begann schon, ihren Rücken und ihre Schultern aufzuscheuern, denn das Rollerbike gab ihm einen ungünstigen Schwerpunkt, sodass er nicht ruhig an ihrem Körper anlag, sondern mit jedem Schritt hin- und herschwang. Ihre Schuhe waren schon voller Sand. Die Kälte hielt sie nicht davon ab, über all die anderen Gefahren nachzudenken, die hier in der Wüstennacht auf sie lauern mochten. Schlangen, dachte sie, was ist eigentlich mit Schlangen? Es dauerte eine Zeit, bis sie sich daran erinnerte, dass Schlangen wechselwarme Tiere waren und von der Kälte gelähmt wurden. Aber konnte man sich darauf wirklich verlassen? Dunkel war es wenigstens nicht, im Gegenteil, der Mond war fast voll und übergoss die Landschaft mit einem silbernen Geisterlicht, das ihr fast in den Augen wehtat. Treibsand. Man konnte in Treibsand auf Nimmerwiedersehen verschwinden, bevor man auch nur begriff, was vor sich ging. Und es gab doch sicher Nachtpatrouillen der EF, die erst schossen und dann nachfragten? Ich muss verrückt geworden sein, dachte sie mehr als einmal. Aber sie lief weiter, ihrer Ansicht nach in Richtung Süden. Als ihre Füße zu schmerzen begannen, fragte sie sich, ob sie das Rollerbike aus dem Rucksack holen sollte. Vielleicht wurde es ja auch mit einer sandigen Umgebung fertig. Sie hatte zwar nie davon gehört, dass jemand versucht hätte, Rollerbikes als Geländefahrzeuge zu benutzen, aber sie konnte es ja mal probieren. Wegen des diffusen Lichts entschied sie sich zunächst dagegen. Kleinere Steine und Felsbrocken warfen verwirrende Schatten, manchmal schien das ganze Vexierbild der vor ihr ausgebreiteten Mondlandschaft umzukippen. Dann musste sie mit geschlossenen Augen innehalten. Bei der dritten Pause fiel ihr plötzlich ein, das heute der 8. Juli war. Sie beglückwünschte sich laut selbst zu ihrem fünfzehnten Geburtstag und lachte. Im Osten sah sie einen Lichtstreif am Horizont und schöpfte neue Hoffnung.
Als die Sonne aufgegangen war, währte ihre Freude nicht lange. Bald war die Luft so heiß und trocken, dass sie über ihren Schweiß und bei jedem Atemzug lebenswichtige Feuchtigkeit verlor. Eine Stunde später brannte die Sonne auf sie herab. Der Durst wurde übermächtig, und da ein Schlauch ohnehin leck war, was sollte sie da noch Wasser aufsparen? Sie setzte den Schlauch an den Mund und erschrak über ihre eigene Gier – für die sie sofort bestraft wurde: Während der nächsten zehn Minuten lief der Schweiß in Bächen an ihr herunter und sie hatte bald genauso großen Durst wie vorher. Sie erinnerte sich daran, dass sie die arabischen Klamotten, die von den Bodyguards des Weißen in El Dschaem stammten, in ihren Rucksack gestopft hatte. Sie kramte sie heraus und tauschte sie gegen ihre europäischen Kleider. Trotzdem war ihr klar, dass sie bei dieser Hitze kaum eine Überlebenschance hatte. Schatten war alles, was sie jetzt wollte, und Wasser. Sie entschloss sich, das Rollerbike doch auszuprobieren. Lange laufen konnte sie ohnehin nicht mehr. Sie hatte so ihre Zweifel, als sie das gebrechlich wirkende Gefährt mit seinen kleinen Rädern auf den Boden stellte, aber sie hoffte auch auf den Fahrtwind. Als sie den Startknopf drückte, geschah gar nichts. Sie prüfte die Energieanzeige am Lenker: »No battery.«
Nasrid, dachte sie, du Schwein! So leicht konnte man also an Dummheit sterben, sich in einen Haufen weißer Knochen verwandeln, vom Sand begraben werden. Sie ließ das Rollerbike zu Boden fallen wie zuvor die überflüssigen Kleider und lief weiter. Täuschte sie sich oder änderte sich die Farbe des Sandes? Er schien auf einmal gelber, so wie sie es von Dünenfotografien kannte. Doch nun kam sie schlechter voran. Gegen Mittag machte sie am Horizont braune Flecken aus. Träge tanzten sie in der flimmernden Luft vor ihren Augen. Das könnte eine Fata Morgana sein, dachte sie. Aber ich gehe trotzdem mal drauf zu. Diese Richtung war schließlich so gut wie jede andere.
Die Pflanzen erinnerten nur noch entfernt an Weizen. Sie waren gut zweieinhalb Meter hoch, die Halme waren fast so dick wie ein kleiner Finger, die Ähren hingen schwer wie Maiskolben von den Fruchtständen ab, und auch die Größe der Körner ließ an Mais denken. Björn kannte den enormen gentechnischen Aufwand, mit dem diese Sorte an die Lebensbedingungen in der Wüste angepasst worden war. Sie kam mit viel weniger Wasser aus als Pflanzen vergleichbarer Größe, ertrug enorme Temperaturschwankungen, war resistent gegen so gut wie alle Fruchtschädlinge, die normalem Weizen den Garaus machten, und konnte im Nu gegen neue Erreger resistent gemacht werden; wenn die Ähren reif waren, fielen sie von selbst in die Sammelbehälter der Erntemaschinen, und die Körner ließen sich so leicht ausdreschen, weil sie daraufhin optimiert worden waren. Der Nährwert des Mehls, das aus den Körnern gewonnen wurde, war sehr hoch. Dieser Weizen war Kraftnahrung für Menschen. In Europa wurde die Ernte mehrfach mit minderwertigem Material gestreckt und taugte dann immer noch für die Supermarktregale. Das waren einmal die Samen von Wildgräsern gewesen, Nahrung für Jäger und Sammler. Jetzt konnte man sie ernten, wo früher nur Wüste gewesen war. Natürlich wurden die Felder gesichert. Fast alle Hindernisse hatten Björn und seine Truppe schon überwunden: den elektrischen Zaun, die Sandbarrieren und die hauchfeinen Netze, die den stärksten Sandstürmen trotzen konnten. Jetzt ging es darum, die Erschütterungssensoren, die überall im Boden verteilt waren, nicht zu einem Alarm zu provozieren. Diese Dinger taugten nicht viel, ihre Meldungen waren unzuverlässig, zu oft gaben sie Fehlalarm, hielten Tiere oder sogar die Schwingungen der Bewässerungspumpen für böswillige Eindringlinge, deswegen ignorierte die EF das Sensornetz bis zu einem gewissen Grad, aber Björn wollte keinem Streber unter seinen ehemaligen Kollegen die Möglichkeit geben, sich ein wenig zu profilieren. Vorsichtig bewegte er sich mit seiner Kampfgruppe zwischen den Halmen hindurch. Das Getreide raschelte in einem leichten Wind, aber es war sehr heiß, nur der Schatten, den die Pflanzen spendeten, bewahrte den Boden vor sofortiger Austrocknung. Weil unten von dem ausgeklügelten Bewässerungssystem immer Wasser nachgeliefert wurde, erinnerte das Klima zwischen den Halmen fast an einen Urwald. Björn dachte an Übungsträume der Armee aus vergangenen Buschkriegen, vor allem die Vietnamdokumentationen waren in der EF immer sehr beliebt gewesen. Die Männer hielten absolute Funkstille. Die Minen wurden in einem grob wabenförmigen Muster verteilt, Björn legte die Dinger auf dem Boden ab und sah zu, wie sie sich mit rotierenden Bewegungen selbst eingruben und mit Erde bedeckten. Er hatte keine Angst mehr vor ihnen, ganz im Gegenteil, er war stolz auf sie. Sie würden eine Menge Käfer und Erntemaschinen vernichten. Sie würden der Albtraum der EF werden.
Der Hauptteil der Gruppe zog sich schon zurück, nur die letzten beiden Kämpfer waren mit der Verteilung ihrer Minen noch nicht fertig geworden. Der sabotierte Elektrozaun war keine zehn Meter entfernt und die Fahrer der Wüstenbuggys hielten sich sicher schon für den Abmarsch bereit. Da spürte Björn plötzlich ein Beben. Die anderen hatten es wohl gar nicht mitbekommen, aber ihm sträubten sich die Nackenhaare, und seine alte Schnittstelle begann zu schmerzen. Über seinem Kopf schwankten die Ähren im heißen Blau des Himmels. Er schloss die Augen. Da war es wieder, jetzt schon ein bisschen stärker. Ja, der Boden bebte jetzt in regelmäßigen Abständen und die Stärke der Erschütterung nahm immer weiter zu. Es konnte keinen Zweifel geben: Käfer der EF kamen auf sie zu.
Tapfer kämpfte sie gegen den Durst an. Sie hatte vielleicht noch drei Liter Wasser. Das war alles, was sie vom sicheren Tod trennte. Die Gebilde, die sie vorher am Horizont gesehen hatte, erwiesen sich als Felsen. Ihre Umrisse wurden klarer, das Flimmern der Luft hörte auf, als Tabea sich ihnen weiter näherte. Dunkelbraun hoben sie sich vom gleißenden Himmelsblau und dem dunklen Gelb des Sandes ab. Es waren Felsen wie jener, in dessen Innerem sich die Fennekbasis befand. Kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, nahm Tabea noch einen Schluck aus ihrem Wasserschlauch. Ihre Lippen waren bereits jetzt, nach wenigen Stunden in der Wüste, aufgesprungen und rissig wie trocknender Lehm. Sie stolperte in den Schatten des größten Felsen und spürte eine Erleichterung wie noch nie in ihrem Leben.
Endlich Schatten, endlich Schutz! Sie musste sich erst eine Weile ausruhen, bevor sie die Umgebung der Felsen erkunden konnte, und erlebte dann prompt eine Überraschung. Dort, wo die Schatten am längsten waren, standen ein paar verstaubte, armselig wirkende Palmen rund um ein Wasserloch. Eigentlich war es eher eine Pfütze, aber Tabea stürzte sich sofort darauf und begann mit bloßen Händen im feuchten Sand zu graben, um das Loch zu vergrößern. Gierig schöpfte sie die schmutzige Brühe aus der Vertiefung, nie hatte ihr Wasser besser geschmeckt. Ihre nächste Entdeckung war eine Höhle in dem großen Felsen, vielleicht nur einen Meter fünfzig hoch, dafür aber mindestens zehn Meter breit und ebenso tief. Sie leuchtete die Höhle mit ihrer Taschenlampe aus, der Boden war sandbedeckt, nichts deutete darauf hin, dass je ein Tier oder ein Mensch vor ihr hier gewesen war. Geduckt lief sie in die Höhle hinein. Es war hier merklich kühler, die Angst verließ sie allmählich. An eine Wand gelehnt, atmete sie den Geruch des Steins ein. Dann aß sie einen der EF-Nährstoffriegel aus ihrem Vorrat. Wie es wohl Björn inzwischen ergangen war? Nachdem sie gegessen hatte, sank sie müde zur Seite und schlief ein.
»Nein!«, befahl Björn, als Khadar auf den Knopf drücken wollte. Ein Sprühstoß aus dem Aerosol-Verteiler, und die Minen, die die Kampfgruppe gerade gelegt hatte, würden scharf gemacht. Ihre chemischen Sensoren, so empfindlich wie die Antennen von Nachtfaltern, würden sofort auf den Impuls reagieren. »Aber wir müssen uns wehren!«, beharrte Khadar, er konnte ein Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Die machen uns platt!«
Jetzt spürten alle das Getrampel der anrückenden Käfer. Wo zum Teufel steckten Mohammed und Claude? »Wenn wir die Minen jetzt scharf machen«, sagte Björn, »gefährden wir die ganze Mission. Die EF wüsste, was wir hier gemacht…«
Mohammed und Claude brachen durch die Weizenhalme, Panik in den Gesichtern. »Die Käfer kommen!«, riefen sie.
»Wissen wir!«, entgegnete Björn. »Los, los, los, Rückzug!« Das Sandnetz hatte bereits begonnen, sich selbst zu heilen; das Loch, durch das die Rebellen hindurchgeschlüpft waren, hatte sich schon so verkleinert, dass ein erwachsener Mann nicht mehr hindurchpasste. Mohammed erkannte die Situation sofort und benutzte sein Lasermesser, um den Weg wieder freizumachen, aber sie verloren wertvolle Zeit. Björn trieb seine Männer durch den sandigen Graben, der die Weizenplantage von der Wüste trennte, scheuchte sie durch das Loch im äußeren Elektrozaun, der glücklicherweise nicht selbstreparierend war. Anouar und Khalil sahen sie kommen, sie öffneten die Luken der Buggys, dann waren sie drin, Björn schrie nur noch: »Runter!«, und sie sanken unter die Oberfläche. Keine Sekunde zu früh. Kaum waren die Buggys drei Meter unter der Oberfläche zum Stillstand gekommen, spürten die Rebellen massive Erschütterungen. Offenbar ließen die Käferkommandanten den Zaun niederwalzen, in der Hoffnung, die Eindringlinge außerhalb der Plantage doch noch einzufangen. Alle schauten abwechselnd zu Björn und zur Decke des Wüstenbuggys hinauf, Björn hielt sich den Zeigefinger vor den Mund. Er selbst versuchte, so ruhig und so leise zu atmen wie möglich. Der Boden bebte. Die Schritte der Käfer waren bis in die Tiefe zu spüren. Sterben fand Björn nicht schlimm, aber er wollte auf keinen Fall der Erste sein, der einen Wüstenbuggy an den Feind verlor. Der Schweiß lief ihm in den Kragen seines Drillichhemds. Alle hielten die Luft an. Als sie aufwachte, schwebte ein Geist in der Höhle. »Hallo, Tabea«, sagte er, als sie sich erschrocken aufrichtete.
»Nein«, keuchte sie und versuchte wegzukriechen. Er folgte ihr nicht. Die Umrisse seiner Gestalt waren verschwommen, manchmal flackerte das Bild, wie wenn man sich beim Halluzinieren nicht richtig konzentrierte. »Hab keine Angst, du hast nichts zu befürchten.« Tabea konnte nicht antworten, nicht fliehen, nicht einmal richtig denken, in ihrem Kopf drehte sich immer nur die Frage, was ihr Berater hier machte, wie er sie hier gefunden hatte, was das alles bedeutete.
»Dass du es tatsächlich bis nach Nordafrika geschafft hast«, sagte ihr Berater, »finde ich stark. Eine reife Leistung. Wir haben uns die ganze Zeit gefragt: Wo ist Tabea? Und dann ist sie doch tatsächlich mit einer Karawane nach Tunesien ausgebüxt. Unglaublich. War das Björns Idee? Wo ist er eigentlich?« Der Berater lächelte. Der Effekt wurde ein wenig durch das Geflacker der Projektion beschädigt, auch wirkte seine europäische Alltagskleidung hier in dieser Höhle lächerlich. »Wo ist Björn, Tabea? Was macht ihr da in Tunesien?« Die Gestalt schwebte langsam auf sie zu und trieb sie in eine Ecke der Höhle.
Wie dumm sie gewesen war zu glauben, dass die EF diese winzige Oase nie entdeckt hatte! Aber wie hätte sie ahnen sollen, dass sich genau hier in der Höhle ein Netzknoten des EuroNets versteckte, mit dem ihre Neuroports Kontakt aufnehmen konnten! Jeder Europäer über sieben wäre hier in dieser gottverlassenen Höhle auf seinen persönlichen Berater getroffen, weil sie mit dem EuroNet verdrahtet war. Eigentlich hätte Tabea ja froh sein können. Sie wollte doch zur EF überlaufen und ihr altes Leben wieder aufnehmen. Aber der Berater da vor ihr erinnerte sie schlagartig an Seiten ihres alten Lebens, die sie in ihrem Hass auf die Fenneks komplett verdrängt hatte: nämlich die Leute, die sie zu Hause in Europa herumgeschubst hatten. Genau die Art Leute, die in der Vorstadt Gefangene von Lastwagen herunterwarfen.
»Bleib, wo du bist!«, befahl ihr Berater. »Ein Hubschrauber ist schon unterwegs, du kannst morgen zu Hause sein.« Tabea sah keinen anderen Weg. Sie stieß sich von der Wand ab und sprang mitten durch die Projektion hindurch, dann griff sie nach ihrem Rucksack und rannte geduckt aus der Höhle. »Nein!«, rief ihr der Berater hinterher. »Bleib, wo du bist!« Die Projektion folgte ihr nach draußen, wo sie noch bleicher schien als zuvor. Während sie das Wasserloch vertiefte, redete der Berater immer weiter mit seiner monotonen Stimme auf sie ein. Aber sie lauschte nur, ob sich bereits der Hubschrauber näherte, von dem er gesprochen hatte.
»Mach schon, mach schon«, fluchte sie, weil das Wasser viel zu langsam in die Grube sickerte, deren Ränder bereits einzufallen drohten. Schließlich schaffte sie es, den ersten Schlauch zu füllen, aber als sie gerade den zweiten öffnete, wurde sie grob von hinten gepackt und hochgerissen. Zwei Angreifer. Einer hielt sie von hinten fest. Ein zweiter stand vor ihr, mit einer Pistole in der Hand.
»Ein Wort«, sagte er, »und ich bring dich um.« Die Sonne stand in seinem Rücken, sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber die Stimme erkannte sie. Sie gehörte Aslal.
Einer war direkt über ihnen, er konnte es genau spüren. Mit jedem Bein, das der Käfer hob und wieder senkte, durchlief ein Zittern den Buggy. Er hoffte so sehr, dass der Käfer keine elektromagnetischen Impulse aus dem Inneren des Buggys empfing. Hätten sie doch sofort alles abgeschaltet, als sie unter die Oberfläche getaucht waren! Aber dafür war es jetzt zu spät.
Plötzlich gab es mehrere kleine Erschütterungen, dann herrschte Stille. Hatte sich der Kommandant mit der naheliegendsten Erklärung zufrieden gegeben und angenommen, die Fenneks seien auf dem Luftweg entkommen? Er verständigte sich per Zeichensprache mit den anderen: Noch so lange unten bleiben wie möglich, leise sein, warten. Nach etwa zwei Stunden, das Schweigen war mittlerweile unerträglich geworden, machte Khalil Björn auf eine rote Anzeige im Cockpit aufmerksam: Die Atemluft im Buggy ging zur Neige. Björn dachte kurz nach. Sie konnten es sich nicht leisten, ganz aufzutauchen, das war zu gefährlich. Aber sie konnten kurz unter die Oberfläche gehen, den Schnorchel ausfahren und sich in sehr langsamer Fahrt von der Weizenplantage entfernen. Über ein kodiertes Funksignal, das gerade noch die Entfernung zwischen den beiden Buggys überbrücken konnte, verständigte Björn die anderen von seiner Absicht. Die Minikamera am Schnorchel zeigte, dass sie Glück hatten: Oben zog gerade ein Sandsturm auf. Auf der Rückfahrt wurde nicht viel gesprochen. Nur Claude sagte einmal unvermittelt zu Björn: »Harter Brocken.« Björn nahm es als Kompliment.